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Nach den großen Turnieren in London 1851 und 1862, sowie Paris 1867, die dem englischen und französischen Schach zu Ansehen verholfen hatten, mochten die deutschen Schachspieler nicht länger zurückstehen: Sie hielten die Zeit für gekommen, ebenfalls ein großes internationales Turnier auszurichten. Nachdem sich die Kurstadt Baden-Baden bereit erklärt hatte, 1870 ein solches Turnier zu organisieren, nahm man sich Großes vor: "1. Revision und Feststellung der Schachspielregeln; 2. Großes internationales Schachturnier zwischen den stärksten Spielern der Gegenwart; 3. Handicapturnier zwischen Schachspielern von verschiedener Stärke; 4. Beratungspartien; 5. Bankett zu Ehren der Sieger" (Hermann von Gottschall, Adolf Anderssen, Der Altmeister deutscher Schachspielkunst, Zürich: Edition Olms, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1912, S.348). Treibende Kraft der Organisation war Ignaz Kolisch, selbst ein starker Schachspieler, der durch Rothschild gefördert als Bankier reich wurde und später als Mäzen zahlreicher Schachturniere auftrat. Hermann von Gottschall bezeichnet ihn in seiner Anderssen-Biographie als "die Seele des ganzen Unternehmens ..., dessen rastlosen Bemühungen das Zustandekommen des Turniers zu danken war" (Gottschall, Anderssen, S.351.).
Ignaz Kolisch fungierte als Sekretär des Organisationskomitees, dessen Präsident Prinz Stourdza und dessen Vizepräsident der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew waren. Die Berufung von Turgenjew war mehr als nur ein Publicity-Gag, denn der 1813 geborene Schriftsteller spielte leidenschaftlich und gut Schach: "Während seines Aufenthaltes in Paris war er Stammgast im berühmten Café de la Régence. 1862 erreichte er zusammen mit dem französischen Champion Jules Arnous de Rivière den zweiten Platz in einem Turnier, das der Inhaber des Cafés für die sechzig stärksten Spieler unter den Stammgästen des Lokals veranstaltete. In seiner Bibliothek [...] befinden sich viele Schachbücher und Schachzeitschriften, die mit seinen Randbemerkungen, Varianten und Zügen versehen sind. [...] Er war mit Schachgrössen wie Paul Charles Morphy, Adolf Anderssen, Johann Jacob Löwenthal, Wilhelm Steinitz, Daniel Harrwitz, Ignatz Kolisch und Joseph Henry Blackburne persönlich bekannt." (Beat Rüegsegger, Persönlichkeiten und das Schachspiel, 2000, S.105).
Die Organisatoren leisteten hervorragende Arbeit, und es gelang ihnen, das damals bislang stärkste Turnier aller Zeiten auf die Beine zu stellen. Mit Adolf Anderssen, Wilhelm Steinitz, Joseph Henry Blackburne, Gustav Neumann, Louis Paulsen, Cecil de Vere, Johannes von Minckwitz, Samuel Rosenthal und Simon Winawer starteten ausnahmslos Spieler der damaligen Weltspitze. Lediglich der deutsche Teilnehmer Adolf Stern fiel gegen diesen Kreis etwas ab.
Aber trotz des illustren Teilnehmerfeldes konnten die ehrgeizigen Pläne des Komitees nicht verwirklicht werden. Denn am 14. Juli 1870, kurz vor dem Beginn des Turniers, das vom 18. Juli bis zum 4. August stattfand, verfügte Frankreich die allgemeine Mobilmachung, der am 19. Juli eine formelle Kriegserklärung Frankreichs an Preußen folgte. Damit begann der Preußisch-Französische Krieg, der mit einer Niederlage Frankreichs endete, zur Abdankung Napoleons III führte und Frankreich wieder in eine Republik verwandelte, während die nationale Begeisterung, die der Krieg in den verschiedenen deutschen Staaten auslöste, schließlich den Zusammenschluss der einzelnen deutschen Staaten zu einem einheitlichen Nationalstaat möglich machte. Angesichts solch historischer Ereignisse verlor das Schachturnier an Bedeutung. Und da Baden-Baden nicht weit von der Front entfernt war, überlegten die Teilnehmer und das Komitee sogar, ob das Turnier nicht abgebrochen werden sollte:
"So stellte J. Minckwitz ernstlich den Antrag, den Kongreß aufzulösen und an die anwesenden Konkurrenten einen Teil der Preise als Entschädigung für die vergeblichen Reisen und aufgewandten Kosten zu verteilen, das Komitee lehnte aber diesen Antrag ab. Zur Begründung seines Antrags hatte J. Minckwitz unter anderem hervorgehoben, daß es von manchen Seiten wahrscheinlich geradezu als Frevel betrachtet werden würde, in solchen Zeiten mitten im Kriege und so nahe der Grenze unbekümmert Schach zu spielen. Anderssen äußerte daraufhin zu Minckwitz: 'Sie hätten in Ihrem Antrage von Rechts wegen das nicht sagen sollen – im Gegenteil, Sie hätten auf Deutschlands starke Heereskraft, auf die ausgezeichnete deutsche Führerschaft pochend, Ihren Antrag gar nicht stellen sollen. Sie hätten sagen sollen: Wir wollen doch einmal sehen, wer uns 'was tut. Wir spielen hier ruhig unser friedliches Spiel, unbekümmert um die nahen feindlichen Truppen, die von unsern braven deutschen Brüdern schon in Schach gehalten werden. Wir wissen uns sicher.' Zu dieser Äußerung Anderssens macht die [von Minckwitz redigierte; jf] Schachzeitung eine etwas boshafte kritische Glosse: 'Nicht unerwähnt darf aber dabei bleiben, daß Anderssen aus Furcht vor den Turkos jeden Augenblick bereit war, Reißaus zu nehmen, eine kleine Reisetasche mit dem Notwendigsten stets fertig gepackt hatte, indes er seinen großen Koffer den Händen der plündernden Feindeshorden als bonne prise zu überlassen gedachte'" (Gottschall, Anderssen, S.348).
Adolf Stern war jedoch als einziger Teilnehmer direkt vom Krieg betroffen, "da er als Königl. Bayerischer Reservist zu den Fahnen einberufen worden" (Schachzeitung, S.254). Alle seine Partien wurden deshalb als kampflose Siege für seine Gegner gewertet, was Minckwitz in der Schachzeitung mit folgendem Kalauer kommentierte: "Stern figuriert daher im Turnier nur noch nominell und ist in Folge dessen ein von allen Concurrenten sehr gesuchter und sehr beliebter Gegner" (Schachzeitung, S.254).
Schließlich entschieden sich Komitee und Spieler, das Turnier durchzuführen, allerdings nur mit zwei statt der ursprünglichen geplanten drei Runden. Auch auf die Handicap-Partien, das Bankett und die Festlegung der Regeln verzichtete man. Jeder Teilnehmer spielte also gegen jeden zwei Partien, aber nicht wie heute üblich in zwei Doppelrunden, sondern in Form von kurzen Wettkämpfen von zwei hintereinander ausgetragenen Partien.
Begonnen wurde früh. So legten die Turnierregeln folgendes fest:
"Das Spiel beginnt ... jeden Morgen im Congresslokale um 9 Uhr. Jede Partie wird ohne Unterbrechung so lange fortgesetzt, bis sie zu Ende geführt ist. ... Dauert eine Partie weniger als drei Stunden, so sind die Spieler verpflichtet, Nachmittags um 4 Uhr eine zweite zu beginnen und ebenfalls ohne Unterbrechung auszuspielen. Nach Verlauf von 3 Stunden einer Partie hat jeder Spieler das Recht, eine Viertelstunde Erholungsfrist zu beanspruchen" (Turnierregeln Punkt III, zitiert in Neue Berliner Schachzeitung, Juli/August 1870, S.243). War ein Spieler anderthalb Stunden nach Beginn der Partie nicht erschienen, verlor er kampflos. Möglicherweise war dies der Grund, warum etliche Partien kampflos verloren gingen. Minckwitz' Bericht in der Schachzeitung über diese Partien geht leider über eine Ergebnismeldung nicht hinaus, wenngleich er die Gelegenheit zu einer Entschuldigung in eigener Sache nutzt – ohne hier allerdings deutlicher zu werden: "Zu bemerken ist noch, dass Rosenthal beide Male gegen Minckwitz und De Vere, Minckwitz einmal gegen Paulsen freiwillig verzichtet hat, dass Minckwitz übrigens, ohne ihn weissbrennen zu wollen, seinen wenig günstigen Erfolg theils den aufregenden Zeit-, theils gewissen anderen Umständen verdankt" (Schachzeitung, S.258).
Die Bedenkzeit der Spieler in Baden-Baden wurde mit Uhren gemessen, obwohl die Spieler auf Wunsch auch die bis dahin üblichen Sanduhren verlangen konnten. Allerdings ging man mit Zeitüberschreitung weniger rigoros um als heute. So überschritt Paulsen in seiner Partie gegen De Vere in gewonnener Stellung die Zeit, aber De Vere lehnte es ab, die Partie auf diese Weise zu gewinnen. Schließlich einigte man sich darauf, die Partie zu wiederholen. Ein Grund für diese Toleranz bei Zeitüberschreitung mag gewesen sein, dass die Uhren damals noch über keine Fallblättchen verfügten, die die Zeitüberschreitung eindeutig markierten. Der Vorschlag, in Schachuhren Fallblättchen einzubauen, wurde erst 1899 von H.D.B. Mejer, dem Sekretär der Niederländischen Schachvereinigung gemacht. Allerdings dauerte es noch etwa zwanzig weitere Jahre, bis sich Fallblättchen in Schachuhren allgemein durchsetzten.
Dafür waren die Spieler verpflichtet, lesbare Abschriften der Partien abzuliefern: "Der Gewinner jeder Partie muss vor Beginn des nächsttägigen Spieles dem Secretär eine leserliche Abschrift derselben übergeben, widrigenfalls ihm die Partie als remis angerechnet wird. Ist die Partie remis geworden, so ist der Anziehende verpflichtet, die Ablieferung der Copie zu besorgen, da ihm die Partie sonst als verloren angerechnet wird". Trotzdem gingen die Aufzeichnungen einer Reihe von Partien verloren. Auch hier verfuhr man anscheinend weniger rigoros, als die Turnierregeln suggerieren. Vielleicht scheute sich die Turnierleitung aber auch, gegenüber renommierten Spielern energisch aufzutreten, denn "wie die Deutsche Schachzeitung zu berichten weiß, schrieb Anderssen überhaupt seine Partien nur unregelmäßig auf, und überließ dies den Zuschauern" (Hermann von Gottschall, Adolf Anderssen, S.351).
Souveräner Sieger des Turniers war Adolf Anderssen. Bereits in der vierten Runde setzte er sich an die Spitze und siegte am Ende mit 11 Punkten aus 16 Partien. Auch eine kleine Schwächephase in Runde 7 und 8, als er beide Partien gegen Gustav Neumann verlor, kostete ihn nicht die Tabellenführung. Zwar konnte Blackburne kurzzeitig mit ihm gleichziehen, aber als der Engländer die Runden 10 und 11 verlor, war Anderssen wieder unangefochten Erster. Dennoch musste er in der letzten Runde noch einmal um den alleinigen Turniersieg fürchten, denn Steinitz war mit einem beeindruckenden Schlussspurt bis auf einen halben Punkt an Anderssen herangekommen, und so brauchte Anderssen in der letzten Runde einen Sieg gegen Paulsen, um sich den alleinigen ersten Platz zu sichern. Aber mit einem spekulativen Qualitätsopfer in gegnerischer Zeitnot zwang er das Turnierglück auf seine Seite.
Das starke Finish von Steinitz kompensierte einen schwachen Beginn. Er begann das Turnier mit 0,5 aus 4, wobei er mit Blackburne und Anderssen gegen zwei der stärksten Gegner gleich zu Beginn spielen musste. Dramatisch verlief das Minimatch gegen Anderssen. In beiden Partien opferte Anderssen Material, um anzugreifen, in beiden Fällen verteidigte sich Steinitz ungenau und in beiden Partien ging Anderssens Konzept auf. Nach ihrem Wettkampf aus dem Jahre 1866, den Steinitz mit 8:6 gewann, unterstrich Anderssen so, dass er Steinitz noch ebenbürtig war.
Blackburne und Neumann spielten nicht konstant genug, um Chancen auf den Turniersieg zu haben. Blackburnes Schwächeperiode kam in der Mitte des Turniers. Nach 9 Runden lag er gleichauf mit Anderssen an der Spitze, verlor dann aber gegen Paulsen und Anderssen und büsste alle Chancen auf den Turniersieg ein. Neumann hingegen gelang das Kunststück, beide Partien gegen Anderssen zu gewinnen, verdarb direkt danach jedoch seine Chancen, indem er aus den Wettkämpfen gegen Steinitz und Rosenthal nur einen halben Punkt holte. Er verlor 0:2 gegen Steinitz und 0,5:1,5 gegen Rosenthal.
Anderssen spielte in etlichen Partien das aggressive Angriffsschach, für das er bekannt ist, in anderen griff er zu ruhigeren Mitteln. So wählte er in seiner Schwarzpartie gegen Neumann zu Manövern, die später durch den Nimzo-Inder allgemein bekannt wurden. Steinitz hatte seine Theorien über die Grundlagen des Positionsspiels noch nicht entwickelt, und spielte waghalsiges Angriffsschach, womit ihm in seinen Weißpartien gegen Neumann und Paulsen zwei Glanzpartien gelangen. Generell scheute er kein Risiko und griff mit Weiß mehrfach zum provokanten Steinitz-Gambit, meist mit Erfolg.
Ungeachtet des Krieges, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft abspielte, und der viele Besucher des Kurorts aus Baden-Baden vertrieben hatte, war die Stimmung während des Turniers, wenn man den Berichten Glauben schenken darf, ausgesprochen gut. So fasst Hermann von Gottschall in seiner Anderssen-Biographie Minckwitz' Darstellung in der Schachzeitung wie folgt zusammen: "Um 9 Uhr begann das Spiel, um 1 Uhr wurde meist gemeinschaftlich das Diner in dem Kursaal eingenommen ... Wer frei hatte, vergnügte sich durch Ausflüge. Abends lauschte man im Kursaal den Klängen der vorzüglichen Badekapelle. Beim Eintreffen guter Kriegsnachrichten fanden große patriotische Demonstrationen statt. Zum Abschluß wurde nach dem Konzert noch in einer Weinkneipe dem Gott Bacchus gehuldigt. Das ganze Turnier war durch Kolischs unermüdliche Tätigkeit vortrefflich organisiert und wurde den Teilnehmern ein bis dahin noch nicht dagewesener Komfort geboten. Der Kampf fand in einem geräumigen Spielzimmer an zweckmäßigen, mit grünem Tuche ausgeschlagenen Tischen statt, allerliebste Schwarzwälder Uhren dienten zur Kontrolle der Zeit. Auch das verwendete Spielmaterial war praktisch Ein Schreibtisch, mit gedruckten Partieformularen, mit Bleistiften, Papier und allen anderen Utensilien reichlich versehen, stand zur Verfügung der Spieler. (v. Gottschall, Anderssen, S. 351, vgl. auch Schachzeitung, S. 258-262).
Trotz der ausgezeichneten Organisation, dem hervorragenden Teilnehmerfeld und dem Erfolg des deutschen Schachidols Adolf Anderssen zieht Minckwitz in der Schachzeitung eine zwiespältige Bilanz: "Obgleich ein so grossartiges, von so vielen der allerstärksten Spieler besuchtes Turnier noch nie stattgehabt hat, und ohne Widerrede das Resultat in jeder Beziehung ein glänzendes zu nennen ist, müssen wir doch leider die Bemerkung hinzufügen, dass dieser internationale Congress seinen Zweck nur zum Theil erfüllen konnte. Der Krieg, der Krieg hat einen unerwarteten, grossen Strich durch die Rechnung gemacht!!" (Schachzeitung, S.262).
Damit hat er nicht Unrecht. Der Krieg zwang die Organisatoren ihre ambitionierten Pläne einzuschränken und bescherte dem Turnier weniger Aufmerksamkeit, als es verdiente. Schachhistorisch bedeutete der Sieg des Veteranen Anderssen noch einmal einen Triumph der romantischen Schule, der auch Steinitz damals noch anhing. Aber Steinitz lernte aus seinem Misserfolg. Nur drei Jahre später hatte er beim Turnier in Wien 1873 seinen Stil radikal umgestellt, gewann dort überlegen, und etablierte sich als bester Spieler der Welt.
Quellen:
Hermann von Gottschall, Adolf Anderssen, Der Altmeister deutscher Schachspielkunst, Zürich: Edition Olms, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1912.
A.J. Gillam, (Hrsg.), Baden-Baden 1870, Nottingham 1999.
Beat Rüegsegger, Persönlichkeiten und das Schachspiel, 2000.
Thorsten Heedt, William Steinitz: Der erste Schachweltmeister, ChessBase Monographie, 2003.
David Hooper & Kenneth Whyld, The Oxford Companion to Chess, Oxford, New York, Oxford University Press, 1996.
Jan van Reek, Supertournaments unter www.endgame.nl/bad1870.htm