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Kampf dem Alzheimer - mit Chinaschach?!
Von Dr. René Gralla
Als Radiologe arbeitet er an einem Krankenhaus in Lingen. Gleichzeitig ist Dr.
Michael Nägler (48) Meister der Mentalen Martial Arts: Mit fünf Titelgewinnen
ist er Rekordmeister der Republik im Xiangqi, dem besonderen Schach der
Chinesen. Nebenbei organisiert der vielseitige Doc die internationale
Verbreitung des spannenden Brettsports aus dem einstigen Reich der Mitte: Dr.
Nägler ist Präsident des Deutschen Xiangqi-Bundes (DXB) und Vizepräsident der
Europäischen Xiangqi-Federation (EXF).
Die EXF will 2005 zusammen mit der Welt-Xiangqi-Federation (WXF) eine neue
Medienoffensive starten; denn in diesem Jahr findet die WM im rasanten Kung
Fu-Schach aus Fernost erstmals außerhalb Asiens statt - und zwar vom 31. Juli
bis zum 6. August in Paris. Auch Dr. Nägler wird dabei sein; er hat sich bereits
für das schwarz-rot-goldene Team qualifiziert.
Da bis zu 10 Tickets nach Paris zu vergeben sind, haben bisher unentdeckte
Talente im Xiangqi noch eine letzte (wenigstens theoretische) Chance, in die
Nationalauswahl berufen zu werden. Der Last Minute-Countdown startet am dritten
Maiwochenende in Hamburg: wenn am 21.05.2005 um 13 Uhr in der Volkshochschule
Farmsen am Berner Heerweg das letzte Punktspielwochenende der Xiangqi-Bundesliga
angepfiffen wird.
Wie Kurzentschlossene da noch auf den letzten Drücker einsteigen können, das hat
sich der Journalist und Chinaschach-Autor Dr. René Gralla von Dr. Michael Nägler
erklären lassen. Und nebenbei viele andere interessante Dinge über Xiangqi, das
„Feng Shui für den Geist“, erfahren.
Wie sind Sie Chinaschach-Experte geworden?
Ursprünglich war ich Turnierschachspieler im europäischen Schach. Während einer
Vortragsveranstaltung vor meinem ersten Besuch in der Volksrepublik 1988 hörte
ich zufällig von diesem Spiel. Als ich anschließend in China unterwegs gewesen
bin, sprach ich die lokalen Reiseleiter darauf an; so habe ich das Xiangqi
kennengelernt.
Foto: Dr. René Gralla
Und nach der Rückkehr in die Heimat haben Sie Gleichgesinnte gesucht und den
Deutschen Xiangqi-Bund angeschoben.
Zu Hause war es natürlich anfänglich mühsam, Spielpartner zu finden. Da mussten
schon Zufälle nachhelfen, bis sich zwei Xiangqi-Gruppen formiert hatten, die
eine in Berlin und die andere in Hamburg; seinerzeit lebte ich noch in
Schleswig-Holstein, 70 Kilometer von der Hansestadt entfernt. 1989 gehörte ich
dann zu den Gründungsmitgliedern des DXB. Da sind wir noch ein ganz kleiner
Kreis gewesen, das waren bundesweit nicht einmal zwanzig Leute.
Und heute?
Die Rankingliste des DXB registriert 100 Aktive, die mit unterschiedlicher
Häufigkeit an Turnieren teilnehmen.
Und wenn Sie die passiven Mitglieder dazuzählen …
… kommt man vielleicht auf 150; das ist allerdings eine recht optimistische
Annahme.
Noch agieren Sie also in kleinem Rahmen, aber das wird sich vielleicht bald
ändern. China boomt, die Medien sind voll davon. Viele Manager fliegen
regelmäßig nach Fernost, beherrschen aber nur selten die Sprache. Da könnte das
Xiangqi wie ein Türöffner funktionieren - um den ersten Zugang zu den
chinesischen Gesprächspartnern zu erleichtern.
Das ist eine Erfahrung, die ich bei Chinareisen immer gemacht habe. Die Chinesen
finden es hoch interessant, wenn sie erfahren, dass ein Ausländer das Xiangqi
kennt; und das wird wohlwollend bewertet, weil Xiangqi schließlich zur
chinesischen Kultur gehört.
Foto: Christoph Harder
Nun gibt es freilich ein grundsätzliches Problem mit dem Xiangqi. Das
hierzulande übliche Schach ist schon schwierig; warum also zusätzlich noch die
komplizierte chinesische Version lernen? Die teilweise andere Spielsteine
benutzt, zum Beispiel die Kanone.
Für Leute, die vom europäischen Schach kommen, ist das in Wahrheit aber leicht,
weil die Grundprinzipien des Spiels gleich sind: Der Gegner muss matt gesetzt
werden. Und auch von den unterschiedlichen Figuren - das Xiangqi verwendet
flache Scheiben mit chinesischen Schriftzeichen - sollte sich niemand
abschrecken lassen; das hat man spätestens innerhalb eines Tages drauf. Schwerer
fällt das Menschen, die sich vorher noch nie mit strategischen Spielen
beschäftigt haben; denn die müssen sich zuerst einmal in die Grundidee des
Xiangqi hineindenken.
Eine Mühe, die sich aber noch aus einem anderen Grund lohnen kann. Per Gesetz
sollen die Bundesbürger zur Gesundheitsvorsorge verpflichtet werden. Nun haben
Studien nachgewiesen, dass jemand, der sich regelmäßig mit Schach beschäftigt,
sein Alzheimer-Risiko um bis zu 70 Prozent reduziert. Gleichzeitig kennen wir
alle die Bilder rüstiger Asiaten, die morgens im Park Schattenboxen trainieren;
die Chinesen scheinen also länger drahtig und frisch zu bleiben, während viele
unserer Rentner mühsam an Stützwägelchen geklammert durch die Straßen schieben.
Und dazu pflegen die Chinesen noch ihr besonderes Schach: Wahrscheinlich wirkt
das Xiangqi wie „Feng Shui“ für den Geist?!
Ja gut, das ist allerdings unabhängig vom Herkunftsland; und das muss auch nicht
unbedingt Schach sein, das können auch vergleichbare Spiele sein. Mit
Prozentangaben bin ich vorsichtig, aber die Tatsache ist unbestritten, dass
derjenige, der seinen Geist mit etwas komplizierteren strategischen Erwägungen
fit hält, das Alzheimer-Risiko senkt.
Sie, Herr Dr. Nägler, sind von 1993, als sich die Welt-Chinaschach-Federation
in Peking konstituiert hat, bis 2001 einer von acht Vizepräsidenten der WXF
gewesen. Der Weltschachbund FIDE ist bereits 1924 gegründet worden; warum haben
die Chinesen erst so viel später nachgezogen?
Das erklärt sich vor allem aus der Kulturgeschichte des Landes. Das Xiangqi war
und ist ein Spiel des Volkes; deswegen haben sich Beamtenadel und höhere Kreise
von diesem Zeitvertreib der Massen lange fern gehalten. Heute ist das natürlich
anders, der Staat fördert intensiv sowohl westliches Schach als auch Xiangqi.
Trotzdem hat den Chinesen eine offensive Haltung dazu gefehlt, das Xiangqi auch
international zu verbreiten.
2005 nun die Wende: Zum ersten Mal wird eine Weltmeisterschaft außerhalb Asiens
ausgerichtet, und zwar ab 31. Juli in Paris.
Das ist zweifellos ein ungewöhnlicher Schritt. Wobei Sie aber berücksichtigen
müssen, dass der Spielort im 13. Arrondissement liegt; und das ist eine Art
Asia-Town, nur eben in Paris.
Hier möchte jeder gerne Kung-Fu-Schach-Champ werden: Hotel Chinagora in Paris
Also quasi erneut ein chinesisches Heimspiel. Sie, Herr Dr. Nägler, sind
bereits für die deutsche Auswahl qualifiziert; der Rest der Nationalmannschaft
wird nach der deutschen Meisterschaft voraussichtlich am ersten Juliwochenende
in Magdeburg nominiert. Bei der Xiangqi-WM gibt es doppelte Wertungen: als Team
und als Einzelspieler. Fünfmal sind Sie schon bei Weltmeisterschaften dabei
gewesen; was ist Ihr persönliches Ziel für Paris 2005?
Erstens möchte ich 50 Prozent der Punkte aus meinen Partien holen; damit würde
ich auf einem Platz zwischen 30 und 40 landen, unter maximal 100 Teilnehmern.
Das wäre schon ein Riesenerfolg. Zweitens gibt es eine Sonderwertung für
WM-Kandidaten, die weder Chinesen noch Vietnamesen sind, und ich will möglichst
weit oben mitmischen. Wie 1997 in Hongkong, als ich in dieser Gruppe Sechster
geworden bin - was übrigens nach den aktuell gültigen Regeln Platz 2 gewesen
wäre. 1997 gab es nämlich, parallel zum allgemeinen WM-Lauf, ein spezielles
Klassement für Chinesen einerseits und für alle Nicht-Chinesen andererseits.
Zwischenzeitig werden aber auch die Vietnamesen, jedenfalls was das Xiangqi
angeht, den Chinesen zugeschlagen; denn der Leistungsunterschied zwischen der
Delegation aus Hanoi und dem Rest der Welt ist ähnlich deutlich wie der Abstand
zu den übermächtigen Chinesen.
In der Mannschaftswertung landete Deutschland bei der letzten WM 2003 in
Hongkong auf dem letzten Platz.
Das war tatsächlich unglücklich. Allerdings müssen Sie berücksichtigen, dass wir
- neben Japan - das einzige Team waren, das keine Auslandschinesen aufgeboten
hat.
Und prompt haben Sie die rote Laterne gekriegt. Das Ziel für Paris?
Auf jeden Fall besser als 2003! Das war das erste Mal, dass wir Letzter geworden
sind; und das ist ein klarer Ansporn, dass sich das nicht wiederholt. Wenigstens
wollen wir an den Japanern vorbeikommen - und vielleicht können wir weiter auch
mit ein bisschen Fortune noch den einen oder anderen schwächeren Verband aus
Asien überholen. Oder eine der Mannschaften aus Nordamerika.
Hat jemand, der diesen Artikel liest, noch eine Chance, in die deutsche
WM-Auswahl berufen zu werden? Normalerweise müsste sich ein Kandidat vorher für
die Endrunde der deutschen Meisterschaft qualifiziert haben; Voraussetzung dafür
sind vordere Plätze an mindestens zwei Bundesligawochenenden. Bis zu zehn
Denkathleten darf Ihr Bundesverband für Paris aufbieten; die sechs
Endrundenteilnehmer der deutschen Meisterschaft in Magdeburg sind also auf jeden
Fall dabei. Was ist aber mit den restlichen vier Plätzen?! Am 21. und 22. Mai
läuft die vierte und letzte Bundesligarunde in Hamburg; da darf jeder starten,
der die Regeln beherrscht und sich vor Ort meldet. Wenn nun in Hamburg ein
bisher unentdecktes Genie durchmarschiert und anschließend noch das
Halbkugeln-Pokalturnier in Magdeburg gewinnt, den offenen parallelen Wettbewerb
zum Finale der Deutschen Meisterschaft - was dann? Kann sich so ein
Überraschungssieger - gesetzt den Fall, es gäbe ihn - noch Hoffnungen auf Paris
machen?!
Eine endgültige Zusage vermag ich nicht abzugeben. Aber auf jeden Fall würde
darüber der Bundesvorstand beraten.
Todesblick von der Bastion der Verbotenen
Stadt
Wer das westliche Schach beherrscht, soll sich schnell in die Welt des Xiangqi
einfinden können; das hat jedenfalls der Meister der Mentalen Martial Arts aus
dem Emsland, der Lingener Wahl-Asiate Dr. Michael Nägler, soeben im Interview
mit dem Autor behauptet.
Eine ziemliche gewagte Behauptung, wenn man sich ein Originalbrett aus China
aussieht; denn das ist ein Gitternetz, auf dem runde Plättchen platziert werden,
die seltsame Zeichen tragen.
Der Sache kommen wir allerdings etwas näher, wenn wir die Xiangqi-Steine durch
jeweils die diejenigen Staunton-Figuren ersetzen, die ihren fernöstlichen
Gegenstücken korrespondieren.
Foto: Christoph Harder
Und diese Metamorphose macht deutlich: Die Xiangqi-Einheiten scheinen mit den
westlichen Schachsoldaten verwandt; allein auf den Schnittpunkten b3/h3 bzw.
h3/h8 findet sich eine bisher unbekannte Waffengattung - das sind die bereits
erwähnten Kanonen des Chinaschachs. Daher lassen sich Xiangqi-Diagramme auch
mühelos in eine westliche Optik transponieren.
Ein kursorischer Überblick über die Regeln des Xiangqi macht deren Nähe zum
westlichen Schach erst recht deutlich. Gewöhnungsbedürftig ist allein die
Tatsache, dass die Figuren nicht über die Felder des Brettes gespielt werden,
sondern auf den Schnittpunkten der Linien, Reihen und Diagonalen, die das
Gitternetz des Xiangqi bilden, manövrieren. Dadurch ist die Operationsfläche im
Chinaschach - mit 90 verschiedenen Positionen - um beinahe 30 Prozent größer als
das Areal des international üblichen Königlichen Spiels.
Zu beachten sind vorab bereits zwei weitere Charakteristika des Xiangqi. Das
Brett wird mittig geteilt durch einen Streifen; das ist der Grenzfluss Huanghe.
Foto: Christoph Harder
Der Strom kann an neun Furten überschritten werden, allerdings nur von
denjenigen Einheiten, die dafür ausgerüstet sind (sprich: denen das nach den
Regeln gestattet ist). Die Furten lassen sich lokalisieren zwischen a5 und a6,
b5 und b6, c5 und c6, d5 und d6, e5 und e6, f5 und f6, g5 und g6, h5 und h6 und
i5 und i6.
Auffällig sind ferner zwei zentrale Sonderzonen, die ein Diagonalkreuz von der
Umgebung heraushebt: Das sind die zwei Paläste, das rote Hauptquartier mit den
Koordinaten d1/d2/d3 & e1/e2/e3 & f1/f2/f3 sowie das schwarze HQ auf d8/d9/d0 &
e8/e9/e0 & f8/f9/f0.
Rot (auch Süd genannt) eröffnet - insofern vergleichbar mit Weiß im FIDE-Schach
- die Partie und tritt gegen Schwarz (das heißt, Nord) an. In vorderster Front -
auf a4/c4/e4/g4/i4 (Rot) beziehungsweise a6/c6/e6/g6/i6 (Schwarz) machen sich
die zweimal fünf Soldaten zum Angriff bereit. Sie korrespondieren - wenn auch
geringer an Zahl - den westlichen Schachbauern und werden folglich nachfolgend
mit "B*" abgekürzt.
Xiangqi-Soldaten ziehen pro Schlagwechsel jeweils einen Schnittpunkt vorwärts
und niemals zurück; sobald sie jedoch durch den Gelben Fluss gewatet sind,
dürfen die Infanteristen auch in beide Richtungen nach links und rechts
austeilen.
Andererseits kennt das Xiangqi keine Promotion; ist ein Infanterist bis zur
feindlichen Grundlinie vorgestoßen, wird er - anders als im westlichen Schach -
nicht befördert, sondern darf nur auf der Laterale Nr. 0 (Rot) beziehungsweise
Nr. 1 (Schwarz) hin und herziehen.
Quasi deckungsgleich mit den international gebräuchlichen Türmen sind die zwei
Schwerfiguren auf den Positionen a1/i1 (Süd) und a0/i0 Nord); das sind die
zweimal zwei Wagen - Abk. "T" - , die genauso ziehen ihre westlichen Duplikate.
Auch die zweimal zwei Pferde auf b1/h1 und b0/h0 - Abk.: "S*" - attackieren wie
Springer in Rösselsprungmanier.
Foto: Christoph Harder
Allerdings mit einer Einschränkung: Xiangqi-Gäule können nicht springen. Falls
nämlich der jeweils direkt vor Schimmel oder Rappen liegende Schnittpunkt -
bezogen auf die Fortbewegungsrichtung, die von der Schwadron gewählt werden soll
- von einem eigenen oder fremden Stein besetzt gehalten wird, ist das Pferd
blockiert (und muss sich gegebenenfalls einen Umweg suchen).
Anders als die westlichen Schacharmeen können die Xiangqi-Generäle auch
Geschütze - Abk.: "G" - ins Feld führen. Die Kanonen ziehen, wenn sie nicht
schlagen, wie die "Turm"-Wagen. Soll die Artillerie jedoch einen feindlichen
Stein ausschalten, benötigt sie dafür eine so genannte "Rampe": Das ist eine
beliebige Figur von eigener oder fremder Farbe, die sich an irgendeinem Wegkreuz
- Abstand zur Kanone und zum Zielobjekt unerheblich - zwischen Haubitze und dem
Stein, auf den das Feuer eröffnet werden soll, befinden muss. Wird die
anvisierte Einheit durch Eingreifen der Kanone pulverisiert, setzt sich die
Kanone über die Rampe - die ballistische Kurve der Geschossflugbahn nachbildend
- hinweg und fliegt auf die eroberte Position ein; so dass cineastisch Gebildete
mit den Bildern verschiedener Vietnamfilme im Kopf sofort an die Gunships der
US-Cavalry denken werden.
Wagen, Pferde und Soldaten können an neun Furten (siehe oben) den Huanghe
überschreiten, nicht jedoch die Elefanten, Mandarine und Könige. Die zweimal
zwei Elefanten dürfen allein bis zum Flussufer stampfen; als Rückgrat der Miliz
- das ist der reale historische Hintergrund für diese reinen
Heimatschutz-Verbände - bewachen sie nämlich die Positionen, wo der Gegner gerne
Brückenköpfe bilden würde, um weiter vorzurücken auf den Palast des Feindes.
Die Rüsseltiere - auf c1/g1 respektive c0/g0 - sind, zumal optisch ähnlich
postiert, die Vorgänger der westlichen Läufer, weil auch sie sich auch über die
Schrägen fortbewegen. Allerdings zieht ein Elefant - Abk.: "L*" - von dem Punkt,
auf dem er sich gerade befindet, diagonal nur bis zum übernächsten Wegkreuz. Ist
auf der gewählten Schräge die Position zwischen Start und Ziel von einem anderen
oder fremden Stein besetzt, ist dem Dickhäuter dieser Weg verbaut. Konsequenz:
Die Elefanten der Südarmee können allein die Stellungen a3/c1/c5/e3/g1/g5/i3
erreichen, die wandelnden Kampfgiganten der Nordverbände die Positionen
a8/c6/c0/e8/g6/g0/i8.
Was den König (Rot: auf e1; Schwarz: auf e0) und seine Begleiter - im Xiangqi
sind es statt bloß einer Dame jeweils zwei Mandarine (Rot: d1/f1; Schwarz:
d0/f0) - angeht, so bleiben diese Figuren eingeschlossen im Areal der beiden
Paläste.
Die Herrscher - Abk.: "K*" - schreiten gemessen und zeremoniell allein
horizontal und vertikal und jeweils nur einen Schnittpunkt pro Zug durch ihre
"Verbotene Stadt"; sie dürfen - anders als die Kollegen im FIDE-Chess - nicht
seitwärts ausbrechen, geschweige denn den Palast verlassen. Inspiziert der rote
Monarch gerade die vorgeschobene Eckbastion seiner Festung auf f3 und möchte
sich anschließend zurück begeben ins Zentrum der Macht nach e2, so muss er - in
zwei Zügen - den Umweg f3-e3-e2 oder f3-f2-e2 nehmen; der direkte Zugang schräg
über die Kurzdiagonale f3-e2 ist für den König off limits (und bleibt den
Mandarinen vorbehalten).
Als Kompensation kann ein Oberkommandierender, sofern sich eine Gelegenheit dazu
bietet, eine laserartige Fernwirkung gegen den hochwohllöblichen Widerpart zur
Geltung bringen: Das ist der gefürchtete "Todesblick". Der wirkt sich
folgendermaßen aus: Hat einer der beiden Monarchen eine offene, durch keinen
weiteren Stein in Richtung des feindlichen Generals abgeschirmte Linie besetzt,
ist diese Senkrechte für den gegnerischen Amtsbruder tabu - weil er sich eben
nicht der "Telepotency" des Feindes aussetzen darf.
Die Paladine des Königs müssen ebenso wie ihr Chef in Palast bleiben - und dort
siegen oder untergehen. Die zulässigen Bewegungsrichtungen der Mandarine - Abk.:
"D*" - sind auf dem Brett klar hervorgehoben: Auf den Diagonalkreuzen der
Paläste bewegen sich die Hofschranzen jeweils bloß einen schlappen Schnittpunkt
pro Zug vorwärts oder retour.
Helicopter-Gunships fliegen ein
Ein gelungener Mix aus Tradition und Moderne: Das ist das Chinaschach. Vor allem
die Xiangqi-Artillerie wirkt fast futuristisch; schließlich nimmt sie eine
technologische Entwicklung vorweg, die zu dem Zeitpunkt, als die Kanonen dem
Arsenal hinzugefügt worden sind - nämlich um 840 nach Christus - eigentlich noch
gar nicht bekannt gewesen sein konnte: das Helicopter-Gunship, das seit dem
Dschungelkrieg der Amerikaner am Mekong als moderne fliegende Kavallerie die
Rolle der Husaren von einst übernommen hat.
Schüchterne Elefanten und rennende Hasen
Die verheerende Wirkung dieser fliegenden Festungen, die viele Gefechte zu einem
raschen Abschluss bringt, wird während einer freien Partie, ausgetragen am 23.
April 2003 in Hamburg, schulmäßig demonstriert.
Rot: Dr. René Gralla/Hamburg
Schwarz: Colya Kärcher/Hamburg
Freundschaftsspiel, 23. April 2003, Schach-Café "Zumir", Hamburg/Germany
Elefanten-Eröffnung - Van’t Kruyz im Xiangqi
1.L*ge3 ....
Ein zurückhaltender Auftakt, von dem man sich aber nicht täuschen lassen soll.
Die hier gewählte Elefanten-Eröffnung bietet - was sich im Chinaschach ansonsten
schwer realisieren lässt - die Möglichkeit, eine halbwegs feste Anfangsstellung
aufzubauen, bevor ein Angriff gestartet wird. Folglich ist sie quasi mit einem
Französisch im Anzug - also 1.e3 ... , was im Internationalen Schach auch unter
der Bezeichnung Van't Kruyz-Eröffnung läuft - vergleichbar.
Diese Elephant Opening deckt sich damit mit einer der vielen Weisheiten des Sun
Tsu, dessen Werk wiederum den legendären Erfinder des Xiangqi um 203 vor
Christus, den chinesischen General Hán Xin, inspiriert haben soll.
Sun Tsu, der berühmte chinesische Philosoph und erste Theoretiker der
Militärwissenschaft, gibt in seinem klassischen Werk „Die Kunst des Krieges“ den
folgenden Tipp für einen schlauen Plan: „... zeige zuerst die Schüchternheit
eines Mädchens, bis dein Feind den ersten Zug macht; danach entwickle die
Geschwindigkeit eines rennenden Hasen, und für den Feind wird es zu spät sein,
sich dir zu widersetzen".
1.... Gbc8
Unverzüglich versucht Schwarz auf der rechten Flanke, die rote Armee zu
überrumpeln.
2.S*a3 …
Eine
indirekte Deckung des roten Bauern c4. Wie Cuong Truong, Mastermind des
Chinaschach-Vereins Mannheim und eine Art Günter Netzer der Xiangqi-Szene in
Deutschland, mitgeteilt hat, soll der langjährige inoffizielle chinesische
Weltmeister Hu Rong Hua das gewählte Manöver in vergleichbarer Lage auch schon
mal angewandt haben.
2.... Gxc4?
Schwarz greift zu - weil er jetzt gleich 3... Gxg4 droht; aber: ...
3.Gc3! ...
... das ist die Pointe, die Rot vorbereitet hat.
Stand-off am Dschungelfluss
Als unmittelbare Konsequenz steckt Schwarz in Schwierigkeiten; denn sein rechtes
Gunship c4 wird jetzt einerseits vom linken roten Pferd auf Punkt a3, aufgedeckt
durch 3.Gc3 ... , plötzlich attackiert - während Kärchers eingeflogene Cannon c4
gleichzeitig auf der c-Linie gefesselt ist. Damit nicht genug: zu allem
Überfluss ...
3.... Gxg4??
... übersieht der Nachziehende, dass er nun erst, als Folge des lateralen
Zugriffs der Black Cannon mit 3.... Gxg4??, der fliegenden roten
Artilleriestaffel c3 den rechten schwarzen Elefanten c0 auf einem gigantischen
Silbertablett serviert. Und eine fette Dreingabe gleich mehr ...
4.Gxc0+ ...
... weil Rot die Einladung zum bereits entscheidenden Doppelangriff auf den
schwarzen König e0 und Ta0 natürlich gerne annimmt.
4.... K*e9
Auch der Aufzug des Mandarins 4.D*de9 ... hätte das Schach zwar abgewehrt; aber
der schwarze Wagen a0 wäre trotzdem futsch gewesen.
5.Gxa0 ...
Und nun unterläuft dem Nachziehenden ein Fehler, über den sich niemand mokieren
sollte. Bei der ungeheuren Beweglichkeit der Kanonen - die insofern in Wahrheit
eben viel eher Helicopter-Gunships gleichen - kann leicht übersehen werden, dass
sie vom Start weg in alle Richtungen über das Gefechtsfeld schwirren können ...
5.... Gxa4???
... kann jedem mal passieren ...
6.Gxa4 ...
... Apocalypse now ... 28 Jahre nach Ende des Vietnamkrieges auf dem Brett des
Xiangqi: Nun ist auch noch die rechte schwarze Kanone ausgeschaltet. Der
Materialverlust nach 6.Gxa4 ... ist einfach zu heftig; daher leistet Nord zwar
noch drei Züge weiter Widerstand, stellt dann jedoch das Feuer mit Zug Nr. 9
ein:
9. ... Aufgabe. 1:0
Sturmkommandos, die überraschend aus Süd in die schwarze Basis eingeflogen sind:
Das hat die soeben gesehene Chinaschachpartie entschieden. Dabei ist die Attacke
über die Vertikale Nr. C vorgetragen worden, die insofern deckungsgleich ist mit
der c-Linie auf dem internationalen Schachbrett; und das Einfallstor ist der
Punkt c0 gewesen: eine Position, die im 64-Felder-Quadranten der Position c8
entspricht.
Ein furioses Finale; und obwohl die Hauptakteure dabei jene echt chinesischen
Kanonen waren, die eigentlich gerade keine direkten Gegenstücke in der
westlichen Version des Königlichen Spiels finden, so kann man doch bei genauerem
Hinsehen selbst mit Blick auf diese Eigentümlichkeit des Xiangqi gewisse
Parallelen zu Partien nach den FIDE-Regeln entdecken.
Schließlich ist das fernöstliche Geschütz eine Waffengattung, die in ihrem
Aktionsradius deutliche Anklänge zu gleich zwei Einheiten aus dem westlichen
Schach aufweist: zum Turm - bezogen auf die möglichen Bewegungsrichtungen der
Artillerie - und überraschenderweise auch zum international üblichen Springer;
schließlich kann die chinesische Kanone, anders als das Pferd unter den Fahnen
des Xiangqi, sich gerade dann, wenn sie Bataillone des Gegners treffen will,
über Hindernisse hinwegsetzen - dito das Ross in der schwarz-weißen Arena,
während sich die Kavallerie der Kung Fu-Fighter tragischerweise ausgerechnet in
dem Augenblick festrennt, sobald sie direkt vor dem jeweiligen Ausgangspunkt
eines geplanten Manövers blockiert wird.
Wenn wir also jene fliegende Kavallerie der Südarmee, die in der Begegnung Dr.
R. Gralla versus Colya Krächer das Match am 23. April 2003 in Hamburg via
Überrumpelung entschieden hat, als technologisch verbesserte Reiterei
betrachten, dann ist dem österreichischen FM H. Waller ein knappes Jahr später
nach den FIDE-Regeln ein korrespondierendes Kabinettsstück gelungen; schließlich
hat in beiden Fällen Weiß beziehungsweise Rot die schwarze Verteidigung im
A-C-Sektor überrumpelt (das Match wird ausführlich kommentiert von Heribert
Benesch, Wien, in „Schach-Aktiv“, Ausgabe 3/2004, S. 162/163; weitere Infos zum
Heft unter schach-aktiv@chess.at)
Weiß: FM H. Waller (ELO 2011)
Schwarz: MK K. Patzl (2032)
Wiener Landesmeisterschaft der Senioren 2004
Slawisch
1.d4 d5 2.c4 c6 3.cxd5 cxd5 4.Sc3 Sf6 5.Lf5 e6 6.e3 Ld6 7.Lxd6 Dxd6 8.Sf3 0-0
9.Ld3 b6
H. Benesch merkt alternativ an: 9…. Sc6 10.0-0 …
10.0-0 La6 11.Lxa6 Sxa6
Sieht nach den vorausgegangenen Abtäuschen harmlos aus, aber …
12.Da4! …
… ein heißer Wind fegt heran von Süd.
12…. Sc7 13.Se5 a6 14.Dc6! …
Das Unheil kommt über die c-Linie, in Gestalt von Eliteeinheiten mit großer
Feuerkraft; das erinnert bereits an das Xiangqi-Duell Dr. R. Gralla vs. C.
Kärcher, Hamburg 2003 - nach: 3.Gbc3! Gxg4??.
14…. Tfd8 15.Tfc1 Sfe8 16.Sa4 f6??
H. Benesch schlägt in „Schach-Aktiv“ als möglichen Ausweg vor: 16…. Tab8 17.Tc2
f6 pp..
17.Dxd6 Txd6
Ganz falsch ist 17…. Sxd6? wegen 18.Sc6 … : Nach 18…. Te8 fängt 19.Sxb6 … den
Ta8 und gewinnt die Qualität; noch grausamer wird 18…. Tf8? mit 19.Se7+ Kf7
20.Txc7 … bestraft und Gewinn des Gauls c7; aussichtslos ist auch 18…. Td7 wegen
der Springergabel 19.Sxb6 … .
18.Sc6 a5
Ein Desaster wäre 18…. b5?? 19.Sb6 … .
19.Sxb6 Ta6
Ein trauriges Feld für den Turm.
20.Sc8! …
Die weiße Kavallerie auf c8 - wie die rote Helicopter-Cavalry in Dr.R.Gralla vs.
C. Kärcher (Hamburg 2003) auf der korrespondierenden Xiangqi-Position c0 nach
4.Gxc0+ … .
20…. Td7
Oder 20…. Tdxc6 - und dann: 21.Se7+ Kf7 22.Sxc6 … und erobert die Qualität.
21.Sb8 …
Und noch einmal, weil’s so schön ist: 21…. Td8 22.Sxa6 Sxa6 23.Sb6 … und Weiß
bleibt um die entscheidende Qualität vorne.
Was die unausweichliche Konsequenz nach sich zieht:
1:0.
Wie Heribert Benesch in „Schach-Aktiv“ (3/2004, S.163) süffig notiert: „Keine
leichte Kavallerie von Suppé - ein Wallerschmäh!“
Olé - ob beim Wiener Heurigen oder einem Reisschnaps plus Xiangqi:
Kanonen hin oder her - irgendwie ist eben alles Schach.
Interview: Dr. René Gralla / Hamburg
Infos zur letzten Xiangqi-Bundesligarunde am 21./22. Mai in Hamburg, zur
deutschen Meisterschaft und zum Halbkugeln-Pokal am ersten Juli Wochenende in
Magdeburg und zur WM ab 31. Juli in Paris:
http://private.addcom.de/dxb