Weihnachten vor 125 Jahren

von André Schulz
25.12.2020 – Im Jahreswechsel 1895/96 spielten vier der damals weltbesten Schachspieler in St. Petersburg ein Viermeisterturnier: Lasker, Pillsbury, Steinitz und Tschigorin. Für den neuen Weltmeister begann das Turnier nicht gut. Nachdem er gestern vor 125 Jahren seinen 27. Geburtstag gefeiert hatte, kassierte er heute seine zweite Niederlage gegen Henry Pillsbury.

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Weihnachtszeit 1895

Die Christen feiern bekanntlich am 24. Dezember die Geburt Jesus. Man kann aber wohl ziemlich sicher davon ausgehen, dass Jesus nicht an diesem Tag geboren wurde. Nach einer Theorie wurde der Geburtstag von den römischen Christen des 4. Jahrhunderts auf den Geburtstag des "heidnischen" römischen Sonnengottes "Sol invictus" gelegt, vermutlich, um den alten heidnischen Glauben zu verdrängen. 

Der Geburtstag des Sonnengottes fiel nach dem alten julianischen Kalender auf den 25. Dezember. Gefeiert wird traditionell aber schon am Abend des 24. Dezembers, da nach antiker Vorstellung der neue Tag mit dem Sonnenuntergang des vorherigen beginnt und nicht wie heute um 24 Uhr/0.00 Uhr.

Ganz sicher an einem 24. Dezember wurden aber der einzige deutsche Schachweltmeister geboren, Emanuel Lasker, im Jahr 1868. Im Alter von noch 25 Jahren, im Jahr 1894, besiegte Lasker Wilhelm Steinitz im Kampf um die Weltmeisterschaft und behielt den Weltmeister-Titel bis 1921. Die lange "Amtszeit" kam auch dadurch zustande, dass Lasker im Laufe seiner Karriere einige Auszeiten einlegte und dann noch der Erste Weltkrieg alle Schachaktivitäten für Jahre beendete.

Ein Jahr nach seinem Titelgewinn, im Dezember des Jahres 1895, hielt sich Lasker erstmals im Russischen Reich, in Sankt Petersburg auf. 

Im August des gleichen Jahres hatte man in Hastings ein gewaltiges Turnier organisiert, an dem 22 Spieler teilnahmen, darunter die Creme de la Creme der damaligen Schachmeister. Nicht der frisch gebackene Weltmeister Emanuel Lasker gewann, sondern der US-Amerikaner Henry Nelson Pillsbury. Lasker wurde sogar noch von Mikhail Tschigorin auf Platz drei verdrängt, soll während des Turniers aber auch nicht ganz gesund gewesen sein.

Bei einem Bankett zur Hälfte des Turniers hatte Michail Tschigorin eine Einladung aus Russland verlesen. Die ersten fünf Spieler des Turniers in Hastings wurden zu einem Turnier nach St. Petersburg eingeladen. Der Sieger dort sollte 100 Pfund erhalten (entspricht nach Kaufkraft heute ca. 10.000 Euro, vielleicht mehr), jeder Teilnehmer garantiert 30 Pfund. Die Einladung kam von Pjotr Alexandrowitsch Saburow (1835-1917), russischer Diplomat und Präsident des Schachklubs von St. Petersburg. 

Die Idee zur Durchführung des Turniers bestand auch darin, womöglich einen Herausforderer für den jungen neuen Weltmeister zu finden, wobei Saburow sich durchaus vorstellen konnte, dass sein Landsmann Tschigorin dies sein konnte. In Teilen der damaligen Schachwelt, ganz besonders in Russland, herrschte nämlich auch die Auffassung, dass der junge Lasker gerade zu dem Zeitpunkt den Weltmeisterschaftskampf gegen Steinitz spielte, als dieser mit fast 60 Jahren zu schwächeln begann, und Lasker quasi mit etwas Glück zum Titel kam und dessen Besitz noch rechtfertigen sollte.

Pillsbury, Tschigorin, Lasker und Steinitz nahmen die Einladung an. Tarrasch, Vierter in Hastings, schlug sie aus beruflichen Gründen aus. So wurde aus dem geplanten Fünfmeisterturnier ein Viermeisterturnier. Das Turnier zu St. Petersburg 1895/96 war das erste internationale Turnier in Russland überhaupt.

Das Russische Kaiserreich befand sich zum Ende des 19. Jahrhunderts in einem gesellschaftlichen und politischen Umbruch. Der im so genannten "Krimkrieg" (1853-1856) zutage getretene gesellschaftliche Rückständigkeit Russlands hatte Zar Alexander II versucht mit Reformen zu begegnen. 1861 ließ er die Leibeigenschaft abschaffen und Reformen in Justiz und Militärwesen durchführen. Wegen der prekären finanziellen Lage Russlands verkaufte der Zar im Jahr 1867 die russische Kolonie auf dem amerikanischen Kontinent, Alaska, an die USA – auch weil sie im Fall eines Kriegs kaum zu verteidigen gewesen wäre.

Der Kaufpreis betrug 7,2 Mio. Dollar. Ein höheres Gebot von Großbritannien wurde abgelehnt. Allerdings hatte Russland vor den Verhandlungen mit den USA seine Kolonie Alaska auch dem Fürstentum Liechtenstein zum Kauf angeboten. Die Fürstenfamilie von Liechtenstein nahm das Angebot jedoch nicht an.

Die USA bezahlten das neue Stück Land mit diesem Scheck.

Alexanders II. Reformen stießen auf großen Widerstand oder gingen einigen politischen Gruppierungen nicht weit genug. Nach mehreren Attentatsversuchen wurde der Zar am 11. März 1881 von den Anarchisten Nikolas Rysakow und Ignatij Grinewitzkij, beide Mitglied der Gruppe "Narodnaja Wolja" (Volkswille), bei einem Bombenattentat ermordet.

Der Sohn des ermordeten Zaren, Alexander III., 1883 gekrönt, zeigte sich infolge des tödlichen Attentats auf seinen Vater als reformfeindlicher und autokratischer Herrscher und stützte seine Macht auf das Militär und im Inneren auf die Geheimpolizei Ochrana. Unter seiner Herrschaft wurden auch die Ausnahmebestimmungen gegen die jüdische Bevölkerung im Land wieder verschärft und es kam zu zahlreichen antijüdischen Pogromen (= russ. "Verwüstung"). Viele Juden flohen nach Deutschland und Österreich-Ungarn.

"Narodnaja Wolja" plante auch die Ermordung von Alexander III., doch die Verschwörung wurde aufgedeckt und die Verantwortlichen wurden hingerichtet, darunter der 21-jährige Alexander Uljanow, der ältere Bruder von Wladimir Lenin. 1894 starb Alexander III. , erst 49 Jahre alt, an den Spätfolgen eines Eisenbahnunfalls, der sich 1888 zugetragen hatte. Sein Sohn Nikolaus II. wurde sein Nachfolger und setzte die reformfeindliche autokratische Politik seines Vaters fort.

Kurz nach dem offiziellen Krönungstag, hatten sich im Zuge der Feierlichkeiten Hunderttausende Menschen auf dem Moskauer Chodynkafeld versammelt und hofften auf die Ausgabe von Geschenken und Nahrungsmitteln. Es kam jedoch zu einer Massenpanik auf dem engen Platz, die 1400 Menschen das Leben kostete. Ebenso viele wurden verletzt. Dies wurde als schlechtes Omen für die Regierung von Nikolaus II. gedeutet. Er sollte dann der letzte russische Zar sein, im Zuge der Revolution zusammen mit seiner Familie ermordet.

So war also die gesellschaftliche Großwetterlage im Russischen Reich, als vier der weltbesten Schachspieler ihrer Zeit dort Mitte Dezember 1895 ihr Turnier aufnahmen.

Lasker, Tschigorin, Steinitz und Pillsbury

Steinitz traf schon am 29. November in St. Petersburg ein. Pillsbury kam am 6. Dezember. Tschigorin war ohnehin schon da. Das Eröffnungsbankett fand am 8. Dezember statt, allerdings ohne Lasker, der wegen Passformalitäten erst am 11. Dezember St. Petersburg erreichte.

Die vier Meister spielten das Turnier mit nicht weniger als sechs Umgängen. Die Bedenkzeit betrug zwei Stunden für 30 Züge, gefolgt von einer Stunde für die nächsten 15 Züge. Die Partien wurden an den Spieltagen um 14 Uhr begonnen. Um 18 Uhr legte man eine Pause ein und setzte die Partie um 20.30 für maximal drei Stunden fort.

In der ersten Runde am 13. Dezember 1895 gelang Henry Pillsbury (23) ein Sieg gegen Lasker. Zur Hälfte des Turniers, also nach drei Runden, lag Pillsbury in Führung und hatte gegen den Weltmeister eine Bilanz von 2,5 aus 3. Doch dann ließ der US-Amerikaner nach und fiel zurück. Nach dem vierten Umgang lag Lasker mit einem Punkt Vorsprung vorne. Nach dem fünften Umgang hatte Lasker seinen Vorsprung auf zwei Punkte erhöht.

Gespielt wurde alle zwei Tage, dazwischen lag ein Ruhetag. Am 23. Dezember 1895 hatte Lasker gegen Tschigorin remis gespielt. Ebenso endete die Partie zwischen Pillsbury und Steinitz- Am 25. Dezember, also heute vor 125 Jahren, gewann Steinitz gegen Tschigorin und Lasker kassierte gegen Pillsbury seine zweite Niederlage.

 

Die zweite Hälfte des Turniers begann am 4. Januar 1896. Lasker startete seine Aufholjagd und konnte sich besonders bei Steinitz bedanken, der Pillsbury in den sechs Partien mit 5:1 besiegte.

Zwar blieb Laskers Bilanz gegen Pillsbury im Turnier von St. Petersburg insgesamt negativ, aber einer seiner Siege war beeindruckend und ging als Meisterleistung in die Geschichte ein.

 

Der physische Einbruch von Pillsbury in der zweiten Turnierhälfte wurde später mit einer Syphilis erklärt, die der US-Amerikaner sich in St. Petersburg von einer Prostituierten geholt haben solle.  Pillsbury starb 1906 an progressiver Paralyse, den Spätfolgen von Syphilis. Zeitgenössische Zeitungen berichteten, Pillsbury hätte in St. Petersburg unter den Symptomen einer Grippe gelitten, die einer beginnenden Syphilis ähnlich sind. 

Der US-amerikanische Theoretiker Walter Korn ist der Sache nachgegangen und hat herausgefunden, dass Pillsbury vor Turnierbeginn ein Bordell besucht haben soll, wo er sich infizierte. Vor Beginn der zweiten Turnierhälfte soll er von einem Arzt die Diagnose erhalten haben. Syphilis war zu dieser Zeit unheilbar.

Bemerkenswert ist noch, dass Steinitz hier noch in so guter Form war. Knapp ein Jahr später spielte er in Russland seinen Revanche-Wettkampf gegen Lasker, verlor chancenlos mit 2:10 und wurde nach dessen Ende wegen mentaler Ausfallserscheinungen in einer Klinik behandelt. 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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