In Memoriam Wassili Smyslow
Von Dagobert Kohlmeyer
Wassili Smyslow ist tot. Der 7.
Weltmeister der Schachgeschichte starb in der Nacht zum Samstag mit 89 Jahren
in Moskau. Erst am Mittwoch hatte er Geburtstag. Smyslow spielte drei WM-Matches
mit seinem Landsmann Michail Botwinnik. 1957 eroberte er die Schachkrone, aber
ein Jahr später verlor er den Titel wieder. Dennoch gehörte der Moskauer über
Jahrzehnte hinweg zur absoluten Weltspitze. Mit knapp 63 Jahren spielte er noch
ein Kandidatenfinale gegen Garri Kasparow. Neben Viktor Kortschnoi ist Smyslow
das markanteste Beispiel dafür, dass man Schach bis ins hohe Alter auf höchstem
Niveau spielen kann.
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Die traurige Nachricht erfuhr
ich von Boris Spasski, den ich heute Mittag nichtsahnend in Paris anrief. Er war
gerade aus Russland zurückgekehrt, wo er schachlich zu tun hatte und auch das
Haus seiner Kindheit während des 2. Weltkrieges besuchte. Hier ein Ausschnitt
aus unserem Telefonat.
Spasski: „Ein Titan hat uns verlassen“
„Hallo Boris, wie geht es dir?“
– „Danke. Ich bin gestern wieder weich gelandet, bleibe aber nicht lange in
Paris. Du rufst in einem Moment an, wo ich dir etwas Betrübliches sagen muss.
Heute Nacht ist Wassili Smyslow gestorben. Ich kann leider nicht zu seiner
Beerdigung fahren, weil ich ab 30. März in Prag gegen Anatoli Karpow einige
Partien spiele. Dort ist ein kleines Kulturfestival, sie haben Schach mit
eingebaut.
Was soll ich dir in diesem
Moment sagen? Lass uns erst einmal zum Gedenken an Smyslow ein Glas Wodka
trinken. Wassili war eines der Schachgenies des 20. Jahrhunderts. Für mich gab
es nach dem zweiten Weltkrieg vier Titanen, die das Schach in der Sowjetunion
prägten: Botwinnik, Smyslow, Keres und Bronstein. Alle sind jetzt tot. Wir
sollten ihr Andenken für immer in Ehren halten.“
So weit Spasskis Worte. Ich
wollte noch einen andren Weggefährten Smyslows fragen und rief Jewgeni Wasjukow
in Moskau an.
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Wasjukow: „Er war religiös und elegant“
„Wassili Smyslow ist ein
interessanter Mann gewesen, der sehr religiös war. Er glaubte immer an Gott, was
zu Sowjetzeiten überhaupt nicht üblich war. Diese Haltung hat er niemals
geändert. Er war ein anziehender Mensch und sang hervorragend, er hat ja auch
Schallplatten und DVDs aufgenommen. Wir spielten oft miteinander. Obwohl ich
eine positive Bilanz gegen ihn besitze, hat das überhaupt nichts zu sagen. Als
Schachspieler war Smyslow wirklich bemerkenswert: intuitiv und universell. Er
spielte so elegant, dass man scherzhaft über ihn sagte: ‚Smyslow agiert so
leicht, weil seine Hand von selbst spielt. Ohne sichtbare Anspannung.‘ Das war
natürlich ein Scherz, aber es sagte viel über den Mann aus. Die meisten
Schachspieler denken viel und grübeln lange nach, Smyslow aber sah sofort, was
zu tun ist, und die Hand führte wie selbstverständlich ganz natürliche Züge aus.
Er besaß ein gewaltiges Schachtalent und hat es immer vermocht, hohe sportliche
Qualität mit elegantem Spiel zu verbinden. Wer wie Smyslow drei WM-Matches
spielt, der schreibt nicht nur eine, sondern viele Seiten Schachgeschichte:“
Vlastimil Hort kannte Smyslow
auch sehr gut. In einem unserer früheren Interviews hat er den Exweltmeister
sehr schön charakterisiert.
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Hort: „Es roch bei ihm immer nach Matt“
Welchen Schachstil
verkörperte Smyslow?
Er spielte sehr erfindungsreich
und war stets um Initiative bemüht. Wenn er sie hatte, dann hielt er sie in der
Regel auch fest. Smyslow war ein universeller Schachspieler. Sicher einer der
vielseitigsten in der Schachgeschichte. Denken wir nur an seine Liebe zu den
Schachstudien. Ich besitze sein Buch mit Kompositionen. Stell dir vor, der Mann
ist so alt und komponiert noch immer neue, sehr gehaltvolle Aufgaben. Ich ziehe
meinen Hut!
Wo hat dir Wassili
Wassiljewitsch mal so richtig zugesetzt? Nenne uns bitte eine markante Partie!
Smyslow hat 1973 im
Interzonenturnier von Petropolis sehr schön gegen mich gewonnen, und zwar als
Weißer. Ich spielte damals Sizilianisch, und er bekämpfte diese Eröffnung auf
spezielle Art. Anders als seine Kollegen, verstehst du? Es roch bei ihm immer
nach Matt.
Was kann man noch von ihm
lernen?
Von Smyslow kannst du in jeder
Partiephase etwas lernen: Eröffnung, Mittelspiel, Endspiel. Im Mittelspiel, das
ist komisch, also dort ging es bei ihm gar nicht um ein langes Berechnen von
Varianten. Das war für ihn wirklich nie so wichtig, er war mehr ein intuitiver
Spieler. Und die Schönheit ging bei ihm über alles.
Aus deiner Sicht also das
Wichtigste für Smyslow?
Richtig. Schach ist für ihn in
erster Linie Kunst. Siehst du dir seine Werke an, so spürst du ganz deutlich
seine Einstellung zum Spiel. Schach ist für ihn reine Kunst und nicht anderes.
Auf keinen Fall Sport. Glaub mir, es ist alles andere für ihn, nur nicht Sport.
Was ist er für ein Mensch?
Ein sehr angenehmer. Ich hatte
das Glück, ihn näher kennen zu lernen. Das war bei den Matches Ladies gegen
Veteranen, die zehnmal stattgefunden haben. Wassili hat alle mitgespielt und
dort nicht nur am Rande schön gesungen. Auf einen Nenner gebracht, kann ich kann
nur sagen: Smyslow gehört einfach zu den würdigen Weltmeistern.
Von Berlin bis Elista
Ich selbst kannte Wassili
Smyslow mehr als dreißig Jahre. Zum ersten Mal sah ich ihn 1979 in Berlin. Dort
fand im Casino des Stadions der Weltjugend, das heute nicht mehr existiert, ein
internationales Turnier statt. Smyslow war damals mit 58 Jahren der Veteran.
Lange führte der Ungar Istvan Csom, aber am Ende fing Smyslow ihn noch ab und
gewann nach Feinwertung. Mir fiel die elegante Haltung des Exweltmeisters auf
und wie freundlich er zu jedermann war. Später haben wir uns noch bei vielen
Turnieren getroffen, ob in Moskau, bei den Events Ladies gegen Veteranen oder am
Rande von Weltmeisterschaften und Schacholympiaden. Stets war Smyslow ein
interessanter Gesprächspartner. „Ich denke immer nur einen Zug im voraus“,
pflegte er zu sagen, immer bemühte er sich um ein harmonisches Figurenspiel.
Nicht umsonst heißt Smyslows bekanntestes Buch „Auf der Suche nach Harmonie“.
Auch als Studienkomponist hat sich Smyslow einen Namen gemacht und die besten
Aufgaben in Buchform veröffentlicht.
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Als ich ihn im Februar 1996 zu
Hause in Moskau besuchte, erwies sich seine charmante Frau Nadjeshda als
bezaubernde Gastgeberin. Wir konnten danach verschiedene Buchprojekte
realisieren, und es war eine große Ehre für mich, die beiden Bücher von Smyslow
„Die Kunst des Endspiels“ und „Geheimnisse des Turmendspiels“ aus dem Russischen
ins Deutsche zu übersetzen. In ihnen gibt der 7. Schachweltmeister sein
überragendes Endspielwissen weiter.
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Der Schachspieler Smyslow war
aber nur der halbe Mann. Seine zweite große Liebe gehörte der Musik. Mit seinem
lyrischen Bariton hätte Wassili auf jeder Opernbühne bestehen können. Doch er
entschied sich nicht für die musikalische, sondern für die Schachlaufbahn. Musik
blieb aber zeitlebens ein ernsthaftes Hobby für ihn. Ich habe Wassilis Gesang
oft am Rande von Schachturnieren bewundern können, u.a. in Monte Carlo, London
(dort von Mark Taimanow am Flügel begleitet) oder in Elista, wo er altrussische
Romanzen vortrug. Als wir im Juni 1996 gemeinsam zum WM-Match Karpow-Kamsky nach
Elista flogen, musste der Pilot nach dreimaligem Anflug in der kalmückischen
Steppe eine Notlandung hinlegen, weil das Wetter Kapriolen schlug. In der
Maschine saßen auch Karpow, FIDE-Chef Campomanens und viele andere
Persönlichkeiten der Schachszene. Es ist zum Glück nichts passiert, wir alle
leben noch. Bis auf Wassili Smyslow.
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Er wird der Schachwelt fehlen,
sein Platz in der Historie aber bleibt für immer.