Teil II - "Die Matt-Krallen der Shaolin"
Von
Dr. René Gralla
"Die Welt
ist wie eine Partie Xiangqi - auch ein Niemand kann Meister werden." So lautet
eine alte chinesische Weisheit, zitiert vom
"Xiangqi Bulletin" aus Peking
(Heft 2003 - 1, S. 7). Sogar ein Nobody kann Champ werden: Gibt es eine schönere
Verheißung für den Schachfreund, der sein Spiel endlich mal wieder genießen
möchte? Dem aber, so weit das Western Chess betroffen ist, dieser Genuss
allmählich vergällt wird? Wegen öder Variantenhuberei und Theorieverliebtheit
auf der Turnierbühne?!
Vergiss die graue Theorie: Spiel einfach - Xiangqi!
Doch nun
gibt es Hoffnung - und sie liegt, wie sollte es auch anders sein, genau dort, wo
sowieso allmorgendlich die Sonne aufgeht: im Fernen Osten. Wo Schach nach Art
der Chinesen gespielt wird - und wo das noch richtig Spaß macht. Das Angenehme
dabei ist: Vorher müssen keine dicken Bücher gewälzt werden. Der Spieler sollte
seine Partien vielmehr wie praktische Übungen auf der Militärakademie anlegen:
Schicke ich die Infanterie schon vor, durch die Furt des Huanghe? Oder soll
zuerst die Kavallerie aufklären?
Traditionelle Xiangqi-Steine auf Battlefield-Spielplan
So lautet nämlich einer der Tipps des Xiangqi-Pädagogen
Zhu Baowei, die der erfahrene Taktik-Lehrer in seinem Werk zum Mattangriff gibt:
"Checkmate Methods", herausgegeben von der World Xiangqi Federation (WXF) und
der Chinese Xiangqi Association (S. 3). Es ist daher kein Zufall, dass auch
strategische Köpfe wie Chinas Mao Tse-tung oder Vietnams brillianter General Vo
Nguyen Giap, der die Franzosen 1954 bei Dien Bien Phu besiegt und dann den
Amerikanern mächtig eingeheizt hat, ihren Scharfblick am Xiangqi geschult haben:
als geistiges Exerzitium, nach dem Vorbild der legendären chinesischen
Kriegermönche aus dem Kloster Shaolin.
Denn die
heiligen Männer im Reich der Mitte, die sind eben aus einem ganz anderen Holz
geschnitzt gewesen als ihre frommen Kuttenträger-Kollegen aus dem Westen. So
haben sich die asiatischen Brüder niemals allein auf
ora et labora, auf Beten
und Arbeiten reduzieren lassen. Stattdessen weihten sich viele von
ihnen - und das auch außerhalb des speziellen Ordens der Shaolin - den Mysterien
des Xiangqi. Und bewiesen am Brett oft eine derart überirdische Kompetenz, dass
sie zwischen roten und schwarzen Palästen mit geradezu traumwandlerischer
Sicherheit agierten. Offenbar geleitet von Mächten aus einer anderen Dimension -
wie sogar der spätere Kaiser Zhao Kuang Yin (lebte von 927 bis 976 nach
Christus) persönlich hat erfahren müssen.
Großer Kampf um einen heiligen Berg
Vor der endgültigen
Eroberung der Macht in Peking, als der seinerzeitige General Zhao noch mit
seinen Soldaten gegen konkurrierende Warlords kämpfte, traf der Heerführer eines
Tages auf den Mönch Chen Tuan. Der weise Mann war eine Lichtgestalt des Taoismus
und wurde überdies als großer Meister der Martial Arts verehrt. Der Asket hatte
die asiatische Kampfkunst zu einer bis dahin unerreichten Perfektion entwickelt,
war dabei aber nicht stehen geblieben: Auch das Xiangqi hob er in den Rang einer
mentalen Martial Art - als quasi
transzendiertes Kung Fu.
Das verlieh dem fitten
Gelehrten einen Kultstatus, der den erfolgsgewohnten Militär Zhao Kuang Yin
seinerseits nicht ruhen ließ; der Karriereoffizier hielt sich nämlich selber für
einen Xiangqi-Experten. Folglich forderte der General den Tao-Philosophen zu
einem Wettkampf heraus, der in die Geschichtsbücher eingegangen ist (mehr dazu
bei
www.csvde.de/spiel69.htm).
Rot: Zhao Kuang Yin
Schwarz: Chen Tuan
China, um
die Mitte des 10. Jahrhunderts nach Christus.
Die Soldaten-Eröffnung - das Englische System im Xiangqi
(Anmerkung zu den Diagrammen: Zur
Darstellung der Figuren wurden westliche Symbole verwendet, zusätzlich das
Kanonensymbol. Die Figuren ziehen auf den Schnittpunkten der Linien und Reihen.
Zur Erinnerung: So ziehen und schlagen die Figuren.
Ausführliche
Beschreibung in Teil Eins...:
Elefant (Elephant, Symbol Läufer): Zieht und schlägt zwei Punkte diagonal
König: Zieht und schlägt einen Punkt waagerecht oder senkrecht und darf die
Verbotene Stadt nicht verlassen. Bei freiem Blick darf der gegnerische König
gegenüberliegende Punkt nicht betreten (Fernopposition).
Mandarin (Advisor, Damesymbol): Zieht und schlägt einen Punkt diagonal. Darf die
Verbotene Stadt nicht verlassen.
Kanone (Cannon, Kanonensymbol)): Ziehen wie die Türme im westlichen Schach. Zum
Schlagen muss ein eigener oder gegnerischer Stein (Rampe) zwischen Kanone und
dem zu schlagenden Stein stehen.
Kampfwagen (CarRiot, Turmsysmbol): Ziehen und schlagen wie die westlichen Türme.
Pferd (Horse, Symbol Springer): Zieht und schlägt wie der westliche Springer,
kann aber keine Hindernisse überspringen.
Bauer (Pawn, Bauernsymbol): Zieht einen Punkt vor und schlägt geradeaus. Hinter
dem Fluss (Mittellinie) auch seitwärts in beide Richtungen. André Schulz)
1.c5 ...
Zhao Kuang
Yin, ein Soldat durch und durch, beginnt das Match mit dem Vormarsch der
halblinks postierten C-Kompanie. Ein Auftakt, der vergleichbar ist mit der
Englischen Partie im Internationalen
Schach: 1.c4 ...
.
1.
... g6
2.Hc3
Hg8
3.Hg3 Hc8
Jetzt ist
eine Art Vierspringerspiel im Xiangqi
entstanden. Siehe die korrespondierende FIDE-Chess-Matrix:
1.c4 e5 2.Sc3 Sf6 3.Sf3 Sc6.
4.Ece3 Hf6 5.Ch5? ...
Zu
optimistisch. Lädt zum Vormarsch des schwarzen g-Bauern ein - und Rot kriegt
bereits in diesem frühen Stadium ernste Probleme.
5.
... g5!
Sturm des
Soldaten auf das feindliche Flussufer unter Selbstaufopferung - wobei sich der
rote Materialgewinn rasch als zweifelhaft erweist.
6.gxg5 Cg8!
Die
Pointe: Schwarz macht jetzt gewaltig Druck auf der g-Linie - gegen den rechten
roten Flügel.
7.Ci5 Rh0 8.Rh1
8...Rxh1
9.Hxh1 ...
Zhaos
Kavallerie wird zurückgeworfen, verliert wertvolle Zeit.
9.
... Hh5!
Ein
gefährlicher Reitervorstoß.
10. Cb5 Ch8
Chen Tuans
Artillerie schießt sich gegen Zhaos weiche Flanke ein. Jetzt hängt das rechte
weiße Pferd h1.
11.g6 ...
Der
Bauernaufzug ermöglicht zwar der linken roten Kanone b5 den Gegenangriff auf
Black Horse h5, aber das verschafft nur eine kurze Atempause. Der verlorene
Haufen g6 lässt sich nämlich auf dem Brückenkopf nicht halten.
11. ... Hf4!
Droht
bereits Matt durch eine typische Pferd-Kanone-Operation:
12. ... Hg2+ 13.Ke2 Ch2# .
12.Cf5 ...
Mühsame
Defensive.
12. ... Hg2+ 13.Cf2 ...
Ein
Verteidigungszug, der - anders als beim FIDE-Chess - nur im Xiangqi
funktioniert: durch Unterbrechung der Xiangqi-"Springer"-Wirkungslinie wird das
Schachgebot pariert.
13. ... Ra9 14.Hi3 ...
Sucht den
Abtausch, um ein wenig Luft zu kriegen ...
14. ... Ch3
... aber
Schwarz lässt das nicht zu: Nun ist das rechte rote Pferd blockiert.
15.Hd5 Rg9!
Ein
typisches Manöver: nach dem Soldatenopfer 5.
... g5! ein Wagenangriff über die g-Linie. Der rote Bauer fällt -
und Zhaos Stellung liegt weit aufgerissen vor dem schwarzen ChaRiot.
16.Cbb2 Hxi3 17.Exi3 Rxg6 18.Afe2 Ch1 19.Eig5 ...
Zhao
versucht, die g-Linie mit einem Elefanten-Bollwerk abzuriegeln.
19. ... Cb4 20.i5 Rd6 21.Hc3 Cb9
Die
Beweglichkeit der schwarzen Verbände ist eindrucksvoll. Chen Tuan bereitet den
Schwenk gegen jene Brettseite vor, die im Internationalen Schach "Königsflügel"
heißt.
22.Cc2 Ci1 23.Rb1 Ch9!
Und schon
wieder droht das Aus im nächsten Zug: 24.
... Chh1# - das ist das vernichtende Doppelkanonen-Matt. Die
Haubitzen-Doppeleinheit, die dann durch 22.
... Ci1 und 24. ... Chh1
gebildet wird, bringt ihre eigene Rampe gleich mit: Das ist der
Frontmörser Ch1, der den Schlag
der rückwärtigen Artillerieeinheit Ci1 ermöglicht. Ein Zwillingsgeschütz, das jeden
Widerstand zermalmt - so dass da nur die sofortige Flucht aus der Schussrichtung
hilft. Sofern das denn noch möglich ist ...
24.Ch2 Ch3 25.c6!?! ...
Ein
Opfer, das den Schwarzen beschäftigen soll ...
25. ... cxc6 26.Hb5 c5 27.Exc5 ...
Falls
27.Cxc8 ..., dann
27. ... cxb5 .
27. ... Cg3 28.Cg2 Rh6 29.Rb3 Rh1++
Doppelschach durch Rh1 und
rückwärtige Kanone i1.
30.Af1 Hd6!
Bietet den
Elefanten auf c0 zum Fraß an:
Der Reitervorstoß an den Huanghe ist wichtiger.
31.Cxc0+ Ade9 32.Hxa7 ...
Zhao
versucht nun seinerseits, am linken Flügel durchzubrechen.
32. ... Rg1! 33.Cb2! ...
Eine
beeindruckende rote Gegenoffensive - aber der Mönch Chen Tuan wäre kein Taoist,
wenn er auch jetzt nicht die Ruhe bewahren würde.
33. ... Ad8 34.Ca0 Hxe4
So laufen
viele Xiangqi-Partien ab. Sie münden in einen dramatischen Wettlauf: Wer
räuchert zuerst den feindlichen König in dessen Bunker aus?!
35.Rb0+ Ke9 36.Hb9
Rxf1+! 37.Ke2! ...
Wenn
37.Kxf1?? ..., dann das
Doppelkanonen-Matt 37. ...
Cgf1#
.
37. ... Hc3+
38.Ke3 Hxd1+ 39.Cd2! Re1+ 40.Kf3 Rf1+ 41.Ke3 Re1+ 42.Kf3 Rf1+ 43.Ke3 Ch1
Zugwiederholungen erzwingen kein Remis im Xiangqi, sondern führen zum
Verlust. Also muss Schwarz vor der dritten Reprise eine neue Idee haben ...
44.Ca9+ Ke8
Chen Tuan
hat sich kühn eine weit vorgeschobene und ganz unwahrscheinliche Schanze für
seinen General gebaut.
45.Hc7+ Ke9 46.Hd9+ ...
Auch der
nachmalige Kaiser Zhao führt sein Pferd sehr geschickt. Der Gaul auf
d9 ermöglicht - als Rampe -
das Schach durch das Geschütz
a9; gleichzeitig wird der
Schimmel durch die rückwärtige Kanone d2 gedeckt
- die ihrerseits den schwarzen Mandarin d8 clever als Sprungbrett nutzt.
46. ... Ke8
47.Hxf0+ Ke9 48.Hd9+ Ke8 49.Re0+
...
Plötzlich
scheint der Feldherr Zhao das Blatt gewendet zu haben. Wer würde hier noch auf
die Farben des Mönches Chen Tuan setzen?!
49. ... Ae9
Aber der
Taoist hat alles genau kalkuliert ...
50.Rxe9+ ...
Sieht
verheerend aus, jedoch ...
50. ... Kd8 51.Hb8 ...
... nun
ist Rot zum entscheidenden Zeitverlust gezwungen: Er muss einen Zwischenschritt
machen, um 52.Hc6# zu drohen -
aber eben ohne Schachgebot. Und das reißt für Chen Tuan das schicksalhafte
Ein-Zug-Fenster auf - zum Sieg.
51. ... Rf3+!
Der Start
einer prächtigen Schlusskombination:
52.Kxf3 Chh3# .
52.Ke2! Rf2+!! 53.Cxf2 ...
Die rote
Kanone muss eingreifen - und macht so den Weg frei für das
Black Horse d1.
53. ... Hc3+ 54.Ke1 ...
Sogar der
Monarch des Nachziehenden spinnt mit am Mattnetz - indem er seinen Todesblick
über die d-Linie schweifen lässt und diese Vertikale für Red King sperrt. Wenn
54.Ke3 ..., dann
54.... Chh3# . Aber auch
auf e1 findet Zhaos Monarch keine
Ruhe mehr:
54. ... Cgg1#.
0:1
Und
endlich hat Chen Tuan es erzwungen: das ersehnte Doppelkanonen-Matt (das
rote Geschütz f2 kann durch
Zwischenzug auf f1 das Matt
nicht
abschirmen, weil dann die schwarze Front-Haubitze
g1 weiter Schach geben würde).
Eine
gigantische Schlacht auf dem Feld der 90 Wegkreuze, die den beiden Gegnern zur
Ehre gereicht hat. Zhao Kuang Yin, der sich trotz tapferer Gegenwehr der beinahe
überirdischen Brillanz des Taoisten Chen Tuan beugen musste, war schwer
beeindruckt. Spontan wollte er sein Schwert als Preis dem Sieger schenken - aber
der Philosoph lehnte ab mit der Begründung, der General könnte die Waffe
besser gebrauchen.
Eine
stolze Geste, die der Offizier dem Mönch fürstlich vergolten hat. Nachdem Zhao
Kuang Yin von seiner Armee zum Kaiser ausgerufen worden war und so die
Sung-Dynastie begründete, schenkte der neue Herrscher dem Xiangqi-Genie Chen
Tuan einen ganzen Berg - den Hua Shan. "Hua"
heißt auf chinesisch "Blume", und so sieht das Felsmassiv auch aus: eine wilde
Schönheit, mit kühnen Kliffs und mutigen Pinien, die auf Granitkaminen den
Winden trotzen. Bis zu einer Höhe
von 2200 Metern erhebt sich der Hua Shan über der Provinz Shan'Xi, nicht weit
nordöstlich von Xian, wo die Terrakotta-Armee des Kaisers Qin Shi Huang gefunden
worden ist. Das Naturdenkmal ist ein beliebtes Ausflugsziel - und zugleich ein
Zentrum des Taoismus.
Auf dem Hua Shan leben in Klöstern und Einsiedeleien rund
50 Nonnen und Mönche, so dass der Berg eine Art Athos der Asiaten ist. Ein
Gipfel, der zugleich auch die Schachfans anzieht - schließlich wartet auf sie
vor atemberaubender Kulisse ein Pavillon, der einen Tisch aus Stein beherbergt.
Mit einer schweren Platte, auf der ein Xiangqi-Brett markiert ist. Hier kann der
Liebhaber dann noch einmal an passender Location die unvergessliche Partie
zwischen Kaiser Zhao Kuang Yin und dem Mönch Chen Tuan nachspielen. Wem dafür
die Anreise in die Volksrepublik freilich zu aufwändig und zu weit ist, der mag
allerdings auch bloß bis in die frühere deutsche Hauptstadt Bonn fahren. Dort
läuft nämlich noch bis zum 29. Februar 2004 in der Bundeskunsthalle die
Ausstellung "Schätze der Himmelssöhne" - eine einzigartige Präsentation der
Sammlung der chinesischen Kaiser aus dem Nationalen Palastmuseum Taipeh auf
Taiwan. Und einer der Monarchen, die schon auf den Plakaten für diese wunderbare
Schau werben, das ist kein Geringerer als der einstige Gegner des Mönches Chen
Tuan: der Sohn des Himmels, der Herrscher Zhao Kuang Yin (weitere Informationen
unter
www.bundeskunsthalle.de).
Zuschlagen wie der Blitz
-
Das älteste Schach ist das modernste Schach -
Ein Match,
das über tausend Jahre alt ist und sich trotzdem bis heute seine Frische bewahrt
hat: Für Schachspieler, die aus dem westlichen Kulturkreis stammen, ist das eine
völlig neue Erfahrung. Partien der Philidor- und Morphy-Ära gelten bereits als
hoffnungslos angestaubt, während die Asiaten in viel größeren zeitlichen
Dimensionen denken, fühlen und handeln.
Zumal an
jenem Tag gegen Ende des ersten Millenniums, als sich der Feldherr Zhao und der
Mönch Chen Tuan ans Brett setzten, das Xiangqi bereits seit vielen Jahrhunderten
im Reich der Mitte bekannt gewesen ist. Jedenfalls schreiben chinesische
Historiker dem General Hán Xin die Erfindung des strategischen Spiels zu. Im
Winter von 204 auf 203 vor Christus soll das gewesen sein, um die Armee während
langer kalter Lagernächte zu unterhalten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang
ist nun, dass sich der besagte Hán Xin bei der Konzeption des Xiangqi auf die
Lehren eines Vordenkers gestützt hat, der zwei Jahrhunderte früher wirkte: Das
war der Philosoph Sun Tsu, der mit "Die Kunst des Krieges" das erste
Standardwerk der Militärwissenschaft publizierte.
Das
Chinaschach ist demnach Sun Tsu pur
auf dem Brett der 90 Wegkreuze - so dass denn auch die modernen
Xiangqi-Pädagogen in allem Ernst empfehlen, den Klassiker zu lesen, wenn man den
Geist und die Ideen des Xiangqi wirklich erfassen möchte. Das Buch "Die Kunst
des Krieges" ist aktuell erschienen bei der Droemerschen Verlagsanstalt Th.
Knauer Nachf., München 1988: eine Investition, die sich durchaus lohnt.
Tatsächlich lassen sich viele Leitsätze des Sun Tsu auf die Turnierpraxis
übertragen. Das gilt vor allem für das oberste Gebot im Chinaschach: Tempo,
Tempo! Wie der Meister Sun Tsu mahnt: "Deine Pläne sollen dunkel und
undurchsichtig sein wie die Nacht, und wenn du dich bewegst, dann stürze herab
wie ein Blitzschlag" (Kunst des Krieges, S. 66).
Thunder and lightning
- andernfalls ist die Partie
bereits entschieden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Sturmläufe und
Durchbrüche aus der Startposition heraus sind beim Xiangqi viel häufiger zu
beobachten als im Internationalen Schach. Der Denksportler muss vom ersten Zug
an höllisch aufpassen - wenn er nicht, bevor er überhaupt weiß, wie ihm
geschieht, nach Art der Kung-Fu-Shaolin ausgeknockt werden möchte.
Trotz
seines stolzen Alters ist das Xiangqi
deswegen immer noch und heute gerade erst recht die modernste
Form des Schachsports. Partien, die im unverwechselbaren
Asian Style ausgetragen werden,
kommen viel schneller auf den Punkt als die oft zähen Figurenschiebereien
zwischen all den Lekos und Ponomarjows dieser Welt.
Eine
ständige Herausforderung - und wie schwer das ist, da mitzuhalten, das hat
gerade erst die deutsche Auswahl bei der Achten Xiangqi-Weltmeisterschaft Anfang
Dezember 2003 in Hongkong erfahren müssen. Während dieses Völkerfestes ist
nämlich das schwarz-rot-goldene Team unter 23 teilnehmenden Nationen nicht über
einen enttäuschenden drittletzten Platz hinausgekommen, noch hinter Italien
(Rang 14), Burma (Platz 16) und Niederlande (Platz 20). Die Plätze eins und zwei
teilten sich souverän die beiden Chinas: Gold für die Volksrepublik, Silber für
die Dissidenten-Schwestern und -Brüder aus Taiwan.
Feuerüberfälle in der Eröffnung
Xiangqi
ist rasant und spektakulär - das perfekte Schach für das digitale dritte
Jahrtausend. Entsprechend hat der Vordenker des Chinesischen Schach-Vereins
Mannheim (CSV), Do T. Ha, während der vergangenen Bundesligasaison 2002/2003 in
der dritten Runde am ersten April-Wochenende 2003 die kürzeste Partie des
gesamten Wettkampfwochenendes gewonnen. Der Webmaster der sehr inspirierenden
Chinaschach-Homepage
www.csvde.de benötigt dafür
bloß sehr sparsame - Geiz ist ja neuerdings auch geil! - sieben (!!) Züge, um seinen Gegner Anton Grzeschniok aus
Frankfurt am Main vom Brett zu fegen.
Meister Do
reicht auf diese Weise rekordverdächtig - schließlich handelt es sich ja um ein
wichtiges Punktspiel im Rahmen der deutschen Mannschaftsmeisterschaft - mit
einem Plus von gerade mal drei Extra-Zügen an das All-Time-Limit heran, das auf
der Ebene des Internationalen Schachs vom notorischen Schäfermatt vorgegeben
wird: 1.e4 e5 2.Lc4 Sc6 3.Dh5!?!? Sf6???
4.Dxf7#.
Das
schulmäßige Désastre à la bergère kommt
übrigens auch im Internationalen Schach überraschend häufig vor - sogar bei
publizitätsträchtigen öffentlichen Turnieren. Ein jüngeres Beispiel ist der
spektakuläre Ausrutscher des Frank Steffel, vorher schon grandios gescheiterter
CDU-Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters in der Bundeshauptstadt.
Der Mann erlebt seinen Schach-Gau als - passend zum Parteibuch - Schwarzer
während des 12. Turniers "Politiker spielen Schach"
im Berliner Spätherbst 2002.
Mit dem 9.
Zug von Weiß erwischte den überraschten Frank Steffel ein verspätetes
Schäfermatt.
Hier die
unglaubliche Vorgeschichte dieses Blackouts:
Weiß: Martin Lindner
Schwarz: Frank Steffel
Das
Turnier "Politiker spielen Schach", Berlin/Germany
2002.
Unregelmäßig
1.e4 e5 2.Dg4? ...
Eine
stümperhafte Anmache, die dennoch funktioniert; die Schachgöttin Caissa ist eben
als launisch bekannt.
2. ... Sf6
Noch
findet Herr Steffel eine passende Antwort.
3.Dh4 ...
Weiß
bleibt bei seinem Versuch, dem Nachziehenden ziemlich grobschlächtig ein Bein
stellen zu
wollen.
3.
... Lc5 4.Lc4 0-0 5.Dg3 ...
Bastelt an
einer Mattdrohung von der Eleganz eines Vorschlaghammers.
5.
... Te8 6.d3 d6 7.Lh6 Kf8???
Schwarz führt eine
neue Kategorie in die Klassifizierung von Zügen ein - und verdient sich dafür redlich drei
(!!) Fragezeichen: den echten
Steffel. Nach 7. ...
Sg4 hätte der
Christen-Unionist die simple weiße Anmache abwehren und sogar in Vorteil kommen
können.
8.Dxg7+Ke7
9.Dxf7# 1 : 0
Da haben
wir's: die typische Struktur des Schäfermatts.
Beim Karate-Schach
aus Fernost entscheidet das Matt der Schäfer - chinesisch:
Murensha - gelegentlich sogar
wichtige Punktspiele. Ort des Geschehens: Wiesbaden, dritte Runde der deutschen
Xiangqi-Bundesliga am ersten Aprilwochenende 2003.
Rot: Do T. Ha,
CSV Mannheim/Germany
Schwarz: Anton Grzeschniok, Frankfurt/ a. M./Germany
Spiegelbildliche Mittelkanonen-Eröffnung
1.Che3 Chf8??
Ein schier
unglaublicher Missgriff, ein zünftiger Mangqi - übersetzt: "ein blinder Zug" -,
wie die Chinesen sagen würden. Schwarz lässt seinen
überlebenswichtigen Zentralbauern e7
ungedeckt stehen. Wenn der Nachziehende schon mit einem Haubitzen-Konter
auf den einleitenden Artillerieangriff 1.Che3
... gegen den
Mittelsoldaten e7 - was dem klassischen FIDE-Schach-Auftakt
1.e4 e5 2.Sf3 ... korrespondiert -
reagieren will, dann muss er schon die Grundidee der
russischen Verteidigung (1.e4 e5 2.Sf3 ... und
nun sofort 2. ... Sf6) ins Xiangqi übertragen: Nach
1.Che3 ... mit der Riposte
1. ... Che8; und dann weiter
2.Hg3 Hg8.
2.Hg3 ...
Meister Do
T. Ha ist wahrscheinlich selber derart verblüfft über den schwarzen Aussetzer,
dass er sein frühes Glück nicht glauben mag. Und zunächst
die Entwicklung fortsetzt - was ja auch durchaus löblich ist. Er hätte auch
gleich den Pawn e7 schlagen
können.
2.
... g6?
Jetzt hat
ihm Rot doch großmütig die Chance gewährt, das peinliche Versehen zu reparieren
und den Pe7 mit
2. ... Hc8 zu retten, aber
Frankfurts Vertreter Anton Grzeschniok merkt's einfach nicht.
3.Rh1 Hg8??
Plötzlich
hat Schwarz wohl doch etwas geahnt - aber setzt die Serie seiner Fehlgriffe
fort. Wobei dieser Patz hier übrigens sehr typisch ist für
Denksportler, die vom Western Chess zum Xiangqi überlaufen. Offenbar versucht
der Nachziehende, mit 3. ... Hg8??
verspätet den schwarzen Pe7
zu decken. Und übersieht, dass der Rappen Hg8,
wegen der Blockadewirkung der Black Cannon
f8 - die insofern den
Kavallerie-Verteidigungsschlag über f8 nach
e7 versperrt - , die Infanteriestellung
auf der e-Linie gar nicht erreichen kann.
4.Cxe7 ...
Und nun,
nachdem er die entscheidende Bresche geschlagen hat, erzwingt der clevere
Taktiker Do T. Ha im Geschwindschritt ein
Mega-Doppelkanonen-Matt.
4.
... Hc8
Immer
wieder versucht in einer derartigen Lage - und meist hoffnungslos. Schwarz
möchte irgendwie die rote Kanone
von der e-Linie vertreiben
...
5.Ce6 ...
... aber
natürlich denkt der Anziehende nicht daran, die zentrale Vertikale zu räumen.
5.
... c6?
Frankfurts
Grzeschniok gibt sich schon selber auf.
6.Cb7 a6??
Und der
totale Aussetzer Nr. 2 in diesem Match. Oder kennt Schwarz womöglich gar nicht
die Mechanik des Doppelkanonen-Matts?! Wenigstens
hätte er noch die Flucht nach vorne versuchen sollen, um ein paar Züge länger
Widerstand zu leisten:
6. ... Ke9 7.Cbe7+
Kd9
.
7.Cbe7!!#
1:0
Und spätestens in
diesem Augenblick muss Schwarz erkennen: Es nützt ja gar nichts, dass
der schwarze Reiter c8 das
Feld e7
beobachtet. Selbst wenn sich
das Black Horse c8 todesmutig
dreinschlagend mit 7. ... Hcxe7
in diese Bresche werfen dürfte - nur einmal als Gedankenexperiment
angenommen -, dann wäre der unmittelbar gegen den
eigenen General e0 gerichtete
Angriff noch immer nicht neutralisiert. Denn nun bietet die
rückwärtige rote Haubitze Ce6
ungerührt weiter Schach über die Rampe e7 hinweg - egal, ob da eine Figur des
Anziehenden (rote Ce7 ) oder des
Nachziehenden (bloß theoretisch: schwarzes
He7) steht oder stünde.
Damit hat
es Meister Do T. Ha quasi für die Xiangqi-Fibel komponiert - das Murensha, das
Matt der Schäfer, auf dem Schlachtfeld der 90 Wegkreuze. In Gestalt des
berüchtigten Doppelkanonen-Matts.
Eine
eindrucksvolle Performance des Mannheimer Frontmannes Do T. Ha, der als
Analytiker, Kommentator und Promoter eine Art
Günther Netzer der deutschen Chinaschach-Szene ist.
Schach und Hype am Hof zu Peking
Die
Schulpartie von Meister Do T. Ha hat klargemacht: Im Xiangqi siegt derjenige
Spieler, der auf dem Brett äußerst beweglich operiert - und dann genau die
Punkte attackiert, an die Verteidigungsverbände des Gegners nicht mehr
rechtzeitig herankommen.
Sun Tsu
beschreibt das Prinzip sehr plastisch: "Der geschickte Angreifer fährt aus den
höchsten Höhen des Himmels hernieder, denn so macht er es dem Feind unmöglich,
sich gegen ihn zu wappnen." Aus diesem Grund müsse derjenige, "der in die
Offensive geht, genau die Stellen angreifen, die der Feind nicht verteidigen
kann" (Kunst des Krieges, S. 54).
Wie das
funktioniert, können wir bereits an einer der ältesten überlieferten Partien
studieren. Das historische Duell, das David H. Li in seinem Buch "Xiangqi
Syllabus on Cannon" (Bethesda Maryland, USA 1998) auf den S. 40 ff. ausführlich
kommentiert, stammt aus der frühen Sung-Dynastie zwischen 960 und 1126 nach
Christus.
Mit dem
eingangs gewürdigten Kaiser Zhao Kuang Yin, dem Gründungsvater der
Sung-Dynastie, brach nämlich am Hof zu Peking ein regelrechter Xiangqi-Hype aus.
Dort arbeiteten nun richtige Profis des Denksports: Die standen im Rang von
Offizieren, sollten aber nicht ins Feld ziehen, sondern bloß symbolische
Schlachten am virtuellen Huanghe schlagen. Die Aufgabe dieser Xiangqi-Meister
bestand ausschließlich darin, mit den weiblichen und männlichen Mitgliedern des
Hofes Schach zu spielen. Das nachfolgende Duell ist ausgetragen worden zwischen
einem Xiangqi-Studenten aus dem Hochadel (Rot) und seinem Tutor (Schwarz).
Weiß: Xiangqi-Student
(Mitglied des kaiserlichen
Hofes zur Zeit der frühen Sung-Dynastie),
Peking/China
Schwarz: Tutor, Peking/China
China,
zwischen 960 und 1126 nach Christus.
Spiegelbildliche Mittelkanonen-Eröffnung - Xiangqi à la Russie
1.Che3
Che8 2.Hg3 Hg8
Anders als
im soeben analysierten Match Do T. Ha vs.
A.Grzeschniok sehen wir hier, nach dem klassischen Muster der
Spiegelbildlichen Mittelkanonen-Eröffnung,
bereits vor über 1000 Jahren auf dem Xiangqi-Brett die Grundidee der russischen
Verteidigung vorweggenommen.
3.Rh1 Hc8
Sehr
empfehlenswert: Der Nachziehende deckt den
Pe7 ein zweites Mal - mit der
zweiten Kavallerieeinheit vom rechten Flügel. Das ist der flexible,
aber wenigstens halbwegs feste
Pferdeschutzwall - so fest eben, wie das in den lockeren und offenen
Strukturen des Chinaschachs annähernd möglich ist.
4.Rh7 ...
Im
ungestümen Stil der Zeit: Weiß lässt den Wagen sofort durch die Furt preschen
und auf dem gegenüberliegenden Ufer den
schwarzen Soldaten g7 angreifen
4.
... c6!
Der Tutor
verschwendet gar nicht erst wertvolle Zeit mit dem ohnehin sinnlosen Versuch,
die unhaltbare Infanteriestellung g7
irgendwie verteidigen zu wollen. Stattdessen bereitet er einen
Reiter-Gegenstoß vor ...
5.Rxg7 Hd6
... nun
trabt die schwarze Schwadron an - und scharrt schon mit den Hufen am Huanghe.
6.Rg6? ...
Rot glaubt
einen Doppelangriff zu sehen - auf den
Rappen d6 und den dahinter stehenden ungedeckten
Pawn c6. Den Bauern will der
Anziehende auch noch abräumen - aber im Xiangqi, wo schon der geringste
Zeitverlust ein Match kippen kann, ist das noch riskanter als im Internationalen
Schach.
6.
... Hf5!
Ein
typischer taktischer Schlag, der eine Spezialität des Xiangqi ist: Mit
Tempogewinn kommt Schwarz seinem Ziel c2
näher - indem sich der Mustang des Nachziehenden drohend vor
Red Horse g3 aufbäumt. Wieder einmal
mehr wegen der oft überraschenden Auswirkung der Regel, dass Xiangqi-Pferde, im
Gegensatz zu Western Chess-Knights, nicht über Hindernisse setzern dürfen (was
ja auch, ein Fall von vielen, der Frankfurter
A.Grzeschniok als Schwarzer gegen
Do T. Ha in
Wiesbaden/Germany 2003 verkannt hat), sondern auf der
typischen ersten Station des Rösselsprunges blockiert werden können, attackiert
Black Horse f5 am Hof zu Peking/10.
Jahrhundert den roten Widerpart
auf g3. Während die Schwadron des Anziehenden durch deren
eigenen Soldatenhaufen auf g4 daran
gehindert wird, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Deswegen:
7.g5? ...
... das
rechte rote Pferd will
retournieren. Trotzdem hat sich der Xiangqi-Schüler mit
7.g5? ... selber ausgetrickst - weil
der Soldatenvorstoß dem exponierten ChaRiot
g6 eine rückwärtige Absetzbebewegung verbaut. Das nutzt der Tutor
sofort aus:
7.
... Ei8!
Der
linke schwarze Elefant bricht aus
seinem Versteck, stampft trompetend gegen
den roten Wagen g6. Dem bleibt nur noch ein einziges Fluchtfeld -
denn die Abwicklung 8.Hxf5?? Exg6 9.gxg6 ...
wäre ein Verlustgeschäft für den Anziehenden: wegen des
überragenden Kampfwertes eines ChaRiots.
8.Rxc6 ...
Wahrscheinlich ist der jugendliche Gegner des verehrten Xiangqi-Lehrmeisters an
dieser Stelle noch frohen Mutes gewesen: Der Turm scheint zu entkommen - und
walzt gleichzeitig die schwarze Infanterie nieder ...
8.
... Hd4!
... aber
der Tutor zerstört die letzten Illusionen:
Black Horse d4 setzt mit einem Doppelangriff auf den
roten Wagen c6 und den
entscheidenden Punkt c2 zur
Exekution an. Sehr hübsch und lehrreich ist dabei die
Route, die der verwegene Reitertrupp
bisher zurückgelegt hat: vom Startpunkt b0
über c8 und dann
d6
zuerst der Ausfall nach links - mit 6.
... Hf5! -, im
Anschluss dann die elegante Wendung nach
rechts, nämlich 8. ... Hd4!.
Die Final Destination glänzt
schon verlockend im Licht der aufgehenden Sonne: das ewige Schicksalsfeld
c2.
Eine siegreiche
Operation, die an vergleichbare taktische Schläge im FIDE-Schach erinnert. Siehe
die folgende Stellung nach dem neunten Zug von Schwarz -
9. ... Sd4! - in einer
5-Minuten-Blitzpartie Ulrich W. Schmidt vs.
Dr. René Gralla vom 19. September 2003 in Hamburg
Gepanzerte
Reiter donnern heran, um mit einer Gabelattacke sowohl den
weißen Monarchen e1 als auch
den Turm a1 auf's Korn nehmen - nach
1.e4 e5 2.f4 Lc5 3.Sf3 d6 4.Lc4 Sc6
5.Sg5!?!? Sh6 6.Dh5!? Lg4!?!? 7.Lxf7+ Ke7?!? 8.Dh4(!) Kd7(!) 9.Lc4? Sd4(!).
Das ist erfolgreich - im Xiangqi gleichermaßen wie im Internationalen Schach.
Während
der fernen Tage der Sung-Dynastie hat der Anziehende nun keine Wahl mehr: Da
sein Kampfwagen c6 en prise
steht, muss er reagieren:
9.Rd6
...
Worauf
der Knock-out
folgt:
9.
... Hc2+
Hossa!
Und das Manuskript
aus der Sung-Ära schließt mit den dürren Worten: "Schwarz gewinnt den Wagen."
Das Spiel ist aus. 0 : 1
.
Wie im
Xiangqi, so hat auch in der Western Chess-Begegnung Ulrich W. Schmidt vs. Dr.
René Gralla (5-Minuten-Blitz, Hamburg 2003) ein entschlossener Pferdevorstoß auf
den heiklen Punkt c2 das Match
entschieden: nach 10.fxe5?? Sxc2+.
Ort des
erstaunlichen Geschehens: wieder einmal mehr
der Treff für alle unkonventionellen Intellektuellen in
der norddeutschen Hafenstadt Hamburg - das Schach-, Backgammon- und Xiangqi-Café
"Zumir".
Weiß: Ulrich W. Schmidt, Hamburg/Germany
Schwarz: Dr. René Gralla, Hamburg/Germany
Königsgambit
1.e4 e5 2.f4 Lc5
3.Sf3 d6 4.Lc4 Sc6
5.Sg5!?!? ...
Blitzkrieg-Stil: Weiß will den Nachziehenden überrennen.
5.
... Sh6 6.Dh5 !? Lg4!?!?
Schwarz
möchte Verwirrung stiften.
7.Lxf7+ Ke7?!?
Jetzt
hängen die Angriffsverbände des Anziehenden peinlich in der Luft. Besser
trotzdem: gleich 7. ... Kd7! 8.Dh4 Sxf7.
8.Dh4 (!) ...
Aber auch
Ulrich W. Schmidt, ein großer Experte des Königsgambits, ist sehr kreativ:
8. Se6??? ... verliert natürlich
wegen simpel 8. ... Lxe6.
8. ... Kd7(!)
Droht
verheerend 9. ... Tf8 bzw. 9. ... Sd4
.
9.Lc4? ...
Eine
typische Antwort beim Rapid Chess - sieht logisch aus, weil eine potenzielle
Bedrohung beseitigt wird, und wird deswegen fast ohne weiteres Nachdenken
gezogen. Trotzdem hätte Weiß besser 9.h3
... versuchen sollen.
9.
... Sd4(!)
Der
Xiangqi-Tutor aus der Sung-Dynastie
hat vor rund 1000 Jahren für diesen Vorstoß
acht Züge benötigt - 8. ... Hd4!
- (siehe die Partie oben) -; in der
Parallel-Begegnung nach den FIDE-Regeln ist gerade mal ein Schlagwechsel mehr
benötigt worden.
10.fxe5?? ...
Weiß hätte
nun jetzt wirklich auf Verteidigung umschalten müssen.
10. ... Sxc2+
Im Geist
der Sung-Meister - Schwarz macht Beute erst
auf c2 und dann in der Ecke auf
a1. Die Ähnlichkeit der korrespondierenden
Pferde-Manöver ist verblüffend. Mit einem Unterschied: Da das Xiangqi-Terrain
mit seinen 90 Wegkreuzen um beinahe 30 Prozent größer ist als das
64-Felder-Brett, benötigt der Rappen des
Sung-Tutors fünf Züge, bis er es von
seinem Ausgangsfeld nach c2 geschafft hat - während im
Internationalen Schach für die Route Sb8-c6-d4xc2 bloß
knappe drei Rösselsprünge ausreichen.
11.Kf1 Tf8+ 12.Lf7
...
Rien ne va plus.
12. ...
Txf7+
White King
steht nackt und bloß im Fadenkreuz: aus den
schwarzen Läufern c5 & g4 und dem
Turm f7.
13. Aufgabe 0:1.
Panik in den Pferdeställen
Die Punkte
c2 und g2 (Rot) respektive c9 und g9 (Schwarz) sind im Xiangqi sehr volatil.
Höchste Gefahr droht, wenn fremde Reisige heranklirren und sich dort "in den
Pferdeställen" festsetzen. Wovor die Weisen zu allen Zeiten dringend warnen.
Dann kann
sogar eine verlorene Schwadron zum tödlichen Schlag gegen den feindlichen König
ausholen. Dazu ein exemplarischer Fall aus der Amateurpraxis, gespielt am 15.
September 2003 während eines Trainingsmatches im Hamburger Schach-Café "Zumir".
Rot: Daniel Koll, Hamburg/Germany
Schwarz: Dr. René Gralla, Hamburg/Germany
Nach zähem
Ringen hat der Nachziehende gegen Rot eine Stellung aufgebaut, die wie ein
riesiger, das gesamte Brett umfassender schwarzer Angriffskeil aussieht
Rot findet
sich vom vorgeschobenen Black Horse e4
belästigt. Er versucht, den Gaul zu vertreiben oder abzutauschen ...
1.Hbc3 ...
... und
Schwarz reagiert, indem er tollkühn die Infanterie im mittleren Frontabschnitt
durch den Huanghe waten lässt:
1.
... e4?!?!
Jetzt
befragt Daniel Koll sehr unangenehm die
Deckung des Bauern e5 :
2.g5! ...
Plötzlich
hat der Nachziehende große Sorgen. Er erkennt, dass der
zentrale Fußtrupp e5 plus
Springervorposten auf e4 so lange
wie möglich gehalten werden muss - um für eine Umfassungsbewegung der
Kavalleriestaffel Hg6 gegen den
rechten roten Flügel wertvolle Zeit zu gewinnen:
2.
... c5!?!?
Unterbricht die Anrempelung des Pe5
durch Daniel Kolls ChaRiot b5
- und so gewinnt Zeit, das linke
schwarze Pferd auf eine lange Reise zu schicken ...
3.cxc5 Hi5
Und
vorwärts trabt Lützows wilde verwegene Jagd. Der Nachziehende hat
auf g2 etwas erspäht - aber leider
liegt das Traumziel noch in weiter Ferne ...
4.g6?!? ...
Der
Anziehende ahnt nichts - und möchte seinerseits Verwicklungen provozieren. Wobei
der Zweck allerdings verborgen bleibt ...
4.
... Hh3
Der rote Landmann g6 ist unwichtig. Schwarz nutzt das geschenkte
Tempo viel lieber aus, um dem Gaul i5
kräftig die Sporen zu geben.
5.g7? ...
Ein
seltsames Soldatenopfer, das bereits verliert. Aber nicht einmal deswegen, weil
diese Einheit mit 5.g7? ...
sinnlos verheizt wird - , sondern aus ganz anderen Gründen:
5.
... Hf4!
Schon der
Gewinnzug. Der Nachziehende droht 6. ... Hg2#.
Das kann Rot allein durch Wegzug des He2
verhindern, um für den bedrohten
König e1 das
Schlupfloch e2 zu schaffen. Nach Verlegung
der Schwadron e2 wird aber die
Deckung von Red Horse c3
aufgegeben - und danach kann der Anziehende die Niederlage auch nicht mehr lange
hinauszögern. Wenn nämlich 6.Hg1 ...
( 6.Hg3 ... macht keinen
Unterschied), dann: 6. ... Hg2+ , 7.Ke2
Hxc3+ 8.K beliebig Hxb5 und gewinnt.
6.Rb7 ...
Symbolische Querung des Huanghe als letzte heroische Geste - oder hat Rot etwa
geglaubt, den Turm b5
tatsächlich noch retten zu können?!
6. ... Hg2# 0
: 1
(Diagramm)
Auch das verspätete
6.Hxe4 ... hätte nicht mehr
geholfen. Dann wäre ebenfalls
6. ... Hg2!# gefolgt. Sehr anschaulich ist der kurvenreiche Weg,
den der schwarze Hengst g6 via
i5,
dann weiter über h3
und f4 bis nach
g2 zurückgelegt hat.
Im soeben
gesehenen Xiangqi-Wettkampf nimmt ein solitärer Reiter, der unter dem Banner des
Nachziehenden, aber ohne zusätzliche Hilfstruppen operiert, per Handstreich die
rechte rote Flanke - die dem Königsflügel im FIDE-Schach entspricht. Und besetzt
brutal den Xiangqi-Punkt g2 -
der dem Feld f2 im Western Chess
korrespondiert.
Eine
Konstellation, die sich auf dem 64-Felder-Brett tatsächlich bereits vor mehr als
350 Jahren ergeben hat. Und zwar als Höhepunkt einer Partie, die Gioacchino
Greco (1600 - 1634), der brillante Kopf der damals herrschenden Italienischen
Schule, in seinen Aufzeichnungen hinterließ.
(Diagramm)
Gerade hat Schwarz
die Dame geopfert - mit 17. ... Dg3-e1+!!
18.Sf3xe1 ... - , das ist der Schlussakkord mit Paukenschlag
gewesen: 18. ... Sd3-f2#. Eine
Position, die Garri Kasparow als "Meilenstein in der Geschichte" würdigt: in
seinem neuen Buch "Meine großen Vorkämpfer" (Band 1; Edition Olms, Hombrechtikon/Zürich
2003) auf S. 15.
Der
jüngsten Kasparow-Edition entnehmen wir auch die gesamte Partie, die vor mehr
als drei Jahrhunderten eine derart kuriose Parallele zu einem modernen
Xiangqi-Match produziert hat.
Weiß: N. N.
Schwarz: Gioacchino Greco
Italien,
im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts.
Königsgambit
1.e4 e5 2.f4 f5?!
Typisch
für den Hasard-Stil der Epoche.
3.exf5 Dh4+ 4.g3
De7 5.Dh5+?! ...
In seinem
neuen Buch "Meine großen Vorkämpfer" (Zürich 2003) empfiehlt Garri Kasparow auf
S. 15 als Alternative 5.fxe5! Dxe5+ 6.De2
... .
5. ... Kd8 6.fxe5
Dxe5+ 7.Le2 ...
Garri
Kasparow regt 7.De2! Dxf5 8.Lh3 ...
an.
7.
... Sf6 8.Df3 d5 9.g4? h5! 10.h3? hxg4 11.hxg4
Txh1 12.Dxh1 Dg3+ 13.Kd1 Sxg4 14.Dxd5+ Ld7 15.Sf3 Sf2+ 16.Ke1 Sd3++ 17.Kd1
De1+!!
18.Sxe1 Sf2# 0 : 1
Vergleicht
man die beiden Endstellungen - einerseits
D.Koll vs. Dr.R.Gralla (Xiangqi) und andererseits
N.N. vs. G.Greco (Internationales
Schach) - , dann sind die Parallelen in der Tat verblüffend. Damals - im ersten
Drittel des 17. Jahrhunderts - wie heute ist es ein schwarzer Husar, der den
König des Anziehenden in der Mitte des Brettes erwischt. Und auch die beiden
Drehkreuze der jeweiligen Aktionen sind fast identisch: beim Chess
der Shaolin ist das der Punkt g2, im
orthodoxen Schach das Feld f2 .
Daher
unbedingt merken: niemals die Pferdeställe unbeaufsichtigt lassen - weder im
Xiangqi noch im Internationalen Schach! Und wenn
das Malheur doch einmal passiert sein sollte, dann hilft nur eins: gleich wieder
ran ans Xiangqi-Brett setzen und üben, üben, üben. Aber in diesem Fall
ausnahmsweise mal zwecks Stressabbau mit einem besonderen Set: der Edition
"Liqueur Chinese Chess" aus
Singapore.
Das ist
eine Kreation aus Südostasien, die ansonsten eher untypisch ist für Schach - mit
ihr vergehen nämlich alle Sorgen, je weiter die Partie voranschreitet (siehe
dazu die Homepage des Herstellers:
www.liqueurchess.com/chinesechess.htm).
Wie das
funktioniert? Zu diesem Xiangqi-Package gehören Figuren, die aus Terrakotta oder
Porzellan bestehen - und die innen hohl sind: um mit geistigen Getränken nach
Wahl gefüllt zu werden.
So können
sich die Kombattanten dann Zug um Zug in einen wahren Rausch kombinieren -
buchstäblich. Und sich den weisen Lehrern nahe fühlen - wie dem unsterblichen
Meister Chen Tuan. Deswegen
noch einmal: ein Toast auf den Taoisten. Nach Art der Chinesen:
Gan
bei! Prost!
Folgt: Teil III "Hallo, Dr. Robert - in Asien wartet das Glück auf Dich!"