Leibniz und das Schachspiel

von Peter Muender
20.04.2017 – Der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) galt schon zu Lebzeiten als Genie, verzettelte sich aber auch manchmal in seinen vielen Projekten. Neben den Wahrscheinlichkeitsgesetzen des Würfelspiels hat Leibniz auch das Schachspiel interessiert. Für ihr neues schachhistorisches Werk hat Elke Rehder Leibniz' Interesse am Schach gründlich erforscht.

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Ist Schach ein "Probierstein des Gehirns"? Ein Spiel für Romantiker? Eine Wissenschaft?

Die Hamburger Künstlerin Elke Rehder hat sich in ihren Drucken und Grafiken intensiv mit Schachmotiven beschäftigt und als Herausgeberin des Bandes "Schach in Zeitungen des 19. Jahrhunderts" als große Kennerin der internationalen Schachgeschichte erwiesen. Jetzt geht sie in ihrer zweibändigen Leibniz-Studie neben der Diskussion über dessen wichtigste Schriften der Frage nach, ob Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) tatsächlich das Schachspiel als wissenschaftliche Disziplin bezeichnete. Oder steckt dahinter vielleicht ein Missverständnis? Hatte der Universalgelehrte überhaupt die Zeit, neben dem Verfassen von Traktaten und Gutachten, der Entwicklung seiner Monaden-Theorie, der Infinitesimalrechnung und der Konstruktion einer Rechenmaschine auch noch Schachpartien zu spielen?

Zu Stefan Zweigs "Schachnovelle" hat Elke Rehder viele Grafiken und Drucke produziert, die in großen Ausstellungen zu sehen waren; zur Geschichte der Schachzeitungen und Magazine hat sie einen ebenso spannenden wie informativen Band herausgegeben, außerdem hat sie Motive zur Hierarchie der Schachfiguren gemalt. Wie kam sie nun auf den legendären Wissenschaftler Leibniz, eine Figur aus dem 17. Jahrhundert? Die Künstlerin verweist in ihrem Vorwort auf drei Leibniz- Zitate, die sich explizit auf das Schachspiel beziehen. Die führten zu ausführlichen Studien und zur intensiven Beschäftigung mit dem extrem vielseitigen, quirligen und damals schon im Umfeld diverser Herrschaftshäuser gut vernetzten Leibniz:

1) "Die erstaunliche Logik und die mathematische Exaktheit stellen das Schachspiel auf eine Stufe mit jeder exakten Wissenschaft, während Schönheit und Bildhaftigkeit seiner Ausdrucksform im Verein mit künstlerischer Phantasie es in eine Reihe mit allen anderen Künsten rücken lässt.
2) Die Menschen haben nie mehr Geist gezeigt, als wenn sie gespielt haben und wegen seines Mangels an Glückreiz steht das Königliche Spiel über allen anderen und stellt es der Wissenschaft nahe.
3) Schach ist eine Übung der Denkfähigkeit und der Erfindungsgabe: Wir müssen nämlich überall dort, wo wir uns der Vernunft bedienen, eine ausgearbeitete Methode zum Erlangen des Ziels haben".

Diese "gut gewählten Worte, die das Herz eines Schachspielers erfreuen können" wollte Elke Rehder im Kontext der Leibniz- Veröffentlichungen näher untersuchen. Da der in Wolfenbüttel als Bibliothekar beschäftigte Philosoph und Tüftler aber überwiegend auf Latein oder Französisch schrieb, wurde das Quellenstudium auch zur anregenden Übersetzungsarbeit. Es gibt zwar keinen Beipackzettel, aber die Warnhinweise der Autorin auf übersteigerte Erwartungen des Lesers sind unübersehbar: Leibniz war nämlich kein passionierter Schachspieler; ihn interessierten im Verlauf seiner Studien zur Wahrscheinlichkeitsrechnung eher Würfel- und Kartenspiele, deren regelmäßig erkennbare Muster er berechnen wollte. Da sich später aber Schach-Koryphäen wie Francois Philidor und der von Goethe geschätzte Autor Wilhelm Heinse auf Leibniz beriefen, geht Elke Rehder erfreulicherweise auch auf diese faszinierenden Figuren ein. Der begeisterte Schachspieler Heinse war während seiner in "Ardinghello" beschriebenen Italien-Reise 1781-82 (und auch im Schachroman "Anastasia und das Schachspiel") noch ein auf stabile Bauern-Manöver fixierter Philidor-Adept, der von italienischen Spielern oft besiegt wurde, weil diese meistens auf die aggressivere, kombinatorische Dynamik des Lolli-Systems setzten.
Doch zunächst sollen einige biographische Eckdaten klären, wer die illustre Ausnahme-Erscheinung Leibniz überhaupt war.

Das Leben als gigantisches Studium Generale

"Er stellte für sich eine ganze Akademie dar", befand Friedrich der Große über Leibniz voller Bewunderung: Der Philosoph, Jurist, Mathematiker, Geologe, Historiker und Physiker Leibniz schien auf alle wichtigen Fragen seiner Zeit spezialisiert zu sein. Als 16jähriger Überflieger studierte er Jura in Leipzig, als 21Jähriger hatte er promoviert und lehnte nach einem exzellent absolvierten Examen das Angebot einer Professur mit der Begründung ab: "Ich habe noch andere Dinge vor".

So entwickelte er später die Idee einer "prästabilisierten Harmonie" für die "Theodizee" (Gottesbeweis), plante die ökumenische Aussöhnung nach den Turbulenzen des 30jährigen Krieges, gab strategisch-militärische Ratschläge für Ludwig XIV, beschäftigte sich mit der Entwicklung einer Rechenmaschine sowie einem "Alphabet menschlicher Gedanken" - eine frühe Form von Algorithmen. Und er fand noch die Zeit für das Verfassen von Traktaten sowie für längere Reisen in diplomatischer Mission. Als Protestant beriet er den katholischen Mainzer Bischof; Königin Sophie Charlotte von Preußen verließ sich, wie auch Prinz Eugen, bei der Entscheidung wichtiger politischer Konflikte hauptsächlich auf Leibniz. Vom russischen Zaren wurde er zum Hofrat ernannt, aber die gigantische Vermessung russischer Erdmagnetfelder konnte Leibniz nicht durchführen; er wollte unbedingt eine Anstellung am Wiener Hof durchsetzen, was aber nicht klappte. Er wollte über ein Dutzend wissenschaftliche Akademien gründen, die mit aberwitzigen Steuermodellen finanziert werden sollten, was auch nicht durchsetzbar war. Die Geschichte der Welfen, die er im Auftrag des Hannoveraner Herzogs Ernst August schreiben sollte, hat Leibniz nie beendet, weil er dafür jahrelang die Erdkruste in mehreren Fürstentümern untersuchen wollte. Viele weitere Großprojekte wollte Leibniz noch verwirklichen- doch der Großmeister des Multi-Tasking verzettelte sich immer wieder in Dutzenden dieser Vorhaben, die zudem noch schwer finanzierbar oder geographisch viel zu weit entfernt voneinander lagen.

Den Entwickler der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der sich neben dem Karten- und Würfelspiel auch beim Brettspiel Solitaire betätigte, interessierte die Berechnung von Spielzügen und die Frage, inwieweit man wissenschaftliche Methoden auf Spiele wie Schach anwenden kann. Vor allem dieser Aspekt, den Leibniz 1710 in einem Aufsatz für die Miscellanea Berolinensia ("Berliner Vermischte Meldungen") erörterte, was später zu Diskussionen und Kontroversen führte, an denen sich viele Jahre später der Schweizer Friedrich Capräz, der Schachfunktionär und Turnierspieler Max Lange u.a. beteiligten, lieferte den Ausgangspunkt für Elke Rehders Leibniz-Studie.

Leibniz beschränkte sich jedoch auf diesen abstrakten Hinweis einer möglichen Anwendung wissenschaftlicher Methoden in Bezug auf das Schachspiel. Von konkreten Spielzügen, Kombinationen, Eröffnungsrepertoires usw. ist keine Rede- der Erfinder der "fensterlosen" Monade, die ohne Kontakt zum weiteren Monaden-Umfeld vor sich hin dämmert, dabei aber als Kraftfeld und Lebens-Substrat einen Mikrokosmos darstellen soll, will mit widersprüchlichen Konzepten idealistische und pseudo-realistische Vorstellungen von Wirklichkeit miteinander zum großen Monaden-Weltgebilde kombinieren- was Hegel schon als "metaphysischen Roman" verhöhnte. Hier wirft Leibniz zum Thema Schach einfach mal ein paar Stichworte in die Diskussion, um zu zeigen, dass er über das königliche Spiel auch etwas beisteuern kann. Die kritische Autorin Elke Rehder geht diesem unverbindlichen Gerede des Universalisten auf den Grund und eruiert dabei, dass der berühmte Gelehrte eigentlich nur die Grundregeln des Schachspiels beherrschte- der Solitaire-Liebhaber wollte wohl vor allem bekunden, dass er den 1616 veröffentlichten rund 500 Seiten starken Band "Das Schach-oder König-Spiel" des Herzogs August dem Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg (1579-1666) gelesen und bewundert hatte. Er war unter dem Pseudonym Gustavus Selenus erschienen, basierte auf den Erkenntnissen von Ruy Lopez und dessen 1561 erschienenen Buch und war vom Herzog mit schachphilosophischen und historischen Erläuterungen erweitert worden. Wie Elke Rehder anmerkt, war auch schon ein Exkurs zur Geschichte des Schachdorfs Ströbeck eingeblendet; außerdem war der Band mit zahlreichen hübschen Kupferstichen illustriert. Diese Studie war der eigentliche Bezugspunkt für Leibniz und seine Bemerkungen zum Schachspiel.

Zum Glück vertieft sich Elke Rehder trotz der ausführlichen biographischen Anmerkungen zu Leibniz und dessen diversen Aktivitäten dann auch auf Betrachtungen zur Theorie von Francois Philidor (1726-1795) und befasst sich mit dem faszinierenden Abenteurer, Ästheten, Hedonisten und Schachliebhaber Wilhelm Heinse (1746-1803) und dessen erstem Schachroman "Anastasia oder das Schachspiel". Der Meister sublimer Erotikszenen entwickelte in diesem Briefroman eine Konstellation, in der die griechische Schachmeisterin Anastasia in Venedig auf einen ambitionierten jungen Offizier trifft, der von ihrer Kunst am Brett fasziniert ist. Heinse geht dabei auf die einzelnen Phasen des Spiels akribisch ein und charakterisiert Philidors These zur Maximierung minimaler Vorteile durch eine günstige Bauernstruktur. Das resultiert schließlich doch in der Einsicht – offenbar ist er aus eigener Erfahrung noch klug geworden- dass die Spieler der Schule von Modena, die im Sine von Lolli für flexible dynamische Kombinationsspiele plädierten, im Recht waren. Der lebenslustige Spieler und Zocker Heinse ist gegenüber dem trockenen Theoretiker Leibniz naturgemäß skeptisch und lässt seinen Romanhelden daher konstatieren: " Ob ich nach Philidor gespielt habe, weiß ich nicht; denn es ist sehr lange, daß ich sein System, wenn er eins hat und wenn es überhaupt eins gibt, durchgegangen bin. Wenn es eins gibt, und wenn es derjenige, mit dem man spielt, es weiß: so ist es wenigstens für diesen kein Spiel mehr, so wenig, als die Berechtigung irgend eines mathematischen Problems. Keiner hat auch noch zur Bestätigung des Leibnitz (sic!) bewiesen, daß er eine vollständige Wissenschaft vom Schachspiel besitze. Und dies ist, dünkt mich, der schönste Lobspruch des Spiels; denn Spiel soll Spiel seyn, etwas Ungewisses, wie bei den Wetten, und keine Wissenschaft".

Probierstein des Gehirns?

"Er war zwar einer der überragendsten Intellektuellen aller Zeiten", bemerkt Bertrand Russell in seinem Leibniz-Kapitel der "History of Philosophy", "aber als Mensch war er nicht beeindruckend". Fleißig, anspruchslos, ausgeglichen und in Finanzen ehrlich sei er wohl gewesen, aber er habe stets nur die Schriften veröffentlicht, die von Prinzen und Prinzessinnen anerkannt wurden und sich vor allem nach der "Theodizee"-Lektüre im Glauben bestätigt sahen, tatsächlich "in der besten aller Welten" zu leben. Diese naiv-idealisierte Weltsicht wurde dann ja fünfzig Jahre später von Voltaire in seiner ätzenden Aufklärungs-Satire "Candide" eindrucksvoll verhöhnt. Der große Aufklärer Voltaire hat sich übrigens immer wieder am Brett strebend bemüht, die Finessen von Fesselung, Bauernsturm und Springergabel zu erfassen- meist jedoch vergebens, was ihn schwer verstörte. Dem vertriebenen Jesuiten Pere Adam, einem brillanten Schachspieler, hatte Voltaire dreizehn Jahre lang Asyl gewährt, in der Hoffnung, in vielen ausgekämpften Partien seine Spielstärke zu steigern. Doch in dieser Zeit gelang ihm kein einziger Sieg: "Ich habe auf nichts so viel Fleiß verwendet wie auf das Schachspiel", beklagte sich Voltaire, "ich liebe es, ich rege mich auf dabei und Pere Adam gewinnt doch immer."

Auch Rousseau war ein begeisterter, sehr bemühter Schachspieler. Er studierte unermüdlich Schachbücher und Partien mit komplizierten Endspielen, verkehrte regelmäßig im berühmten Café de la Régence, wo er gegen Philidor spielte und dann doch immer verlor. Wenn man, wie es Voltaire und Rousseau empfanden und wie es im "Götz von Berlichingen" heißt, das Schachspiel als "Probierstein des Gehirns" versteht, dann ist natürlich jede Niederlage am Brett eine Schmach.

Aber was Leibniz vorschwebte, Philidor anstrebte und wir Clubspieler heute ja auch alle mit Engines, Chessbase-DVDs usw. erreichen wollen, ist die Optimierung der Spielstärke durch eine möglichst perfekte Systematisierung. Damit dem "Probierstein des Gehirns" etwas flotter auf die Sprünge geholfen wird. Es geht also bei DWZ/ELO-Maximierung eigentlich immer um die Kunst der größtmöglichen, effizienten Annäherung zwischen unterhaltsamem Spiel und analytischer Kalkulation- dabei muss das Spiel ja keineswegs auf der Strecke bleiben. Wie Elke Rehder berichtet, arbeitete Leibniz bis kurz vor seinem Tod bereits an einer Rechenmaschine, die 12 Stellen multiziplieren und dividieren sollte- der technik-affine Universaltüftler des 17. Jahrhunderts hätte gegen unsere modernen elektronischen "wissenschaftlichen" Hilfsmittel daher wohl nichts einzuwenden gehabt.

Fazit: Auch wenn Leibniz hier nur als Theoretiker und Debatten-Initiator zu einer möglichen Wissenschaftlichkeit des Schachspiels im Mittelpunkt steht, gelingt es Elke Rehder, einen faszinierenden (manchmal auch zu ausführlichen) Überblick zur Kulturgeschichte des Schachspiels zu liefern. Besonders die Abschnitte zu Philidor und Wilhelm Heinse sind erfrischend und erhellend. Die historischen Stiche und Illustrationen machen die Bände für Bibliophile besonders attraktiv.


Elke Rehder: Gottfried Wilhelm Leibniz.

Band 1: Bibliographie seiner zu Lebzeiten veröffentlichten Druckschriften und Chronologie seines Lebens. Barsbüttel 2017, 197 S., 48,- Euro

Band 2: Das Schachspiel und die Wissenschaft. 72 S., 29,- Euro 
 

http://www.elke-rehder.de/Antiquariat/Schachbuecher-Schachspiel.htm


 

 


Peter Münder, Anglist, Pinter-Biograph und begeisterter Schachfreund spielt beim Hamburger SK.

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