Kasparov Beitrag zur Irak-Frage
Während auf diplomatischer Ebene noch um
eine UNO-Resolution zum Irak verhandelt wird, läuft militärisch bereits der
Countdown.
Ein Sprecher der irakischen
Opposition in London behauptete im Oktober, das Pentagon
wolle 5.000 oppositionelle Irakis für einen Schlag zur Entmachtung des
irakischen Regimes ausbilden. Dies wurde von der Washington Post am 25.
Oktober bestätigt (Jim
Hoagland, A Matter of Weeks). Das Training irakischer
Oppositioneller sei eine so lange wie möglich hinausgezögerte Aktion und eine
der letzten vorbereitenden Maßnahmen vor einem Feldzug. Die Ausbildung werde in
sechs bis acht Wochen abgeschlossen sein.
Die klimatischen Verhältnisse für einen Krieg im Irak sind nach Angaben von
Militärfachleuten Anfang nächsten Jahres optimal. Die Vorbereitungen müssten bis
November abgeschlossen sein. "Und danach sieht es jetzt aus", bilanzierte das
Handelsblatt (05.11.2002, S. 8)
den Stand der Dinge.
Als am 17. Oktober ein Sprecher der Oppositionsgruppe "Irakischer
National-Kongress" in London der Nachrichtenagentur Reuters sagte, man werde die
bestehenden Verträge mit französischen und russischen
Ölgesellschaften überprüfen und eventuell US-Firmen
vorziehen, läuteten in Moskau die Alarmglocken. Der russische Ölkonzern LUKoil
hatte 1997 einen über 25 Jahre laufenden
Explorationsvertrag mit dem Irak unterzeichnet. Auf dem Spiel
stehen ausserdem um die zehn Milliarden Dollar, die der Irak Russland noch aus
sowjetischen Darlehen schuldet sowie etliche Milliarden Dollar für den Transport
irakischen Öls.
In den Parlamentsberatungen über den russischen Staatshaushalt 2003 machte
Finanzminister Alexei Kudrin auf einen möglichen Ölschock aufmerksam. Was
passiert, wenn nach einem amerikanischen Sieg im Irak im Frühjahr 2003 en masse
irakisches Öl auf den Markt kommt und dann der Ölpreis dramatisch fällt, fragte
Kudrin (Stanislav Menshikov, Suddenly a Shaky Feeling in the Economy,
Moscow Tribune, 18. Oktober). Der noch zu über 40 Prozent auf Öl- und Gasexporte
sich stützende russische Staatshaushalt könnte sich dann - wie 1998 - einer
kritischen Situation nähern und die 2003 fällige Rückzahlung der
Auslandsschulden (17 Milliarden Dollar) erschweren.
Am 22. Oktober wurde aus Moskau angedeutet, kein Russe werde das Regime von
Saddam Hussein verteidigen, er gehöre nicht zu den "good guys", doch die
ungenügende Berücksichtigung russischer Interessen könnte zu der Idee führen,
noch vor dem amerikanischen Einmarsch einen pro-russischen Staatsstreich in
Bagdad zu inszenieren, um auf diese Weise eine völlig neue Variante der
"New World Order" zu installieren.
Am 5. November berichtete das Wall Street Journal aus Moskau (Jeanne
Whalen/Guy Chazan, Russian Minister Says Economy Won't Stumble Amid Iraq War),
nach Konsultationen mit westlichen Regierungen habe der russische Finanzminister
Alexei Kudrin gesagt, es gebe zwar keine förmliche Vereinbarung, doch Russland
und die USA hätten eine übereinstimmende Vorstellung vom Ölpreis. Er sagte
voraus, dass russisches Öl aus dem Ural nach einem Regimewechsel im Irak die
Marke von 21,50 Dollar nicht unterschreiten werde.
Es scheint also schon alles für die Zeit nach dem Sturz von Saddam Hussein
geregelt zu sein. Ob dann die Ära des "ewigen Friedens" anbrechen wird?
Keineswegs. Garri Kasparow wusste in seinem
Artikel vom 5. August 2002 schon, wie es weitergehen wird und
wie es seiner Ansicht nach weitergehen muss.
Die europäischen Länder werden laut Kasparow die USA bei dem Feldzug gegen
Saddam Hussein gewähren lassen, dann aber darauf drängen, den Krieg für gewonnen
und das offensive Stadium für abgeschlossen zu erklären:
"That would be disastrous. (...) There
will be no peace in Gaza, no freedom from fear in Jerusalem, until we have
prosecuted the war on terror in Baghdad, Tehran, Damascus and elsewhere."
Zugunsten des Friedens in Israel fordert Kasparow, dass "wir"
(wer ist "wir"? - GSch) den Krieg fortsetzen in Teheran, Damaskus und
"andernorts". Das "elsewhere" ist der kritische Punkt dieses Artikels. An einer
anderen Stelle seines Beitrages schreibt Kasparow:
"Baghdad remains the next stop but not
the last. We must also have plans for Tehran and Damascus, not to mention
Riyadh."
"Wir" (wieder dieses unklare "wir" - GSch) "müssen auch Pläne
haben für Teheran und Damaskus, von Riad zu schweigen." Die - möglicherweise
nicht von Kasparow selbst, sondern von der Redaktion stammende - Überschrift zu
seinem Artikel besagt dagegen klar und deutlich
THE NEXT BATTLE The War Is Not Yet Won Take the offensive against
Baghdad--and Damascus, Tehran and Riyadh.
Lev Khariton ist einer der wenigen Schachpublizisten, die sich
mit Kasparows Artikel beschäftigt haben. Er wirft Kasparow vor, die Regeln des
altehrwürdigen Schachspiels auf das politische Feld übertragen zu wollen, und
hält Kasparow bezüglich der Realitäten im Mittleren Osten, der Natur des
Terrorismus und der arabischen Mentalität für
"absolut inkompetent".
Die Kritik Lev Kharitons ist gewiss in bester Absicht erfolgt, doch sein
vermeintlich vernichtendes Kompetenz-Argument geht ziemlich ins Leere, wenn sich
aufzeigen lässt, dass Leute, die für absolut kompetent gehalten werden (können),
dieselbe Meinung wie Garri Kasparow vertreten (haben). Dies ist der Fall.
Was zunächst die Einstellung Kasparows gegenüber dem Irak sowie Iran und Syrien
betrifft, so ist festzustellen, dass die Ansichten Kasparows seit über zehn
Jahren recht "stabil" geblieben sind. In einem Beitrag für das
Wall Street Journal vom 27. August 1992 hielt Kasparow
dem damaligen US-Präsidenten George Bush senior "altmodische Praktiken" vor,
weil dieser nach seinem erfolgreichen Irak-Krieg angesichts des Einflusses des
Iran die Machtbalance in der Region aufrechterhalten wollte. Ferner kritisierte
er eine angebliche amerikanische "Appeasement"-Politik gegenüber Syrien.
Ein sehr wichtiger Punkt ist Lev Khariton bei seiner Kritik an Garri Kasparow
entgangen: Riad, die Hauptstadt Saudi Arabiens, wurde von dem Schach- und
Politikstrategen vorsichtig ins Visier genommen.
In einem für den Krieg gegen Terrorismus Unterstützung bekundenden
Brief an US-Präsident Bush junior vom 20. September 2001
(also 9 Tage nach dem Angriff auf New York und Pentagon) wird die Entmachtung
Saddam Husseins im Irak gefordert, "even if evidence does not link Iraq
directly to the attack". Ferner wird in dem Brief empfohlen, Iran und Syrien
unter Druck zu setzen ("the administration should consider appropriate
measures of retaliation"). Saudi Arabien wird in dem Text nicht erwähnt.
Unterschrieben wurde dieser Brief u.a. von mehreren Personen, die zum Umfeld
Kasparows zählen: William Bennett (früherer US-Erziehungsminister), Midge Decter
(früherer Geschäftsführer des "Komitees für die Freie Welt"), Frank Gaffney
(früher als Staatssekretär im Verteidigungsministerium für internationale
Sicherheitspolitik zuständig), Bruce Jackson (früher im Büro des
Verteidigungsministeriums), Jeane Kirkpatrick (ehemalige US-Botschafterin bei
den Vereinten Nationen), John Lehman (früherer Marineminister), Richard Perle
(früherer Staatssekretär im Verteidigungsministerium für internationale
Sicherheitspolitik) und William Schneider (früherer Unterstaatssekretär für
Sicherheit, Wissenschaft und Technologie). Alle diese Personen gehörten - wie
auch Garri Kasparow - zu einem
"National Security Advisory Council" (NSAC) unter dem Vorsitz
von Senator John Kyl und dem ehemaligen Direktor James Woolsey (CIA). All diesen
Menschen würde Lev Khariton eine Eigenschaft vermutlich nicht bestreiten wollen:
Kompetenz.
Es ist bemerkenswert, dass
an dem gleichen Tag, an dem Kasparows Beitrag für das Wall
Street Journal (05.08.2002)
erschien, sich herumgesprochen hat, dass ein Thomas Ricks am darauf folgenden
Tag einen Artikel in der Washington Post veröffentlichen werde, in dem
ein Briefing des "Defense Policy Boards" (ein NSAC-Nachfolge-Gremium) im
Pentagon dargestellt sei, in dem am 10. Juli Saudi Arabien als Feind ausgemacht
wurde.
Dieser Artikel erschien tatsächlich am Dienstag, den 6. August 2002: Thomas E.
Ricks, Washington Post Staff Writer,
Briefing Depicted Saudis as Enemies - Ultimatum Urged To Pentagon Board.
Ein Experte des Think Tanks Rand Corp. hielt fest: "Saudi Arabien
unterstützt unsere Feinde und greift unsere Verbündeten an." Vorsitzender des
Defense Policy Boards ist der oben schon erwähnte Richard Perle.
Noch am gleichen Tag distanzierte sich die Bush-Administration von dem
Pentagon-Briefing des Defense Policy Boards. Verteidigungsminister Rumsfeld
bezeichnete die Publikation in der Washington Post als "unglücklich" und
griff die unbekannte Quelle dieser Indiskretion an: "Ich glaube einfach, dass
das eine schrecklich unprofessionelle und offensichtlich schädliche Sache ist."
Das Briefing repräsentiere nicht die vorherrschende Meinung innerhalb der
US-Regierung (Thomas E. Ricks,
Views Aired In Briefing On Saudis Disavowed (07.08.2002).
Reaktionen der Wall Street Journal-Leser auf den Artikel Garri Kasparows
in diesem Blatt sind einer Internet-Seite mit
Leser-Antworten zu entnehmen. Herausgegriffen seien die
beiden Zuschriften von Gregory Kaidanov und J. Benjamin, die vermutlich von den
gleichnamigen US-Schach-Grossmeistern stammen.
Gregory Kaidanov lobte (oder kritisierte ironisch?): "Dies ist eine der besten
und kürzesten Betrachtungen zum Konflikt im mittleren Osten, zum Krieg gegen
Terror und zur Rolle der EU in der Vergangenheit und Gegenwart. Schwarz und
weiss, klar und präzise wie eine perfekt analysierte Schachpartie. Danke."
Bezüglich der Schwarz-Weiss-Malerei und zu "der in Amerika verbreiteten Neigung,
Probleme und sogar Nationen zu dämonisieren" verwies der ehemalige
Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski, in seinem Buch
The Grand Chessboard (1997) auf den "klugen Rat" seines Kollegen und
ausgewiesenen Mittelost-Experten Anthony H. Cordesman in der Publikation
The American Threat to the United States "Der Iran, der
Irak und Libyen sind Fälle, wo die USA feindliche Regime, die eine wirkliche,
aber begrenzte Drohung darstellen, dämonisiert haben, ohne eine taugliche
mittel- bis langfristige Strategie zu entwickeln. (...) Die USA leben in einer
moralisch grauen Welt und müssen bei dem Versuch scheitern, sie schwarz und
weiss zu machen."
In dem längeren Leserbrief von J. Benjamin bedauert der Verfasser einleitend,
dass das Leben, der Mittlere Osten und Krieg eben keine Schachpartie sind.
Bezüglich der Haltung Amerikas werde sich vermutlich an irgendeinem Punkt
herausstellen, dass die Vereinigten Staaten nicht bereit seien, "bis zum
bitteren Ende" zu kämpfen. Es gebe nur ein Land mit der Erfahrung, dem Wunsch
und dem Grund, einen solchen Krieg durchzuführen: Israel.
Garri Kasparow, der sich im Wall Street Journal so vehement in Wort und
Schrift für die Interessen Israels einsetzt, wird im Dezember dieses Jahres
sicherlich ein gern gesehener Gast in Jerusalem sein, wenn er dort zu einem
Match gegen Deep Junior antritt.
Gerald Schendel / 08.11.2002