Die Bedrohung des Turnierschachs

von ChessBase
22.06.2011 – Das Turnierschach erlebt derzeit eine Bedrohung, die von Vielen in ihrem Ausmaß noch gar nicht richtig wahrgenommen wird. Leider ist auch den Verantwortlichen in den Verbänden, den Organisatoren und den Schiedsrichtern offenbar nicht bewusst, wie dringend die Turnierregeln an die neuen Gegebenheiten angepasst werden müssen. Zwei aktuelle Betrugsfälle zeigen, wie hilflos derzeit die Verantwortlichen angesichts neuer technischer Möglichkeiten reagieren. Auch in den traditionellen Schachmedien ist das Thema übrigens noch nicht richtig angekommen. In einem Essay stellt André Schulz die jüngsten Fälle bei der Schacholympiade in Khanty-Mansiysk, bei der Deutschen Meisterschaft in Bonn, aber vielleicht auch anderswo, dar und fordert höhere Aufmerksamkeit von Organisatoren und Schiedsrichtern, vor allem aber angepasste Regeln. Andernfalls wird das Turnierschach im Nu in einer Atmosphäre des Misstrauens zerstört werden. Mehr...

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Feller, N. und die Bedrohung des Turnierschachs
Von André Schulz
Fotos: Ugra-Chess, Axel Fritz, Frederic Friedel

Der Fall des Sebastien Feller ist noch gar nicht richtig verdaut, da wird schon der nächste Betrugsfall im Turnierschach aufgedeckt. Der Leipziger Christoph N. wurde bei der Deutschen Meisterschaft in Bonn in der letzten Runde dabei ertappt, wie er mit einem Schachprogramm auf seinem Smartphone auf der Toilette seine laufende Partie analysiert hat.

Was war passiert? N., der mit einer Elozahl von 2363 zu Buche steht, war "Mann des Turniers" bei der Deutschen Einzelmeisterschaft. Mit 5 aus 9 erspielte er eine Leistung von Elo 2506. Eigentlich hätte N. sogar einen halben Punkt mehr auf dem Konto, denn die letzte Partie gegen Sebastian Siebrecht endete zunächst Remis. Das wäre der geteilte sechste Platz gewesen. Eine IM-Norm hatte der 23-Jährige schon nach der 8. Runde sicher.

In der 1. Runde überraschte er bereits, indem er eine zweifelhafte Neuerung von Daniel Fridman widerlegte und in der Folge deutlichen Vorteil, eigentlich schon positionellen Gewinnvorteil erzielte. Doch N. bot nach 16 Zügen in dieser Gewinnstellung Remis an, was Fridman natürlich sofort akzeptierte. Keiner der Großmeister schaffte es, den Leipziger zu besiegen. Manche probierten es noch nicht einmal. Igor Khenkin, der gegen den Amateur in der vorletzten Runde zu spielen hatte, erläuterte, dass "N. viel besser vorbereitet war als ich, da nahm ich mit zwei geopferten Bauern weniger lieber Remis an."

In der letzten Runde spielte N. gegen Sebastian Siebrecht. Hätte er vielleicht einfach die Partie irgendwie verpatzt oder sich vom Großmeister zusammenschieben lassen, dann wäre er mit IM-Norm, einer Performance von über 2500 und toller Presse aus dem Turnier gekommen. Und nur er hätte gewusst, wie sein Leistungssprung möglicherweise zu erklären ist. Doch N. packte anscheinend der Ehrgeiz, vielleicht beflügelt durch ein höheres Preisgeld bei besserer Platzierung?

In einer Variante der Bogoindischen Verteidigung spielte Siebrecht eine interessante Neuerung und opferte einen Bauern. Nun war viel Rechenarbeit erforderlich. Siebrecht fiel aber bald auf, dass sein Gegner trotzdem kaum am Brett zu finden war. Wo war er dann?

Also begab Siebrecht sich auf die Suche und vermutete seinen Gegner bald in einer der Toilettenkabinen. Tatsächlich! Hier war der Ort, an dem N. den größten Teil seiner Bedenkzeit verbrauchte. Spielern des Turniers war schon in den Runden zuvor aufgefallen, dass zumindest eine der Kabinen der Herrentoilette meistens besetzt war.

Siebrecht wandte sich nun an den Schiedsrichter und teilte diesem mit, dass N. nach jedem Zug für acht bis zehn Minuten auf der Toilette verschwand und verlangte eine Untersuchung. Der Schiedsrichter nahm den Protest zunächst nur zur Kenntnis. Als N. beim nächsten Zug erneut Richtung Toilette verschwand, zeigte Siebrecht dies gegenüber dem Schiedsrichter an. Dieser stellte fest, dass die Beobachtung richtig war, kam aber der Aufforderung von Siebrecht, den Spieler unmittelbar nach Verlassen der Toilette zu durchsuchen, nicht nach und begründete die Unterlassung damit, dass dem Beschuldigten im Falle eines falschen Verdachtes ein Nachteil entstanden wäre. Er erklärte sich aber bereit, nach Partieende eine Untersuchung vorzunehmen. Siebrecht, der inzwischen längst sicher war, dass hier etwas nicht stimmte, hatte nun zunehmend Schwierigkeiten sich auf den Fortgang der Partie zu konzentrieren und willigte schließlich in eine dreifache Stellungswiederholung ein, um die Partie zu einem Ende zu bringen, weigerte sich aber, das Partieformular zu unterzeichnen.

Am Ausgang des Spiellokals wurde N. nun vom Schiedsrichter abgefangen und aufgefordert, seine Taschen zu leeren. Aus der linken Hosentasche - wo sollte man es während Schachpartien auch sonst aufbewahren -  beförderte er schließlich ein so genanntes "Smartphone" zutage.

"Haben Sie auf diesem Gerät ein Schachprogramm installiert?", fragte der Schiedsrichter und N. räumte das ein - für einen Schachspieler vielleicht auch nichts Ungewöhnliches. N. kam dann – vielleicht in einem Anflug von Anstand, obwohl er als Student der Rechtswissenschaft gewusst haben könnte, welche fundamentalen „Menschenrechte“ bei dieser Frage verletzt wurden -, auch der Aufforderung nach, das Gerät einzuschalten und das Programm aufzurufen. Dort war dann tatsächlich eine Stellung der kurz zuvor beendeten Partie Siebrecht-N. gespeichert, womit für den Schiedsrichter eindeutig belegt war, dass der Spieler diese Partie, während sie noch lief, analysiert hatte.

N. gab nun den Betrug zu und ging zu Siebrecht, um sich zu entschuldigen. Siebrecht nahm diese Entschuldigung jedoch nicht an, was man ihm nicht verdenken kann. Die Partie wurde für N. als verloren erklärt und der Spieler disqualifiziert.

Der Organisator meldete auf der Turnierwebseite:

"Die Partie Christoph N. gegen Sebastian Siebrecht wurde wegen nachgewiesen und eingeräumten Betrugs für N. verloren gegeben. Er hat verbotenerweise während der laufenden Partie auf dem Handy diese nachgespielt.
Eine Normenbestätigung aus diesem Turnier wird N. nicht erteilt. Vom weiteren Turnier wird er ausgeschlossen. Er ist nicht Preis berechtigt. Weitere Konsequenzen sind Gegenstand von Untersuchungen nach dem Turnierabschluss."

Soweit die Fakten.

Der Fall wirft eine Reihe von Fragen auf und außerdem ein ziemlich schlechtes Licht auf die Schiedsrichterleistung. Offenbar sind die Schiedsrichter trotz einer Reihe von Betrügereien, die in der Vergangenheit schon im Turnierschach aufgedeckt wurden, immer noch nicht darauf vorbereitet und vom Deutschen Schachbund respektive der FIDE oder ECU dahingehend ausgebildet, Turniere so zu überwachen, dass die ehrlichen Spieler davon ausgehen können, dass es zu keinem Betrug kommen kann. Zur Zeit werden bei offiziellen Schachturnieren (mit Preisgeld!) offenbar noch nicht einmal die Überwachungsmaßnahmen angewendet, die z.B. bei einer Klassenarbeit in der 5. Klasse üblich sind. In der Schule kann man bei Klassenarbeiten nicht unbegrenzt oft auf Toilette gehen ohne aufzufallen.

Man fragt sich zudem, wieso ein Spieler sich selbst darum kümmern muss, ob sein Gegner, der selten im Turniersaal zu finden ist, vielleicht irgendwo außerhalb des Turniersaals unlautere Hilfe in Anspruch nimmt. Dies zu überwachen muss doch die allererste Aufgabe des Schiedsrichters sein. Und wenn ein Spieler nun einen Protest anmeldet, dann ist es die Pflicht des Schiedsrichters, diesem Hinweis umgehend nachzugehen - wenn der Protest entsprechend begründet ist - und ggf. auch die Beweismittel rechtzeitig sicher zu stellen.

Dies alles ist in Bonn, bei einer Deutschen Meisterschaft nicht geschehen. Nur durch glückliche Umstände und die Hartnäckigkeit von Sebastian Siebrecht wurde am Ende doch noch der Betrug aufgedeckt. Beweise dafür gibt es jedoch nur für die letzte Partie. Wenn N. ein Programm benutzt hätte, das die analysierte Stellung nicht speichert bzw. er die Stellung nicht selber gespeichert hätte, oder wenn er einfach behauptet hätte, seinen Code zum Starten des Smartphones vergessen zu haben, oder sich einfach auf seine Persönlichkeitsrechte berufen hätte, läge nicht einmal dafür ein Beweis vor und der Betrüger wäre ungestraft davon gekommen.

Da die Schiedsrichter und auch die Spieler in den Runden zuvor nicht darauf geachtet hatten, wo N. sich während seiner Partien zumeist befand, lässt sich nun auch nicht mehr feststellen, ob die Partien zuvor unter regulären Bedingungen gespielt wurde, oder ob der Spieler auch vorher schon unlautere Hilfe auf der Toilette in Anspruch genommen hat.

Übrigens gibt es für den Betrugsfall bei der Deutschen Meisterschaft einen Vorgänger. Damals, bei einem Open 2003, schritt der Schiedsrichter Markus Keller sofort ein und entlarvte den Betrüger – damals war es ein Lehrer!


Tatort Toilette...

Auch der mutmaßliche Betrug der französischen Spieler Sebastien Feller, Arnaud Hauchard und Cyrill Marzolo, als solcher vom französischen Schachverband für die Schacholympiade in Khanty-Mansiysk festgestellt, kam eher zufällig ans Tageslicht.


Sebastien Feller

Auf dem Mobiltelefon von Marzolo wurden anscheinend seltsame SMS entdeckt und seine Mobilfunkabrechnung - das verwendete Telefon gehörte ihm nicht – listete laut Angaben des französischen Verbandes eine Unzahl von SMS auf, die innerhalb kurzer Intervalle auf das gleiche Mobiltelefon verschickt wurden, als Feller gerade Partien in Khanty-Mansiysk für die französischen Nationalmannschaft spielte. Der französische Verband wertete die Informationen als eindeutige Indizien für ein Betrugsvergehen und sperrte die Spieler.


Sebastien Feller, mitte, mit seinen Kollegen der Nationalmannschaft,
Fressinet und Vachier-Lagrave, in Khanty-Mansiysk

Auch hier fragt man sich, wie es bei der Vielzahl von Schiedsrichtern in Khanty-Mansiysk möglich war, den mutmaßlichen Betrug dort unentdeckt durchzuführen. Am Eingang stand ein Metalldetektor, wie er an Flughäfen verwendet wurde. Wonach wurde damit gesucht? Nach Elektronik-Geräten und Mobiltelefonen jedenfalls nicht. Spieler berichten, dass man einfach seine Geräte neben den Detektor legte, durchging und dann wieder zu sich nahm. Auf Fotos konnte man auch Spieler sehen, die in der Halle mit Notebooks saßen oder am Amazon- Kindle ein Buch lasen. Offenbar wurde dort nach Waffen gesucht, doch das Bild des Detektors vermittelte dem Betrachter der Webseiten im Internet den Eindruck, als würde hier das Mitbringen von elektronischen Hilfsmitteln unterbunden, Doch das war hier und vielleicht auch bei anderen Turnieren offenbar niemals der Fall.

Hauchard, Trainer der französischen Nationalmannschaft, wurde von Spielern beobachtet, wie er während einiger Runden andauernd mit seinem Mobiltelefon beschäftigt war. Niemand dachte daran, dass er dort vielleicht die per SMS geschickten Hinweise seines Komplizen Marzolo las, der mit Computerhilfe zeitgleich die Partien des Kollegen Feller analysierte und die besten Antwortzüge sendete. So jedenfalls hat der französische Verband die Vorgänge in Khanty Mansiysk gewertet. Für den Fall, dass jemand die SMS doch entdecken würde, hatten man die Zugangaben laut den Veröffentlichungen des französischen Verbandes angeblich sogar nach einem bestimmten System verschlüsselt. Hauchard soll dann, so berichtete der französische Verband, die von Marzolo ermittelten Züge per Zeichensprache an Sebastien Feller weiter gegeben haben. Die Spieler bestreiten die Vorwürfe allerdings.

Aber war dies das erste Turnier, auf dem Feller & Co - sie als kriminelle Vereinigung zu bezeichnen, ginge sicher zu weit - auf diese Weise die Ergebnisse optimierte? Sebastien Feller hat in jüngster Zeit eine Reihe von guten Ergebnissen verzeichnet und in der Eloliste einen deutlichen Sprung gemacht. So gewann er schon die Pariser Stadtmeisterschaften mit verblüffend guter Spieltechnik.

Beim Bieler Open, im Sommer 2010 wurde Sebastien Feller geteilter Erster, sein Trainer in der Nationalmannschaft, Arnaud Hauchard, kam mit einem halben Punkt weniger ebenfalls in die Preisgeldränge.

Zuschauer des Turniers wollen in Biel jedoch seltsame Vorgänge beobachtet haben.

So soll Cyrill Marzolo Partien seiner französischen Kollegen Feller und Hauchard während der Runden außerhalb des Turniersaales mit seinem Notebook analysiert haben.


Cyrill Marzolo

Sie sahen Marzolo auch des Öfteren mit diesen Spielern sprechen. Nachdem das aufgefallen war und Marzolo gefragt wurde, was er da mit seinem Notebook mache, blieb der Franzose fortan im Hotelzimmer. In den folgenden Runden wäre dann eine erhöhte Aktivität bei Hauchard und seinem Mobiltelefon zu verzeichnen gewesen - berichten die Zeugen.

Die Zuschauer meldeten ihre Beobachtungen dem Schiedsrichter, der jedoch - nach ihren Angaben - nichts unternahm. Nachdem im Internet die Schilderungen des Falles auftauchten, gab die Turnierleitung des Schachfestival Biels hierzu eine Mitteilung heraus und erklärte, dass der Turnierleitung und dem Schiedsrichter keinerlei Unregelmäßigkeiten aufgefallen seien. Zwar hätte es auch einmal einen Hinweis auf Betrug im Zusammenhang mit den genannten Spielern gegeben, doch dieser sei vage gewesen, zudem kämen solche Anschuldigen im Verlauf eines Opens öfter mal vor und seien bisher immer unbegründet gewesen. Die Zeugen bleiben jedoch bei ihrer Darstellung.

In der letzten Runde des Turniers spielte Feller um den ersten Platz und ein höheres Preisgeld an den vorderen Tischen auf einer Bühne. Hier konnte man nicht mehr mit ihm reden. Nun bemerkten die Beobachter, wie Hauchard, der seine Partie schon beendet hatte, sich ständig zwischen den Stuhlreihen bewegte und sich mal vor diesen, mal vor jenen Stuhl stellte oder sich darauf setzte. Immer wenn das geschehen war, machte Feller auf der Bühne bald danach seinen Zug – und seltsam: Wenn man sich 8x8 Stühle in den Zuschauerreihe als eine Art virtuelles Schachbrett dächte, so hätte sich Hauchard immer innerhalb dieses Feldes hingestellt oder gesetzt und – kaum zu glauben – bei Fellers folgendem Zug korrespondierte das Zielfeld immer genau mit dem Stuhl , vor dem Hauchard stand.

Die  Zuschauer, die den französischen Nationaltrainer beobachten, machten sich nun einen Spaß daraus, anhand von Hauchards Bewegungen jedes Mal Fellers nächsten Zug in dessen Partie gegen Ulibin vorher zu sagen – und es funktionierte! Was für ein Zufall.


Arnaud Hauchard, links, hier mit Vachier-Lagrave 2007 in Wijk aan Zee

Da der Schiedsrichter in Biel nichts bemerkt hat, muss man aber weiter davon ausgehen, dass hier alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

In Khanty-Mansiysk gewann Feller den Preis für die beste Leistung als 5.Spieler in Höhe von mehreren Tausend Dollar. Die Partien gegen Howell, Timofeev, Gelashvili hätte ein Computerprogramm wie Rybka auch nicht besser spielen können. Auch an Fellers Partie gegen Ulibin in Biel hat Rybka in der Analyse nicht auszusetzten, ebenso wenig wie an Hauchards Partie gegen Pelletier.

In Biel wurde Feller geteilter Erster (Zweiter nach Wertung), Hauchard geteilter Siebter (Siebter nach Wertung, was wieder einige Tausend Franken Preisgeld erbrachte. Und hier wie in Khanty-Mansysik hatten andere das Nachsehen.

Anfang 2011 veröffentlichte der französische Verband seine Pressemeldung, in der er mitteilte, dass er gegen seinen Nationalspieler Sebastien Feller, gegen seinen Nationaltrainer Arnaud Hauchard und gegen Cyrill Marzolo wegen Betruges ermittle. Die Untersuchung ergab für den Verband einen eindeutigen Befund und die Spieler wurden gesperrt. Bevor das Urteil rechtskräftig wurde, nahm Feller noch an der Europameisterschaft teil, die ausgerechnet vom französischen Verband in Aix-les-Bains durchgeführt wurden - mit großem Erfolg für den Spieler.

Eine Reihe von Spielern der Europameisterschaft verdächtigten aber offenbar einige nicht näher genannte Spieler mit irregulären Hilfsmitteln gespielt zu haben. Viele Spieler unterschrieben einen Offenen Brief in dem sie bessere Schutzmaßnahmen forderten.

Hinter vorgehaltener Hand wurde erzählt, zwei französische Spieler, einer das ganze Turnier hindurch, einer nur bis zum Erscheinen des Offenen Briefes, hätten sich mit Hilfe eines dritten Franzosen in Aix-les Bains nicht regelkonform verhalten.

Die Zuhilfenahme eines dritten Spielers wäre notwendig gewesen, weil bei der Europameisterschaft Zuschauer keinen Zutritt zum Spielsaal hatten, sondern nur Spieler. Der mutmaßliche Helfer hätte seine Partien schnell mit Remis beendet, sei später sogar aus dem Turnier ausgestiegen und hätte dann – mit technischer Hilfe? – den anderen Beiden bei deren Partien geholfen.

Auch hier fragt man sich, wie dies möglich sein soll, wenn doch die Schiedsrichter und die Turnierleitung das mit Leichtigkeit hätte unterbinden können. Bei Verdacht kann man einen Spieler, der seine Partie beendet hat, einfach des Turniersaales verweisen. Unverständlich bleibt aber auch, wieso Spieler, die davon überzeugt sind, dass ein anderer Spieler betrügt, trotzdem gegen diesen antreten. Im Nachhinein kann diese Anschuldigung nun niemals aufgeklärt werden.

Sebastien Feller übrigens spielte in Aix-les-Bains auf einem Niveau von 2759 (Performance) und wurde mit 8 aus 11, einen halben Punkt hinter dem Sieger nach Wertung Zehnter und gewann wieder einige Tausend Euro Preisgeld.

Aber werfen wir noch einmal unter einem anderen Aspekt einen Blick auf die Deutschen Meisterschaften in Bonn. Diese hat nämlich noch einen zweiten Skandal zu bieten. Eine der Unarten bei Schachturnieren besteht darin, dass manche "Sportler" die Angewohnheit besitzen, zu Beginn der Schachsportveranstaltung nicht anwesend zu sein. Man stelle sich vor, es ist die Deutsche Meisterschaft im - sagen wir - Tischtennis. Die Runde beginnt, doch nur einer der beiden Spiele steht am Tisch. Der andere ist noch nicht mit Mittagessen fertig oder schläft noch. Was hier absurd wirkt, ist im Schach gang und gäbe.

Bei Mannschaftswettbewerben im Amateurbereich, wo die Spieler abends nach der Arbeit, vielleicht durch Staus behindert, erst noch zum Spielort gelangen müssen, ist eine Karenzzeit sicher angezeigt, im Profibereich und bei offiziellen Veranstaltungen, besonders wenn die Spieler sogar über dem Turniersaal wohnen, aber wohl sicher nicht. Die schlechte Angewohnheit war auch unter den Topspielern verbreitet und FIDE-Präsident Kirsan Ilyumzhinov, anscheinend davon genervt,  schlug die Null-Karenzregel vor - mit Partieverlust als Strafe bei Verstößen -, stellte den Veranstaltern aber frei, die Regel anzuwenden oder nicht.

Was für jeden Arbeitnehmer völlig normal ist, nämlich pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, empfinden manche Schachsportler offenbar als unannehmbare Zumutung. Man mag vielleicht darüber streiten können, ob bei Zuspätkommen gleich die Höchststrafe verhängt werden muss - der Partieverlust -, andererseits ist die Forderung an den Spieler auch nicht allzu groß: Er soll einfach nur pünktlich zur Partie erscheinen.

In Bonn wohnten die Spieler im gleichen Hotel, in dem sich auch der Spielsaal befand. Der Weg zum Spielsaal war also nicht besonders weit. Rundenbeginn war jeweils 14 Uhr, eine Zeit, die für Nicht-Schachprofis irgendwo in der Mitte des Tages liegt und selbst für nächtens pokernde Schachspieler noch genügend Zeit zum Ausschlafen lässt.

Nachdem Hauptschiedsrichter Ralph Alt vor der ersten Runde noch einmal auf die Gültigkeit der Null-Karenzregel hingewiesen hat, musste er gleich in der nächsten Runde über seine Anwendung nachdenken. Ein Spieler fehlte zum Rundenbeginn um 14 Uhr und zwar - ja, genau der - Christoph N.. Hatte er die Ansage vor der ersten Runde nicht verstanden? Oder war, wie man nun vielleicht vermuten könnte, das Akku seines Smartphones noch nicht vollständig geladen? Oder hatte er es vielleicht sogar vergessen und musste noch einmal zurück ins Hotelzimmer? Ralph Alt beschloss, zum Anfang des Turniers noch einmal ein Auge zuzudrücken, verzögerte den formalen Start der Runde um einige Minuten und eröffnete diese erst dann, als auch N. es geschafft hatte, seinen Platz zu einzunehmen. In Runde Vier der nächste Vermisste: Falko Bindrich war zum Rundenbeginn nicht erschienen. Ralph Alt war offenbar nun der Auffassung, dass er genug Nachsicht gezeigt hatte, wartete trotzdem noch eine Minute und eröffnete dann die Runde ohne Bindrich. Als dieser eine weitere Minute später erschien, musste er zur Kenntnis nehmen, dass er wegen Unpünktlichkeit seine Partie verloren hatte.

Als Sportsmann würde man nun die Strafe für den Regelverstoß entgegen nehmen, sich über sich selber ärgern und geloben, es von nun an besser zu machen. Aber nein! Ralph Alt, der sich in seinem Beruf als Vorsitzender Richter am Landgericht München II unter intensiver nationaler und internationale Beobachtung die letzten anderthalb Jahre als leitender Richter mit dem Strafprozess gegen den vermeintlichen KZ-Wärter John Demjanjuk beschäftig hatte, musste sich nun damit auseinandersetzen, dass der gemaßregelte junge Schachspieler Bindrich, zum Zeitpunkt des Turniers noch Soldat der Sportkompanie der Bundeswehr, im Internet gegen ihn nachtrat und sah sich zu einer Erklärung genötigt.

Als Reaktion auf den Partieverlust wegen Unpünktlichkeit erklärte Bindrich nun seinen Rücktritt vom Turnier, worunter vor allem die anderen Spieler zu leiden hatten, da von nun die Teilnehmerzahl ungerade war und ein Spieler pro Runde nun aussetzten musste.

Der Vorfall ereignete sich am 29.Mai 2011. Falko Bindrichs Dienstverhältnis mit der Bundeswehr, die ihn zur Deutschen Meisterschaft abgestellt hat, endete erst am 31. Mai. Der Sportsoldat muss jedoch nicht befürchten, dass ihm sein Rücktritt als „unerlaubtes Entfernen von der Truppe“ ausgelegt wird. Die Bundeswehr ist Rücktritte ihrer Sportsoldaten von Wettbewerben aus anderen Sportarten gewohnt und sieht das gelassen, erklärte Bundestrainer Uwe Bönsch auf Nachfrage.

Welche Erkenntnisse sollen wir nun aus diesen Vorgängen mitnehmen?

Zu allererst – und das wird viele Schiedsrichter überraschen – müssen wir feststellen: Es gibt Betrug im Schach. Dort wo es Techniken zum Betrug gibt, werden sich überall auch bald die Betrüger einstellen und diese Techniken nutzen – sogar im Schach. Und das ist - wie berichtet - schon geschehen, wobei wir ja nur die sichtbare Spitze des Eisberges kennen.

Feller und seine Helfer sind – jedenfalls gemäß der Auffassung des französischen Verbandes gründlicher an die Aufgabe heran gegangen als der Einzeltäter N., dem es offenbar auch nicht darum ging, das Turnier zu gewinnen. Wäre ja auch etwas auffällig gewesen. Bei den Franzosen sollte offenbar nicht nur Elo hinzugewonnen werden – eine hohe Elozahl sorgt bekanntlich für profitable Einladungen zu Turnieren –, der Gruppe ging es möglicherweise auch um die Preisgelder.

Teilweise machte man sich zunutze, dass die Partien live im Internet übertragen wurden, was einen Kommunikationsweg spart. Bei der Europameisterschaft in Aix-les-Bains wurde, vielleicht deshalb, nur eine um 15 Minute verzögerte Internetübertragung angeboten. Wer dort hätte betrügen wollen, hätte sich andere Methoden überlegen müssen. Aber die gibt es auch, wie oben dargestellt.

Es sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass Sebastien Feller vor einigen Jahren bereits bei einem Internet-Turnier wegen der vermuteten Zuhilfenahme von Computerunterstützung disqualifiziert worden ist. Und manch anderer Name ist den Sysops auf dem Fritzserver nach einigen Ermahnungen ebenfalls geläufig.

Es ist daher notwendig, dass bei Schachturnieren zumindest die Vorkehrungen gegen Betrug getroffen werden, die z.B. bei Klassenarbeiten in der Schule oder anderen Prüfungen gelten.

- Mobile Computer, das sind moderne Mobiltelefone auch, haben im Turniersaal nichts verloren. Am besten bringt man keine mit, ansonsten gibt man sie beim Schiedsrichter ab.

- Spieler sollten den Turnierbereich nicht verlassen dürfen, ohne sich beim Schiedsrichter abzumelden. Wenn dieser in Bonn dann eine Strichliste geführt hätte, auf der vermerkt worden wäre, wie oft N. sich auf die Toilette abgemeldet hat, wäre es wohl aufgefallen, dass dies womöglich nach jedem zweiten Zug geschah.

- auch eine Aufsicht des Weges zur Toilette ist notwendig, um zu verhindern, dass Spieler versteckte Geräte an sich nehmen oder mit dritten Personen sprechen.

- Wer sich alleine den Anschein gibt, externe Hilfe zu verwenden, wird disqualifiziert. Dies ist eine Regel, die auch früher schon, vor der Zeit der Computer, gültig war.

- Empfindliche Strafen sind nötig

Die Franzosen haben ihre Spieler fünf Jahre gesperrt, wobei nicht ganz klar ist, ob dies auch für „Privatturniere“ wie Open gilt – vielleicht nicht, denn Feller nahm kürzlich noch einem Schnellschachturnier in Echternach (Luxemburg) teil. Das sollte es aber. Außerdem sollten allen Betrügern die Elozahl auf Null zurückgesetzt werden und für die Zeit der Sperre eine Auswertung unterbleiben.

Wenn die Schachgemeinschaft es nicht schafft, Regeln aufzustellen - und für deren Einhaltung zu sorgen- , die gewährleisten, dass Betrug so gut wie ausgeschlossen ist, wird eine Atmosphäre des Misstrauens entstehen, und Spieler, die ehrlich, aber gut spielen, werden zu Unrecht in Verdacht geraten. Dann ist das Turnierschach, so wie wir es heute noch kennen, im Nu von den Fellers, Hauchards, Marzolos und N. zerstört.

Und bei der Aufstellung der Regeln steht das Interesse der Allgemeinheit, hier der Schachgemeinde, eindeutig höher als ein paar „Persönlichkeitsrechte“ eines Einzelnen. Natürlich muss der Schiedsrichter das Recht habe, die Taschen eines Spielers im Verdachtsfall zu durchsuchen. Wer das nicht akzeptieren will, der kann ja wegbleiben.


Links:

DEM:

Erklärung der Turnierleitung bei der Deutschen Meisterschaft…

Turnierordnung des Deutschen Schachbundes…

FFE:

French Chess Federation suspends players accused of cheating…

FFE: cheating not the first time, Biel statement

Ausführlicher Bericht zum Fall Feller, Hauchard, Marzolo bei Europe Echecs…

Feller replies: 'I completely deny the cheating accusations'

FFE Cheating: Judge rules incriminating SMS inadmissible

Offener Brief in Aix-les Bains…

 

 

 

 






 




 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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