Mikhail Moiseevich Botvinnik
Botvinnik 1933
Während manche Spieler, zum
Beispiel Tal oder Kortschnoj, ausschließliche Bewunderung ernten, scheiden sich
an Weltmeister Mikhail Botvinnik die Geister. Wer war der wohl einflussreichste
Mann des Sowjetischen Schachs wirklich? Viele Schachspieler, die in Russland
aufgewachsen sind, haben ihn noch persönlich gekannt, und viele der weltbesten
Spieler kamen in den Genuss der Botvinnik Schachschule, z.B. Karpov, Kasparov,
selbst Shirov und auch Kramnik. In der Sowjetunion wurde er nur "der
Patriarch" genannt. Manche halten ihn für den Weltmeister, der seine
Erfolge am wenigsten seinem Talent zu verdanken hatte. Botvinniks Stärken waren
Gradlinigkeit und Fleiß.
Mikhail Moiseevich Botvinnik war
dreimal Weltmeister: 1948-1957, 1958-1960 und 1961-1963. 1948 gewann er den
durch Aljechins Tod vakanten Titel im Turnier der Kandidaten in Groningen. 1951
verteidigte er den Titel gegen Bronstein. Der Kampf endete mit Punktgleichheit,
nachdem Botvinnik in der vorletzten Partie seinen Rückstand wettmachen konnte.
1954 gegen Smyslov rettete ihn erneut die Regel, dass der Weltmeister den Titel
bei gleicher Punktzahl behält. 1957 verlor er den zweiten Titelkampf gegen
Smyslov deutlich mit 9,5:12,5. Die Regeln um die Weltmeisterschaft sahen für
den entthronten Weltmeister die Möglichkeit eines Revanchekampfes vor.
Botvinnik gewann den Rückkampf gegen Smyslov. Der nächste, der ihm den Titel
streitig machte, war Tal im Jahr 1960. Botvinnik verlor und gewann den Titel im
Rückkampf erneut zurück. Endgültig verlor er den Titel dann gegen Petrosian
1963. Nach dem Verlust des Titels spielte Botvinnik noch etwa 200
Turnierpartien. Später widmete er sich vor allem seiner Schachschule.
Botvinnik 1960
In dem Kapitel über Botvinnik in Russian
Silhouettes beschreibt Sosonko eine Szene, in der er mit seinem Schüler
Jeroen Piket Botvinnik in Moskau besucht, damit dieser Piket Unterreicht
erteile. An einer Stelle sagt Botvinnik zum 15-jährigen Piket: "Mir
scheint, dass Sie meine Partie gegen Yurev von der Meisterschaft der
Handelsunion der Metallarbeiter, 1927 nicht kennen." Wie hätte der junge
Holländer auch von dieser Partie wissen sollen?
Sosonko lässt in seinem Buch
Botvinnik selbst erzählen. In seinen Treffen mit dem früheren Weltmeister
erfahren wir von Mikhails Kindheit und Jugend, der Vater ist ein jüdischer
Bauernsohn aus der Ukraine, der in St. Petersburg heiratet, Mikhail wird 1911
dort geboren. Der Vater verlässt später die Familie. Botvinnik wächst
vaterlos auf, eine biografisches Detail vieler Schachweltmeister.
Zwar ist Botvinnik Jude von Geburt,
aber er ist überzeugter Sowjetbürger. Nur einmal fühlt er sich als Jude
benachteiligt, als von offiziellen Stellen während eines WM-Kampfes gegen
Smyslov antisemitische Äußerungen zu hören sind. Benachteiligungen war er
aber in seiner Schachkarriere durchaus häufiger ausgesetzt. Sein ganz
persönlicher Feind ist Weinstein, ein Mentor von David Bronstein, der seine
Position im KGB häufig gegen Botvinnik einsetzt und u.a. einen möglichen
Wettkampf gegen Aljechin hintertreibt. Bronstein ist der einzige, mit dem
Botvinnik jede Beziehung abbricht. Das geschieht nach dem WM-Kampf 1951, als
Botvinnik über das Verhalten des Herausforderers entsetzt ist. Der Name
Weinstein ist im Westen nicht so bekannt, aber doch haben viele Schachfreunde
schon einmal etwas von ihm gelesen, denn das berühmte Turnierbuch von
Bronstein, Zürich 1954, soll in Wirklichkeit von Weinstein geschrieben worden
sein und Bronstein hat "nur" Partiekommentare beigesteuert.
Im Gegenzug soll Botvinnik selbst in
seinem Kampf gegen Keres in den 40ern von offizieller Seite unterstützt worden
sein und auch später seinen Einfluss und seine Macht zu seinen Gunsten
eingesetzt haben. Für alle diese Gerüchte und Erzählungen gibt es keine
Beweise. An einer Stelle erzählt Botvinnik selbst bei Sosonko von solchen
Versuchen von Einflussnahmen von außen: Levenfish hatte 1936 behauptet, er
werde gezwungen, gegen Botvinnik zu verlieren. Botvinnik weist dies von
sich.
Wir erfahren aus einer Zeit, in
denen die politischen Umständen für den Einzelnen lebensgefährlich waren.
Treten und getreten werden gehörte zum Alltag und das Spüren und Durchsetzen
von Macht ebenso. Das Verhalten Einzelner, die dort gelebt haben, können wir
aus der räumlichen und zeitlichen Entfernung kaum richtig beurteilen.
Persönliche Spannungen hatte
Botvinnik mit den meisten seiner Rivalen und er macht daraus auch keinen Hehl.
Aber offenbar ging das - mit Ausnahme von Bronstein - niemals so weit, dass es
nicht später reparierbar war.
Sosonko sieht Botvinnik als
Bestandteil und Produkt des jungen Sowjetstaates. Botvinnik war überzeugter
Staatsbürger der UdSSR. War er Stalinist? An einer Stelle in Sosonkos Buch
Stellung zu den Anklagen gegen die Herrschaft Stalins und versucht die Vorwürfe
des massenhaften Mordes und der Hexenjagden zu entkräften und zu relativieren.
Aber man hat hier nicht den Eindruck, dass ein Stalinist spricht, eher jemand,
der den Frieden mit seiner Heimat sucht.
Außer dem Kapitel über Botvinnik
enthält Genna Sosonkos Russian Silhouettes Aufsätze über Tal,
Polugajewsky, Geller, Capablanca, Zak, Furman, Koblenz, Vitolins (der sich am
16.2.1997 von einer Eisenbahnbrücke stürzte) und Levenfish. Eine Reihe von
Fotos illustrieren auf beeindruckende Weise vergangene Zeiten und
Menschen.
Botvinniks (17.08.1911 bis
05.05.1995) schachliches Vermächtnis, Botvinnik's best games, liegt nun
vollständig in englischer Sprache vor. Im tschechischen Caissa Verlag, Olomouc,
erschien dieses Jahr der dritte Band der Übersetzung der russischen Ausgabe von
1984 (Analytisches und kritisches Werk).
Band eins (392 S., 121 kommentierte
Partien) umfasst die Zeit von 1925 bis 1941, seine ersten Partien als
14-jähriger bis zur UdSSR Meisterschaft 1941. Band zwei (496 S., 129
kommentierte Partien) die Jahre 1942 bis 1957, Partien aus den
Kriegsjahren, die Weltmeisterschaften 1948 (Turnier in Groningen), 1951
(Bronstein) und 1954 (Smyslov). Band drei (464 S., 129 kommentierte Partien)
enthält die Partien der Jahre 1957 bis 1970, u.a. die WM-Kämpfe gegen Smyslov,
Tal und Petrosian.
Die Partie Botvinnik gegen Yurev,
1927, die der junge Piket nicht kannte, finden Sie übrigens im ersten Band auf
S.70!
Jeder Band ist durch einige
zusätzlich Trainingspartien, Tabellen, Listen von Wettbewerben und vor allem
durch Fotos ergänzt. Viele Fotos zeigen Botvinnik, aber auch viele andere
Personen der Zeitgeschichte sind abgebildet.
Botvinnik 1989
Wir erleben in diesen drei Büchern
einen Zeitraum von 45 Jahren, in denen mehrere Generationen von Spielern am
Tisch von Botvinnik Platz nehmen. Viele der ganz Großen treten an sein Brett:
Capablanca, Ragozin, Rabinovich, Makogonov, Kubbel, Kan, Stoltz, Kasparian,
Alatortsev, Rauzer, Flohr, Sozin, Yudovich, Kmoch, Lasker, Chekhover,
Lilienthal, Aljechin, Vidmar, Levenfish, Tolusch, Kotov, Panov, Boleslavsky,
Keres, Bondarevsky, Konstantinopolsky, Smyslov, Euwe, denker, Tartakower,
Gligoric, Kottnauer, Reshevsky, Bronstein, Szabo, Geller, Tajmanov, Stahlberg,
Najdorf, Pirc, Unzicker, Ciocaltea, Uhlmann, Larsen, Donner, Tal, Portisch,
Schmid, Pachmann, Wade, Stein, Trifunovic, Pomar, Spassky, Kholmov und viele
mehr. Die ganze Schachgeschichte dieser Zeit und die meisten der Eröffnungen,
die wir kennen, personalisieren sich in ihren Erfindern gegenüber von
Botvinnik. Zu manchen Spielern äußert er sich, spricht von ihren Stärken und
Schwächen oder seiner Beziehung zu ihnen.
Nach jeder Partie hat sich Botvinnik
hingesetzt und diese analysiert und mit Anmerkungen versehen. Sein analytischer
Fleiß hat ihn zum Weltmeister gemacht. Eigenen Schwächen spürte er nach und
merzte sie systematisch aus. Aus seinen verlorenen Kämpfen gegen Smyslov und
Tal lernte er und im Rückkampf zeigt er sich überlegen, indem er auf die
Schwächen der Gegner spielte.
Die Partien sind im besten Sinne
konservativ kommentiert. Der Patriarch erklärt die Ideen und legt weniger Wert
auf lange Varianten. Da die Analysen alle ohne Computer gemacht wurden, gibt es
ein paar Fehler, die der Übersetzer mit Computerhilfe korrigiert hat. Die
einleitenden Worte zu jedem der drei Bände liefern ein stimmungsvolles Bild der
damaligen Lebensumstände in der UdSSR und den Lauf der Dinge aus Botvinniks
Sicht.
Wer sich durch den Preis von DM 79,-
pro Band nicht abschrecken lässt, bekommt in den Partien und Kommentaren
Botvinniks tiefschürfendes Lehrmaterial für sein eigenes oder das
Schachverständnis seiner Schüler. Viele Partien zeigen auch heute noch
gültige Gewinnstrategien für bestimmte Stellungstypen. Botvinniks best
games ist ein zeitloses und unvergängliches Werk.
Botvinnik 1993
Sosonko schreibt, dass Botvinnik später auf bittere Weise kennen gelernt hat,
was es bedeutet, alt zu sein: Die alten Freunde sind gegangen, neue kommen
nicht, und es bleiben nur die Erinnerungen. Eine endgültige Erkenntnis, wenn
man sich wie Botvinnik die atheistische Weltanschauung der Bolschewiken zu eigen
gemacht hat.
Aber vielleicht ist ja doch alles ganz anders: Vielleicht treffen wir uns ja
alle in einer anderen Welt. Dort kommt ein stark kurzsichtiger Mann auf Sie zu,
der gemerkt hat, dass Sie sich für Schach interessieren, und fragt Sie:
"Kennen Sie denn meine Partie gegen Yurev von der Meisterschaft der
Handelsunion der Metallarbeiter, 1927 nicht?" Wie wird Ihre Antwort lauten?
Sie haben es selbst in der Hand ... !
In Moskau werden die beiden besten
Spieler der Welt, beides Schüler Botvinniks, im Dezember zeigen, dass sie bei
Weitem nicht nur diese Partie Ihres Lehrmeisters gründlich studiert haben.
25.11.2001/André Schulz
Mikhail Botvinnik: Botvinniks best
games, 3 Bände, 1352 Seiten, Caissa, Olomouc 2000/2001, je Band DM 79,-
Genna Sosonko: Russian Silhouettes, 206 Seiten, New in Chess, Alkmaar 2001, DM
41,25
Zu
beziehen z.B. bei Schach-Niggemann...
Kurzbiografie Botvinniks, alle
WM-Partien und Videos in:
Welt des Schachs, ChessBase-CD, 1998, DM 48,-
Im ChessBase-Shop...