Schach mit "Leibwächter"

von ChessBase
17.09.2008 – Viele Schachpartien werden im Königsangriff entschieden, oft gegen einen ungeschützten, von eigenen Truppen verlassenen Monarchen. Hier greift das Konzept des "Leibwächters" in der mongolischen Schachvariante Hiashatar, die auf einem erweiterten Brett gespielt wird. Ohne Leibwächter muss hingegen die Variante "Shatar" auskommen, die in der ehemaligen Heimat von Dschingis Kahn ebenso populär ist wie die Volkssportart Basketball. Im Gepräch mit dem Kulturattaché der Botschaft der Mongolei in Berlin, Battumur Yondon, hat Art Kohr für das Neue Deutschland weitere Feinheiten des mongolischen Schachs zu Tage gefördert. Am Samstag wird Battumur Yondon die Güte der mongolischen Schachschule beim Politikerturnier in Berlin zeigen - ohne Leibwächter. Artikel beim Neuen Deutschland...Nachdruck...

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Das Interview erschien in

 

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung

 

 

Bloß nicht matt setzen mit dem Pferd ...

Beim diesjährigen 18. Politikerschachturnier im Berliner Hotel "Maritim" wird der Hufschlag seiner Reiter die 64 Felder erzittern lassen: BATTUMUR YONDON, , ist nach seiner Premiere 2007 zum zweiten Mal am Start. Der heute 41-jährige, der zu DDR-Zeiten in Zittau Wärmetechnik studierte, vertritt am kommenden Wochenende unter den übrigen Politprofis die hierzulande bisher weitgehend unbekannte große Schachtradition seiner Heimat, wie der Autor ART KOHR im Interview für die Tageszeitung "Neues Deutschland" (ND) erfahren hat.


BATTUMUR YONDON, Foto: Burkhard Lange/ND

ART KOHR: Mongolen sind geborene Reiter, das wissen wir. Weniger bekannt ist die Schachbegeisterung der Mongolen ...

BATTUMUR YONDON: ... das Spiel heißt bei uns "Shatar" und ist äußerst populär, neben Basketball und Gitarrenmusik. Überall, von der Hauptstadt Ulan-Bator bis zum kleinsten Dorf, sehen Sie an der Straße offene Pavillons, wo die Fans die Figuren schieben. Das ist derart weit verbreitet, dass wir sogar eine Scherzfrage haben: "Zwei Menschen sitzen an einem Tisch, 20 stehen daneben und gucken zu, was ist das?" Antwort: "Schach". Ich selber habe "Shatar" im Alter von sieben Jahren gelernt.

A.KOHR: Am 10. November 2007 sind Sie beim 17. Politikerschachturnier in Berlin gestartet.

B.YONDON: Von sechs Partien habe ich vier gewonnen. Etwas Glück war freilich auch dabei, denn ich hatte vorher aus beruflichen Gründen mehr als zehn Jahre lang keine Gelegenheit gehabt, mich ans Brett zu setzen.

A.KOHR: In der Gegenwart wird "Shatar" nach den Regeln des Weltschachbundes FIDE gespielt. Ursprünglich war "Shatar" jedoch eine eigene Variante der Mongolen und unterschied sich von der heute international mehrheitsfähigen Version des Denksports.

B.YONDON: Das stimmt, zum Beispiel war der Aktionsradius der Königin spürbar eingeschränkt.

 


Foto: Burkhard Lange/ND
 

A.KOHR: Die mongolische Dame konnte von ihrem jeweiligen Standort aus nur das diagonal unmittelbar angrenzende Feld erreichen. Immerhin durfte sie horizontal und vertikal über Reihen und Linien stürmen wie ein Turm im modernen Mainstreamspiel.

B.YONDON: Angesichts des mongolischen Sonderweges behaupten manche sogar, Schach sei nicht in Indien entstanden, sondern von den Mongolen erfunden worden.

A.KOHR: Haben die Steppenreiter unter dem Befehl des Dschingis Khan, der seine Armeen bis nach Europa donnern ließ, auch "Shatar" in den Satteltaschen gehabt?

B.YONDON: Dazu schweigen die Quellen. Trotzdem ist das nicht ausgeschlossen, schließlich ist Schach den Mongolen seit mindestens 500 Jahren, wahrscheinlich aber deutlich früher bekannt.

A.KOHR: Vor wenigen Wochen lief in den Kinos "Der Mongole" an, das Oscar-nominierte Epos über Dschingis Khan.

B.YONDON: Regisseur Sergej Bodrov wollte den Film ursprünglich in der Mongolei drehen. Aber die Genehmigung wurde ihm verweigert, weil das Werk die geschichtlichen Fakten verfälscht und aus der historischen Wahrheit ein Märchen macht.

 

 

 

A.KOHR: Neben dem überlieferten "Shatar", für das eine in ihrem Bewegungsdrang gebremste Dame typisch war, hatten die Mongolen außerdem noch das "Hiashatar" kreiert. Mit erweitertem Terrain, 10 mal 10 Felder, und die beiden Feldherren wurden bewacht von Leibwächtern, die über die geheimnisvolle Fähigkeit verfügten, ihre Schutzbefohlenen abzuschirmen hinter dem virtuellen Wall einer Sonderzone, in der Eindringlinge hoffnungslos steckenblieben. Leider sind "Shatar" und "Hiashatar" vom FIDE-Schach westlicher Provenienz verdrängt worden ...

B.YONDON: ... das gilt für meine Generation. Immerhin kenne ich das "Shatar" unserer Ahnen aus den Erzähungen meines Vaters. Das "Hiashatar" ist allerdings völlig in Vergessenheit geraten.

A.KOHR: Die Figuren des "Shatar", auch wenn sie heute ziehen, wie es der Kanon der FIDE verlangt, zeichnet ein phantasievolles Design aus. Und sie tragen interessante Namen.

B.YONDON: Der aus dem Standardschach bekannte "Läufer" verwandelt sich in das mongolische "temee", ein Kamel.

Der König ist kein König, sondern bekleidet den Rang eines "noyon", das ist ein Prinz beziehungsweise Herzog. Der "Noyon" muss auf eine Dame verzichten, statt dessen begleitet ihn ein "bers", das ist meist ein Löwe.


Löwe

Den westlichen Springer nennen wir "mori", das Pferd, und den Turm definieren wir in unserer Sprache als Wagen, "tereg".

A.KOHR: "Shatar" unterscheidet beim Schachgebot sogar nach der jeweiligen Einheit, die den Oberbefehlshaber aktuell bedroht.

B.YONDON: Schicke ich Pferd, Wagen oder Löwe nach vorne, sage ich "shag". Will das Kamel den Prinzen treffen, lautet die Parole "dug". Nimmt ein "huu", der Fußsoldat, den feindlichen Kommandanten auf's Korn, ist das ein "tsod". Ist derjenige, der mit dem Bauern den gegnerischen Anführer attackiert, davon überzeugt, dass er der Stärkere von beiden ist und dass er seinen Kontrahenten in wenigen Zügen matt setzen wird - "schachmatt" heißt auf Mongolisch "shag mad" - , dann knallt er den "huu" auf das Brett und verkündet: "Das Waisenkind gibt dir einen Fußtritt und sagt 'tsod!'". 

ND: Mithin werden die verschiedenen Bezeichnungen für das Schachgebot, von "shag" über "dug" bis zu "tsod", offenbar nicht bloß als Synonyme gebraucht, sondern drücken je nach konkret eingesetzter Figur eine unterschiedliche Qualität der Königsattacke aus ...

YONDON: ... richtig. Wollen Sie ein höflicher Spielpartner sein, sollten Sie, selbst wenn das die Stellung erlauben würde, das Match nicht mit einem finalen "dug" des Kamels beenden. Mongolen verspotten den Besiegten dann nämlich mit einem rüden Spruch: Das Kamel habe sein Wasser abgeschlagen auf dem Opfer. Noch demütigender ist ein Matt, das vom Pferd exekutiert wird.

A.KOHR: Warum?

B.ONDON: Reiten ist die Stärke der Mongolen. Zwingen Sie den anderen mit dem Pferd zur Kapitulation, unterstellen Sie ihm auf der metaphorischen Ebene, dass er das nicht beherrscht, was zu den Grundfertigkeiten eines echten Mongolen gehört. Sind Sie zu Gast in einer Jurte und werden Sie dort ans Schachbrett gebeten, so müssen Sie unbedingt vermeiden, das Familienoberhaupt per "shag"-Überfall der Kavallerie in die Knie zu zwingen. Das wäre eine schwere Beleidigung.

A.KOHR: Den Tipp werden wir beherzigen. Wir wollen ja nicht mit Schimpf und Schande verjagt werden von dem herausgehobenen Platz, der den Fans des "Shatar" in der Jurte gebührt ...

B.YONDON: ... die Tür einer Jurte öffnet sich stets Richtung Süden. Die Ehrenplätze finden Sie an der direkt gegenüberliegenden Nordseite, und hier duellieren sich die Schachspieler.

A.KOHR: Darf während der Partie gesprochen werden?

B.YONDON: Handelt es sich um ein Spiel unter Freunden, wird jeder Zug kommentiert.

A.KOHR: Typische Mattkonstellationen im internationalen Schach sind in die Literatur eingegangen, zum Beispiel das "Matt des Légal" oder das "Matt von Boden". Kennt das "Shatar" vergleichbare Fälle?

B.YONDON: Seit Jahrhunderten rühmt die mündliche Überlieferung das "Matt der klugen Braut". Einst hat nämlich ein Schwiegervater gegen einen starken Spieler eine Partie ausgetragen am davor vorgesehenen Platz in der Jurte, auf der nördlichen Seite. Die Schwiegertocher beobachtete, während sie gleichzeitig Tee kochte, das Geschehen auf dem Brett. Unvermittelt verließ sie die Jurte, kehrte aber kurz darauf zurück und sagte zum Schwiegervater: "Das Pferd, das draußen angeleint ist, langweilt sich und möchte geritten werden." Der Schwiegervater stutzte, weil er wusste, dass draußen doch gar kein Pferd auf seinen Reiter wartete. Plötzlich aber verstand er, das war ein versteckter Hinweis der Schwiegertochter, die ihm dem Tipp geben wollte, sein Pferd im "Shatar" zu bewegen. Er folgte dem Rat, und die Schwiegertochter schlug dem Brautvater sogleich ein Anschlussmanöver vor, ebenfalls in verschlüsselter Form. Bis zum endgültigen "shag mad" nach einer Reihe zwingender Züge: ein berühmtes Problem im "Shatar", das zum "Uran beriin nuudel" führt, dem "Matt der klugen Braut".    

A.KOHR: Die Mongolen glauben, dass leidenschaftliche Schachspieler lange leben.

B.YONDON: Der Legende nach sollte ein mongolischer Herrscher einst ausgerechnet in dem Augenblick sterben, als er "Shatar" spielte. Erleg, der Gott des Todes, schickte seinen Boten zum Khan, aber der Gesandte war selber dem Schach verfallen, und als der Todesengel die spannende und fintenreich geführte Partie zu Gesicht bekam, vergass er seine Mission. So verpasste der Bote den Zeitpunkt, an dem der Khan eigentlich diese Welt verlassen sollte. Zum unverhofften Glück des Mongolenherrschers, der als Folge weiterleben und noch viele Jahre "Shatar" spielen durfte. Eine hübsche Geschichte, die Ausdruck ist einer häufig gemachten Erfahrung: Menschen, deren Hobby Schach ist, bleiben geistig fit und frisch bis ins hohe Alter.

A.KOHR: Dresden ist Gastgeber von Schacholympia 2008 ab Mitte November ...

B.YONDON: ... bevor die mongolische Mannschaft an den Start geht, werde ich das Team in unserer Botschaft empfangen. Und den Frauen und Männern Glück wünschen: in unserem Empfangssalon vor einem Wandteppich, der ein Bild von Dschingis Khan zeigt.

Am mongolischen Bodyguard kommt niemand vorbei

Das traditionelle mongolische "Shatar" wird auf einem Brett gespielt, dessen 8x8 Felder alle eine Farbe haben. Die Rochade ist nicht bekannt. Die "Dame" - die im "Shatar" meist durch einen Löwen namens "bers" repräsentiert wird - darf entweder wie ein Turm manövrieren oder mit einem Schritt in das jeweilige Diagonalfeld ziehen, das an ihre konkret gegebene Position unmittelbar angrenzt.

Die Bauern bewegen sich pro Zug ein Feld vorwärts. Bei Erreichen der feindlichen Grundreihe werden sie verwandelt allein in einen Löwen. Der Doppelschritt eines Bauern ist bloß erlaubt für den ersten Zug der Partie, und zwar wird dann von beiden Gegnern zwingend jeweils der Fußsoldat vor dem Löwen zwei Felder vorgeschoben: 1. d2-d4 d7-d5.

Vorstehendes gilt jedoch ausschließlich in dem Fall, dass König und "Damen"-Substitut Löwe in der Grundstellung die selben Positionen einnehmen wie im FIDE-Schach, nämlich König e1 und Löwe d1 beziehungsweise König e8 und Löwe d8. Oft werden aber im alten "Shatar" vor Beginn einer Partie König und Löwe so auf dem Brett arrangiert, dass der Löwe stets rechts vom König steht, mithin König auf d1 und Löwe auf e1 respektive König auf e8 und Löwe auf d8. Dann ist der Doppelschritt eines Bauern absolut ausgeschlossen.

In diesem Fall ist im "Shatar" auch als Eröffnungszug der Doppelschritt eines Bauern, nämlich des Kämpfers vor dem Löwen, nicht gestattet.

Im größeren 10x10-Felder-Szenario des "Hiashatar" haben beide Seiten - logischerweise - jeweils zwei Bauern mehr. Außerdem verfügen die Gegner zusätzlich über zwei Leibwächter, mongolisch "hia", auf den Positionen d1 und g1 beziehungsweise d10 und g10. König und Löwe sind postiert auf e1 und f1 respektive f10 und e10. 

Abgesehen vom Bodyguard ziehen die Steine wie im modernen Schach, das gilt gerade auch für den Löwen. Allerdings dürfen die Bauern im ersten Zug nicht nur einen Doppelschritt ausführen, sondern sogar, wenn sich der Spieler dafür entscheidet, gleich drei Felder vorstürmen. Die Rochade ist nicht bekannt.

Sehr interessant ist der Leibwächter. Ein "hia" bewegt sich wie eine Dame mit eingeschränktem Radius, nämlich horizontal, vertikal oder diagonal pro Zug nach Wahl und Situation auf dem Brett ein bis zwei Felder.

Außerdem richtet der Bodyguard in den acht Feldern, die seine jeweilige Position umgeben, einen speziellen Schutzkordon ein: Die Bewegungen aller Steine, die in diese Sphäre eindringen, werden abgebremst bis auf ein Minimum. Eine Figur, die in den Einflussbereich des Leibwächters gerät, muss auf dem ersten Feld der Zone stoppen. Im nächsten Zug darf sie sich jeweils bloß ein weiteres Feld fortbewegen, bis sie diese special Area wieder verlassen hat. 

Das weiße Kamel auf c5 bietet dem schwarzen König auf f8 kein Schach, weil die Angriffswirkung des Kamels durch den Schutzkordon des Leibwächters e8 auf e7 gestoppt wird. Der weiße Turm auf d1 und der schwarze Turm auf d10 können sich, da ihre jeweiligen Stoßrichtungen von den Bodyguards des Gegners abgebremst werden, im Moment nicht erreichen. Der weiße Hia auf e3 fängt den schwarzen Turm auf d4 ab, der schwarze Bodyguard auf e8 stoppt den weißen Turm auf d7.

Nicht geklärt ist die Frage, ob und in welcher Form ein Bodyguard die Bewegungen des Pferdes beeinflusst. Möglicherweise wird ein Pferd in der Zone des Leibwächters bewegungsunfähig gemacht, vielleicht aber auch kann der Hia einen Reiter gerade nicht stoppen.

Sicher ist aber eins: Für den Leibwächter gibt es ein absolutes Tabu. Der Bodyguard darf sich am feindlichen Herrscher nicht vergreifen und ihn aus dem Weg räumen.    

ART KOHR, Hamburg

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Weitere Infos zum "Shatar": http://history.chess.free.fr/shatar.htm; weitere Infos zum "Hiashatar": http://history.chess.free.fr/hiashatar.htm

 

 

 

 

 


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