Schach und Erinnerung: Ein Interview mit Gedächtnisweltmeister Simon Reinhard

von Johannes Fischer
25.06.2019 – Mit einer DWZ von 2246 ist Simon Reinhard ein starker Amateur. Aber Eröffnungen lernt er wahrscheinlich besser, schneller und effektiver als so mancher Spitzengroßmeister. Denn Reinhard ist mehrfacher Gedächtnisweltmeister und kann sich sehr viele Dinge sehr schnell merken. In einem Interview spricht er über die Kunst des Erinnerns und wie man mit Gedächtnistechniken Eröffnungen, Mittelspiele und Endspiel trainieren kann. | Foto: André Schulz

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Schach und Erinnerung: Ein Interview mit Gedächtnisweltmeister Simon Reinhard

Sehr geehrter Herr Reinhard, Sie sind begeisterter Schachspieler und professioneller Gedächtnissportler. Als Gedächtnissportler wurden Sie mehrfach Weltmeister und Europameister und Sie können sich in einer Minute 92 Ziffern merken, erinnern die Reihenfolge eines gemischten Blatts mit 52 Karten in 21,9 Sekunden und können sich in einer halben Stunde 888 Spielkarten einprägen. Wie macht man das und wie haben Sie das gelernt?

Viel davon basiert auf bestimmten Gedächtnistechniken. Diese Techniken kann jeder lernen. Idealerweise hat man dabei am Anfang Hilfe von jemandem, der sich damit schon etwas auskennt, das macht es leichter. So kann sich jeder mit etwas Einarbeitung wesentlich mehr merken als mit seinem "natürlichen" Gedächtnis. Das müssen dann selbstverständlich nicht nur Ziffern oder Spielkarten sein. Solche haben wir bei Wettkämpfen zur Vereinheitlichung. Besser merken kann man sich mit diesen Techniken aber grundsätzlich jede Art von Information.

Simon Reinhard bei der Gedächtnis-WM 2015 | Foto: Simon Reinhard

Ich hatte mit der ganzen Thematik das erste Mal Kontakt in 2005, noch während meines Studiums. So bin ich auch zum Gedächtnissport gekommen. Mit befreundeten Sportlern hat man sich dann immer wieder ausgetauscht und so die eigenen Techniken verfeinert. Jeder wollte ja den nächsten Rekord knacken, so hat man sich auch gegenseitig angespornt. 

Was hilft dabei mehr: Talent – also mit einem guten Gedächtnis geboren zu werden – oder Fleiß – also das regelmäßige Üben von Mnemotechniken?

Wie überall ist das sicher beides. Fleiß spielt aus meiner Sicht die größere Rolle. Erfolg mit Mnemotechniken ist nicht, wie es reißerisch gern in den Medien dargestellt wird, einer kleinen Gruppe von vermeintlichen "Superhirnen" vorbehalten. Es kann, wie gesagt, jeder lernen und besser werden. Und das macht dann auch sehr viel Spaß, wenn man die eigenen Fortschritte sieht. 

Manchen Menschen sagt man nach, sie hätten ein fotografisches Gedächtnis. Sind das besonders gute und erfolgreiche Gedächtnissportler?

Ein spannendes Thema. Ich habe mich dazu einmal mit einem befreundeten Neurowissenschaftler unterhalten und laut seiner Aussage scheint es so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis im klassischen Sinn (dass also jemand zum Beispiel eine Buchseite nur einmal kurz sieht und sie dann wie ein Foto im Kopf hat und einfach ablesen kann) nicht zu geben, jedenfalls wurde das soweit ich weiß bisher nicht wissenschaftlich belegt. Ausnahmen kann es unter Umständen bei bestimmten Inselbegabungen/Savants geben, was aber leider oft mit Einschränkungen auf anderen kognitiven Gebieten verbunden sein kann. Bei unseren Meisterschaften haben wir jedenfalls unter all den tausenden Teilnehmern weltweit noch nie jemanden gesehen, der ein fotografisches Gedächtnis hat. Das ist auch nicht schlecht, so jemand wäre sicher nicht leicht zu schlagen (lacht). 

Sie haben nicht nur ein gutes Gedächtnis, Sie spielen auch gerne Schach. Hilft das Gedächtnistraining beim Schachspielen? Oder, anders gefragt, wie gut sind Ihre Theoriekenntnisse beim Schachspiel?

Ich liebe Schach und spiele es gerne, wenn ich Zeit habe. Schachstärke besteht aus meiner Sicht aus einer Reihe von Faktoren, die sich ergänzen. Natürlich gehören Positionsverständnis dazu und taktisches Können, Nervenstärke und Zeitmanagement. Das Gedächtnis wird da manchmal, habe ich das Gefühl, etwas verschämt ausgeklammert. Klassisch sind auch Einwände wie "es kommt auf das Verstehen an". Das stimmt natürlich, aber Gedächtnis und Verstehen bedingen einander. Erinnertes muss verstanden, Verstandenes muss erinnert werden. Und oft ist es leider so, dass man eine scharfe Eröffnungsvariante nur begrenzt "verstehen" kann. Und auch sonst hilft bloßes Verstehen nicht beim Erinnern aller Details.

Da Schach aber ein Präzisionssport ist, sind Details oft unerlässlich. Daher ist aus meiner Sicht das Gedächtnis im Schach ein sehr beachtlicher Faktor. Die weltbesten Schachspieler waren immer auch für ihre großen Gedächtnisfähigkeiten bekannt.

Garry Kasparovs Gedächtnis (hier beim Blitzen im ChessBase-Büro) und seine Eröffnungskenntnisse waren legendär. | Foto: Frederic Friedel

Ich wende meine Gedächtnistechniken auch auf das Schachspiel an. Ein offensichtliches Feld ist das Merken von Eröffnungen, aber da hört es nicht auf. Vor Kurzem habe ich zum Spaß einmal 100 Züge Theorie der Najdorf-Variante, also 200 Halbzüge, auf Zeit gelernt. Najdorf spiele ich nicht, daher war das alles neu. Meine Zeit von ca. 20 Minuten lässt sich gewiss noch gut senken, aber immerhin lag die Genauigkeit bei der Abfrage dann bei 99% (ein Zug ist mir entglitten). Auch am Tag darauf saßen alle 200 Halbzüge noch genauso gut, ohne Wiederholung. Heute gehe ich das noch einmal kurz durch, in 10 Minuten, dann sollte das dauerhaft sitzen, auch noch in Wochen und jedenfalls in einer Partie.

Wenn ich mir vorstelle, ich hätte diese langen, verwinkelten Varianten (die längste ging bis Zug 26) normal gelernt, wüsste ich jetzt wahrscheinlich noch bestenfalls 20% des Gelernten, wenn ich es nicht zehn Mal wiederholt hätte.

Aber das funktioniert nicht nur bei Eröffnungen: Man kann sich schnell und zuverlässig auch die 50 wichtigsten Turmendspiele einprägen oder die wichtigsten Bauernstrukturen im Mittelspiel samt dazugehöriger Pläne. Das Großartige ist die Flexibilität der Methode, da man mit etwas Übung sehr konkrete, detailorientierte Dinge wie Eröffnungsvarianten ebenso verbildern kann wie abstraktere Konzepte.

100 Züge Najdorf in 20 Minuten, das klingt viel versprechend. Aber wie genau lernt ein Gedächtnissportler Eröffnungen?

Im Gedächtnissport merken wir uns unter Anderem Wörter und Ziffern, jeweils mit bestimmten, sehr effektiven Methoden der Visualisierung und der Speicherung der Information. Eröffnungszüge sind letztlich nichts anderes als eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, also ist der Weg nicht weit. Für einen Gedächtnissportler ist es kein dann kein großer Unterschied, ob man sich 464 Ziffern in 5 Minuten merkt oder 136 Wörter in 5 Minuten oder 50 Züge einer Schacheröffnung. 

Natürlich musste ich dafür zunächst selbst ein Codierungssystem entwickeln, das den jeweiligen Zügen effektiv Bilder zuordnet. Das ist der erste Schritt.

Gedächtniskünstler Simon Reinhard in Aktion  | Foto: Simon Reinhard

An dieser Stelle alle Einzelheiten dieser Methode vorzustellen, würde wahrscheinlich den Rahmen dieses Interviews sprengen, aber falls seitens der Leser Interesse daran bestehen sollte, stelle ich diese Methoden gerne an anderer Stelle, vielleicht auch in anderem Rahmen, vor. 

Doch vielleicht kurz dazu, was die Methode leisten kann: Mit etwas Übung ist es kein großes Problem, 100 Halbzüge einer Eröffnung in 10 Minuten zu lernen. Nun mag manch einer vielleicht denken, dass dies ja auch ohne Techniken noch ganz gut geht. Das mag sein, jedoch liegt der eigentliche Vorteil des Lernens von Schachwissen mittels Gedächtnistechniken in der Nachhaltigkeit der Verankerung: Wo man beim natürlichen Lernen die Dinge oft wieder und wieder lernen muss und am nächsten Tag nicht selten weit mehr als die Hälfte des Gelernten wieder vergessen ist, "überleben" von den mit Techniken gelernten Zügen bei sauberer Anwendung leicht 90% und mehr die Nacht und sind auch am nächsten Tag noch abrufbar. Und nach ein, zwei Wiederholungen sitzt das Gelernte dann dauerhaft und zuverlässig, auch nach Wochen und Monaten.

Normal Gelerntes müsste man immer wieder auffrischen, was die eigentliche Zeit und Energie kostet. Das hebelt auch das oft gehörte Argument aus, bei Gedächtnistechniken müsse man sich ja noch mehr merken. Denn am Ende muss man sich weniger merken, weil man nicht dasselbe immer und immer wieder einpaukt (um es dann erneut zu vergessen), sondern man es gleich beim ersten Mal richtig macht. 

Spitzenspieler erinnern sich detailliert an viele Partien, eigene und fremde, und haben zahlreiche schachliche Muster im Langzeitgedächtnis gespeichert. Aber ich habe noch nie gehört, dass diese Spieler Mnemotechniken einsetzen, um Partien und Eröffnungsvarianten zu lernen. Können Gedächtnissportler etwas, was Spitzenspieler nicht können – oder zumindest nicht tun?

Viele Leute haben ihr Examen auch ohne Gedächtnistechniken geschafft, viele Leute sind im Beruf auch ohne diese Techniken erfolgreich. Dasselbe gilt für die besten Schachspieler. Es wäre ein großes Missverständnis, anzunehmen, dass es immer nur auf eine Art geht. Jedoch ist nicht auszuschließen, dass man zwar mit mehreren Methoden ans Ziel kommen kann, manche aber schlicht einfacher und Kraft sparender sind.

In Bezug auf das Schach ist es, denke ich, sinnvoll zu fragen: Wie sehr ist man selbst mit dem eigenen Schachgedächtnis zufrieden? Macht einem das Lernen von Eröffnungen in Form eines ewigen Drills wirklich Spaß? Wie viel weiß man am nächsten Tag, nach einer Woche noch? 

Wenn man hier noch Verbesserungsbedarf sieht, dann können Gedächtnistechniken sicher ein hilfreiches Thema sein. 

Zudem ist mir schon oft Folgendes aufgefallen: Ein IM oder GM hat ein Buch zu einer Eröffnung geschrieben, sich damit intensiv auseinandergesetzt, das Thema aber vielleicht nach Erscheinen des Buches einige Wochen nicht mehr vertieft studiert. Und dann kommt beim Live-Stream des Autors, beim Blitzen, der Kommentar, als er eine der Hauptvarianten "seiner" Eröffnung spielt: "Wie ging das nochmal genau?" Und nicht erst im 20., sondern im 8. Zug. Ich denke mir dann, dass sogar intensive Beschäftigung mit einer Eröffnung nicht davor schützt, dass "natürlich" gelernte Information sich einfach schneller wieder abbaut. Letztlich verliert man dadurch viel Zeit und Energie und das Lernen ist frustrierend. 

Schauen Sie sich zum Beispiel an, wie viel Zeit Topspieler oder auch schon starke Vereinsspieler in das Lernen von Eröffnungen investieren. Da sind einige Stunden am Tag keine Seltenheit. Und da denke ich mir: Gerade bei Topspielern, bei Profis, geht es ja immer um den Wettbewerbsvorteil. Wenn solche Leute zum Beispiel jeden Tag eine halbe Stunde weniger in die Wiederholung des am Vortag Gelernten investieren müssten, einfach weil es mit bestimmten Techniken besser "sitzt", dann summiert sich die Zeitersparnis schnell enorm, und die Person hat mehr Zeit für andere schachliche Bereiche oder schlicht für Ruhephasen. So etwas schlägt sich dann zwangsläufig auch im Erfolg nieder. 

Dass ein gutes Gedächtnis beim Eröffnungsstudium hilft, ist offensichtlich. Aber Sie haben erwähnt, dass Mnemotechniken auch beim Studium des Mittelspiel und Endspiels helfen?

Auf jeden Fall. Die Techniken sind sehr flexibel auf die verschiedensten Themen anwendbar. Nötig dazu ist lediglich etwas Übung und Erfahrung. Dann ist es kein Problem, sich typische Mittelspielpläne einzuprägen, Turmendspiele in all ihren Feinheiten oder auch vermeintlich "simple" Dinge wie das Mattsetzen mit Läufer und Springer. Dem Ganzen sind keine Grenzen gesetzt. 

Die schachliche Spielstärke lässt im Alter bekanntlich nach. Untersuchungen erklären das unter anderem damit, dass das Kurzzeitgedächtnis im Alter nicht mehr so leistungsfähig ist wie in der Jugend. Kann man dem Altern hier mit Gedächtnistraining ein Schnippchen schlagen?

Absolut. Ich selbst bin ja auch schon solide 40 und ich habe in meinen Leistungen bei Gedächtnisturnieren noch keinerlei Einbußen festgestellt, man wird eher noch besser. Das ist auch nötig, wenn man mit der Weltspitze und mit all den jungen Leuten aus aller Welt mithalten will. Das gelingt mir zum Glück noch ganz gut (lacht).

Simon Reinhard | Foto: Lara Freiburger, 2016

Aus meiner Sicht liegt das daran, dass die Gedächtnistechniken andere Gehirnbereiche ansprechen als das bloße Kurzzeitgedächtnis. Gerade weil einige der wichtigsten Techniken auch auf räumlicher Verortung von Information beruhen, hat man hier eine ganz andere Stabilität. 

Oft hört man ja ältere Schachspieler (ab 40!) sagen, dass man sich ja "früher" die Eröffnungen bis zum 30. Zug merken konnte, aber jetzt sei "das alles aus". Gerade auch für solche Spieler ergeben sich mit Gedächtnistechniken ganz neue Perspektiven, wieder an den schachlichen "Ruhm ihrer Jugend" anzuknüpfen oder diesen sogar noch zu übertreffen. 

Der Weltmeister Magnus Carlsen spielt in manchen seiner Blitzpartien mit nur einer oder drei Minuten Bedenkzeit auf der Uhr strategisch besser als viele Amateure und Internationale Meister in langen Partien. Welche Rolle spielt das Gedächtnis dabei und kann man auch diese Form des Erinnerns lernen?

Spieler wie Carlsen haben eine unglaubliche Intuition, ein Schachgefühl, wo die Figuren hingehören. Intuition ist oft das Ergebnis eines großen, unterhalb der bewussten Schwelle vorhandenen Wissenschatzes, auf den das Gehirn dann im Rahmen von Mustererkennung zugreift, und einem hilft, Züge zu spielen, die "einfach richtig aussehen". Insofern spielt das Gedächtnis dabei auch eine Rolle. Definitiv nötig ist also ein breites Schachwissen, das dauerhaft gespeichert ist. Das heißt dann natürlich nicht, dass man automatisch wie Carlsen spielt. Aber jeder hat sein eigenes Potential, dass er ideal ausschöpfen kann.  

Haben Sie einen Lieblingsspieler und erinnern Sie Ihre Lieblingspartien dieses Spielers?

Ich denke Carlsen ist, gerade nach dem WM-Kampf gegen Caruana, dabei, zu einem noch kompletteren Schachspieler zu werden, der neben der positionellen Meisterschaft auch verstärkt scharfes taktisches Spiel verwendet, um seine Gegner niederzuringen.

Magnus Carlsen | Foto: Lennart Ootes

Carlsens spektakuläre Opferpartie gegen Giri beim Gashimov Memorial in Shamkir war dafür ein fantastisches Beispiel. Auch viele andere Spieler muss man einfach nennen: Kasparovs legendäre Dynamik, Karpovs Effizienz, Technik und Stellungsharmonie, und natürlich Fischer. Bei den Frauen gefallen mir die Partien von Anna Muzychuk außerordentlich gut, weil sie positionelle Stärke mit einem exzellenten taktischen Blick verbindet.

 

Zum Erinnern an Partien: Es ist ganz wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass das Erinnern mithilfe von Gedächtnistechniken nicht automatisch geschieht, sondern nur funktioniert, wenn man die Mnemotechniken bewusst anwendet. Wenn ich mir also eine Partie einfach nur ansehe, sozusagen "technikfrei", erinnere ich nach einiger Zeit oft noch die Hauptthemen der Partie oder auch Zugfolgen, aber der Zugriff auf Details der Partie lässt mit der Zeit nach. Das kennt sicher jeder, so arbeitet unser Gedächtnis eben: Vereinfachung, Filterung. Wenn ich mir aber eine sehr schöne Partie merken will, dann nutze ich Mnemotechniken und dann bleibt die Partie auch in Erinnerung. 

Wie steht es mit Ihren eigenen Partien: Erinnern Sie die alle?

Wenn man eine Partie vertieft analysiert, dann bleibt sie länger im Gedächtnis. Aber auch hier verflüchtigen sich Dinge, wenn man sie nicht wiederholt. Bisher fand ich, ehrlich gesagt, dass im Vergleich zu den Partien der großen Meister keine meiner Partien es wirklich wert war, sie sich dauerhaft einzuprägen, leider. 

Am nächsten kommt dem vielleicht eine Partie, die ich vor der Siegerehrung der Gedächtnis-WM 2007 in Manama, Bahrain, gegen einen zufällig auch dort anwesenden Schachgroßmeister gespielt habe, ohne Zeitbegrenzung. Das war meine erste Gedächtnisweltmeisterschaft und ich war nach den drei Tagen sehr erschöpft, aber auch erleichtert, und spielte im Schach befreit auf.

 

Simon Reinhard (rechts) bei einer freien Partie gegen GM Raymond Keene

Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich nicht viel nachgedacht habe, die Züge haben einfach irgendwie gepasst, Sinn gemacht. Am Ende habe ich dann mit einem Qualitätsopfer gewonnen und war etwas verdutzt. Die Partie habe ich dann danach notiert und jedenfalls online gespeichert. Vielleicht sollte ich sie mir auch einmal richtig merken (lacht)

Wenn ich mich richtig erinnere, hat der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal eine Geschichte mit dem Titel "Das unerbittliche Gedächtnis" geschrieben, in der die Hauptperson darunter leidet, dass er nichts vergessen kann. Wie realistisch sind solche Geschichten/Visionen/Ängste?

Hoffentlich gibt es niemanden, der dieses Schicksal tatsächlich teilt. Ohne Vergessen zu können, könnten wir uns auch nicht ändern, alte Fehler nur schwer ablegen und blieben ewig in der Vergangenheit verhaftet. 

Glücklicherweise sind Gedächtnistechniken einfach ein weiteres Werkzeug in der eigenen "Toolbox": Was ich mir nicht bewusst merken will, vergesse ich gerne und glücklicherweise, wie jeder andere auch. 

Ein gutes Gedächtnis zu haben, sich Gesichter und Namen und viele Fakten merken zu können, ist natürlich gut und hilfreich. Aber hilft Gedächtnistraining auch dabei, kreativ zu sein, aus bekannten Dingen Neues zu schaffen?

Kein einfaches Thema. Sicher hat alles seine Grenzen. Interessant ist aber, dass man gerade beim Einsatz von Gedächtnistechniken geistige Flexibilität trainiert und stets neue Assoziationen bilden muss. Sowohl bei der Visualisierung, der Verbilderung von Information, als auch bei der räumlichen Verankerung dieser Bilder ist Kreativität sehr hilfreich und wird geschult. 

Und wie kommt man vom Lernen einzelner Fakten zum Expertenwissen? Oder, da Sie Jurist sind, anders gefragt: Ist man bereits ein guter Jurist, wenn man viele Gesetze kennt?

Als Jurist muss man zum Glück keine Gesetze auswendig wissen, sondern die Struktur, die Systematik der Regelungen. Dann findet man sich auch in neuen Rechtsgebieten schnell zurecht, weil man Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser sieht. 

Zum Thema Expertenwissen im Allgemeinen: Letztlich kommt es sicher darauf an, wie vernetzt das eigene Wissen ist, wie präzise man sich daran erinnert und wie gut und vertieft man es verstanden hat. Dabei ist das Verstehen des Wissens sicher die "Königsdisziplin", aber auch das Erinnern ist unerlässlich. Verstandenes wird wertlos, wenn man es vergisst. 

Gedächtnissport wird immer populärer, es gibt Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und den Titel des "Gedächtnisgroßmeisters". Glauben Sie, dass die Erkenntnisse des Gedächtnissports auch bald im Schach eine größere Rolle spielen werden?

Das würde mich sehr freuen. Ich will meine Gedächtnismethoden, die sich gerade auf den schachlichen Bereich beziehen, gerne so vielen Schachspielern wie möglich näherbringen. Jeder soll davon profitieren. Seien wir doch ehrlich: Der Sommer ist zu schön und das Leben zu kurz, um auf althergebrachte Art hunderte Eröffnungszüge zu lernen. Wer will das schon, wem macht das Spaß? Das würde ich gerne ändern. 

Zum Schluss noch eine Frage: Was sollte man beim Schach und beim Gedächtnistraining auf keinen Fall vergessen?

Dass das Wichtigste der Spaß daran ist: Ich denke, Schiller hat sinngemäß gesagt, nur wo der Mensch spielt, ist er wahrhaft Mensch. Natürlich ist Schach auch Kampf, aber Kämpfe kann man genauso genießen, wenn man sich am Ende über die starke Leistung des Gegners ebenso freut wie, bei anderer Gelegenheit, über die eigene.

Die Fragen stellte Johannes Fischer

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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