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Im Dezember des letzten Jahres war Vlastimil Hort zusammen mit Helmut Pfleger in Hamburg zu Gast, und nahm mit seinem Partner aus unzähligen TV-Schachsendungen zwei DVDs auf, in denen das Kommentatorenpaar Glanzpartien der neueren Turniergeschichte vorstellen. André Schulz nutzte die Gelegenheit und befrage den Jubilar zu seiner Schachkarriere.
Hort und Pfleger in Hamburg...
„Ich liebe besonders das Pferdchen“
Interview mit Großmeister Vlastimil Hort
Von Dagobert Kohlmeyer
Vlastimil Hort wird heute am 12. Januar 70 Jahre alt. Der Schwejk des Schachs ist in seinem Geburtsland Tschechien sowie seiner Wahlheimat Deutschland längst eine lebende Legende. Zum Jubiläum kann der Großmeister auf eine ungewöhnliche Karriere zurückblicken. Der frühere WM-Kandidat gewann etwa 80 Turniere und spielte 1970 in Belgrad am 4. Brett der Weltauswahl gegen die UdSSR. Hort lebt seit 35 Jahren in Deutschland. Über seine Kindheit und Jugend ist hierzulande weniger bekannt. Vlastimils Auskünfte über diesen Zeitraum dürften besonders für die jüngere Schach-Generation von Interesse sein.
Vlastimil, wann und wo kamst du zum ersten Mal mit den Holzfiguren in Berührung?
Mit fünfeinhalb Jahren begann ich Schach zu spielen. Beigebracht hat es mir ein Arzt im Krankenhaus. Ich hatte eine merkwürdige Nierenkrankheit und kam in Quarantäne. Zwei Monate lag ich dort im Spital. Als Kind war ich sehr zierlich und hatte oft Fieber. Der Nachtdienst-Doktor war so nett und zeigte mir die Schachzüge.
Fandest du dann gleich Spielpartner?
Nein, nicht sofort. Als ich wieder nach Hause kam, sollte ich viel an die frische Luft, weil ich so schwächlich war. Ich wollte aber gern Schach spielen. Meine Eltern spielten es jedoch nicht. Meine Mutter sah sich dann nach Möglichkeiten um. Es war nach dem Krieg, wir hatten nicht viel. Es gab bei uns ja keinen Marshall Plan wie im Westen Deutschlands.
Wie sah dein soziales Umfeld aus?
Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Mein Vater war Arbeiter, mein früh verstorbener Großvater Steiger im Steinkohle-Bergbau. Wir lebten recht bescheiden, damals war ich noch sehr naiv. In Kladno machte ich das Abitur. Später ging ich nach Prag, wo ich Außenhandel studierte.
Der junge Hort
Gab es damals eine richtige Schachszene in der tschechischen Provinz?
In meiner Heimatstadt Kladno, einem Industrie-Zentrum, gab es zwei Schachklubs. Einer funktionierte, da waren alle Enteigneten drin, die früher etwas Geld und Besitz hatten. Ihnen haben die Kommunisten alles abgenommen. Und diese Leute spielten Schach. In den Verein bin ich gegangen, weil er sich in unmittelbarer Nähe unseres Hauses befand. Er lag einfach um die Ecke. Der andere Klub in Kladno gehörte den Gewerkschaften.
Wer hat eigentlich dein Schach-Talent entdeckt?
Keine Ahnung. Als Erster gefördert hat mich ein Metzgermeister. Er hieß Josef Sajdl und hatte drei Geschäfte. Es war ein Fernschachspieler. Wenn ich so zurückdenke, hatte ich eine glückliche Kindheit. Ich war aber kein Schach-Wunderkind, sondern habe mich erst langsam entwickelt. Als Jugendlicher ging es dann schneller.
Mochtest du noch andere Sportarten?
Ja, zum Beispiel Eishockey. Zuerst schwankte ich, ob ich nicht lieber Eishockey spielen sollte. Als Junge war ich Eishockeytorwart. In einer Zeit, als es noch keine Masken gab. Ich spielte in einem Verein, wo der berühmte Pospichil war. Dieser frühere Weltklasse-Verteidiger ist auch Jahrgang 1944 wie ich. Die tschechischen Eishockey-Torleute sind ebenfalls berühmt, zum Beispiel Dominik Hasek. Er spielt übrigens auch Schach.
Zu Besuch in Wijk aan Zee
Warum hast du dich dann für Schach entschieden?
Weil man beim Eishockey so früh im Stadion sein und eine so schwere Kluft tragen musste. Es dauerte fürchterlich lange, ehe man sich angezogen hatte. Deshalb habe ich es aufgegeben. Aber als Zuschauer ging ich immer zum Eishockey. Es ist mein Sport bis heute. Ich mag Eishockey lieber als Fußball.
Wann hat deine Schachkarriere richtig Fahrt aufgenommen?
Schon als Gymnasiast. Von meiner „goldenen“ Generation war ich wohl als Erster für größere Aufgaben tauglich. Weil ich in der Landesmeisterschaft 1959 Zweiter wurde, kam ich als Schüler schon in die Nationalmannschaft. Ich schlug zu dieser Zeit bereits solche Leute wie Ludek Pachman. Als 16-jähriger Schüler spielte ich in Leipzig meine erste Schacholympiade.
Wer gehörte zu deiner „goldenen“ Generation?
Vlastimil Jansa, Lubomir Kavalek, Jindrich Trapl oder Jan Smejkal. Die meisten kamen aus Prag. Trapl war aus Teplice. Alle wurden starke Großmeister und spielten viele Jahre in der Nationalmannschaft.
War Schach in deiner Heimat sehr populär?
Na, ich weiß nicht. Schach wurde in der CSSR eigentlich nicht sehr unterstützt. Es war in den Ostblockstaaten mit Ausnahme der Sowjetunion ganz unterschiedlich. Wir waren damals noch keine richtigen Profis. Jeder musste erst seinen eigenen Weg finden. Das war nicht so einfach.
Hort 2006
Hattest du Vorbilder unter den Schachstars in deinem Land?
Pachman oder Filip waren sicher keine Idole für mich. Ihr Verhalten verwunderte mich eher. Von den Älteren stand mir Karel Opocensky am nächsten. Er war der erste tschechische Profi im Schach. Vielleicht mochte ich ihn, weil er meinen Lebensstil hatte. Er war wild, mochte die Frauen und trank auch gern mal ein Gläschen. Wie ich war er den Freuden des Lebens zugetan. Es gibt ein schönes Buch von Matocha über Opocensky. Er ist wie Aljechin 1892 geboren und spielte bis zum Ende seines Lebens Schach. Von den ausländischen Spielern war Paul Keres mein Vorbild.
Wie viele Schacholympiaden hast du gespielt?
Insgesamt 14. Für die Tschechoslowakei startete ich elfmal, unter deutscher Flagge dreimal. Meine letzte Olympiade war in Manila 1992.
Mit dem Ehepaar Vaganjan
Wie viele Landesmeisterschaften hast du gewonnen?
In der Tschechoslowakei sechs und in Deutschland drei. Ich gewann auch viele internationale Turniere und Open-Wettbewerbe. Insgesamt waren es etwa achtzig Siege, darunter zweimal in Hastings, je einmal in Dortmund und Berlin. Beim Berliner Sommer erzielte ich 8,5 Punkte aus neun Partien, das war mein Rekord. In der letzten Runde schlug ich Pachman. Ein Remis hätte mir genügt. Das dachte auch Ludek, aber ich zeigte ihm, dass Schach etwas schwieriger ist, als er glaubte und gewann.
Welches war das verrückteste Turnier, an dem du je teilgenommen hast?
1982 in Indonesien. Stell dir vor, wir waren 26 Teilnehmer (Rundenturnier!), es nahm kein Ende. Bei der großen Hitze haben wir sehr geschwitzt. Und dann passierte etwas Unglaubliches. Ich spielte gegen Walter Browne. Es war eine komplizierte Partie. Ich bin am Zug gewesen und vertiefte mich sehr in die Stellung. Plötzlich merkte ich, dass ich ganz allein im Saal sitze.
Was war passiert?
Es wurde ganz dunkel. Ich stand auf und dachte: Was ist los? Auf einmal begann der Fußboden zu zittern. Vorher hatte es eine Erdbebenwarnung gegeben, die ich aber nicht mitbekommen habe. Alle anderen Spieler sind schon aus dem Saal gestürmt, nur ich nicht. So sehr war ich mit meiner Partie beschäftigt. Ich bin dann auch weggelaufen, und nach einer Stunde haben wir das Spiel bei Kerzenschein fortgesetzt.
Du hast im Schach eine Menge erlebt, aber Ähnliches sicher nicht noch einmal?
Doch! Zuvor schon mal bei einem Turnier in Vrnjacka Banja, das ich gewonnen habe, geschahen ebenfalls seltsame Dinge. Ich wohnte in der vierten Etage des einzigen Hotels dieser Stadt. Am Morgen gehe ich zum Fenster und schaue hinaus, was los ist: Alle kleinen Häuser des Ortes lagen in Trümmern. Und mein Hotel-Bett stand in der Mitte des Zimmers! Ich dachte, dass ich träume. Auch dort gab es in der Nacht zuvor ein Erdbeben. Weil ich vorher etwas Wein getrunken hatte, merkte ich es aber nicht.
War Jugoslawien damals ein Traumland für Schachspieler?
Ja, sicher. Für meine Generation auf jeden Fall. Sie haben dort eine große Tradition und für Schach unglaublich viel getan.
Wann begann der Professionalismus im Schach?
Er kam mit Bobby Fischer. Der Amerikaner ist daran „schuld“. Gott sei Dank. Du kennst meinen Spruch: „Wir sollten Bobby alle eine Kerze anzünden“. Fischer sagte immer: „Ich will keine Werbung. Ihr sollt mich für mein Schach bezahlen.“
Spasski sagte mir einmal, „Bobby war unser erster Gewerkschaftsführer“.
Ja, das stimmt. Fischer hatte einen speziellen Namen für Spasski: My frienamy (Freund-Feind) Boris. Es war natürlich nicht böse gemeint. Die beiden haben sich verstanden.
Du hast viele Große des Weltschachs erlebt, darunter den Schweden Gideon Stahlberg. Er ist 1967 am Beginn eines Turniers in Leningrad gestorben. Du warst dabei, was ist dort genau passiert?
Zum letzten Mal sah ich ihn zur Eröffnung des Turniers in einem Theater. Viele Leute kamen, der Saal war mit Blumen geschmückt. Stahlberg ging es nicht gut, er war sehr blass. Wir wussten, dass er ein Alkoholproblem und Zirrhose hatte. Vielleicht kam er dorthin, um zu sterben. Er hat sich mit zwei Flaschen Wodka in seinem Hotelzimmer eingeschlossen. Am nächsten Morgen fand man ihn dort tot auf.
Welche Bedeutung hat Stahlberg in der Schachgeschichte?
Er war ein großer Mann. Ich nenne ihn in einer Reihe mit Rossolimo und O‘ Kelly de Galway. Sie alle haben versucht, sich in schweren Zeiten als Schachprofi durchzuschlagen. Nicolas Rossolimo hatte griechisch-russische Wurzeln und zog gern in einem Wohnwagen umher. Er lebte einige Zeit in Frankreich und ging später in die USA. Dort fuhr er Taxi und gab Schachunterricht. Ich habe ihn 1974 in New York besucht. Rossolimo hatte in Greenwich Village ein Schachstudio.
Wie muss man sich seinen Unterricht vorstellen?
Er war sehr speziell. Es kamen die unterschiedlichsten Leute: Hausfrauen, Schüler, Schwarze, Weiße, alle Rassen. Rossolimo baute zum Beispiel 20 Bretter auf, Schwarz hatte alle Figuren, Weiß aber nur den König. Zuerst ging der Meister mit dem Hut herum, und jeder gab 1,5 Dollar für den Unterricht. Danach setzte Rossolimo sich in einen Sessel. Er bot seinen Schülern Schach, und sie durften keinen illegalen Zug mit dem König machen. Passierte es aber doch jemandem, so musste dieser einen Quarter (Vierteldollar) zahlen.
Eine pfiffige Methode.
Du glaubst nicht, wie schnell die Leute das gelernt haben. Ich merkte es mir und dachte: Wenn ich mal nichts mehr zum Essen habe, gebe ich Unterricht wie Nicolas Rossolimo. Der Mann hat in seiner Karriere übrigens viele Schönheitspreise gewonnen.
Wer war für dich der größte aller Weltmeister?
Bobby Fischer ist für mich ohne Konkurrenz. Manche sagen, Kasparow wäre der Größte aller Zeiten, das sehe ich nicht so. Er und Karpow oder Anand haben sich natürlich auch einen hervorragenden Platz in der Schachgeschichte verdient, keine Frage. Aber Fischer war der Größte. Vom Stil her hat mir neben ihm Aljechin besonders gut gefallen.
Wie findest du die heutigen Trends im Schach?
Die verkürzte Bedenkzeit in klassischen Turnieren gefällt mir nicht. Diese „Schnell-Brüterei“ (Rapid-Schach) schadet der Qualität des Spiels. Ich begrüße, dass es wieder Kandidatenturniere gibt. Das ist fairer als die Lotterie im K.-o-System. Jetzt wird, so wie voriges Jahr in London, wieder richtig gekämpft. Endlich kam die FIDE auf diese vernünftige Idee. Es ist wie ein Geschenk zu meinem Geburtstag.
Hast du eine Lieblingsfigur?
Bei mir ist es das Pferdchen. Der Springer sieht so schön aus und ist sehr listig.
Von Kasparow weiß man, dass seine Lieblingsfigur der Läufer ist.
Diese Figur hat sehr schöne Namen. In jeder Sprache trägt der Läufer einen anderen: Läufer, Bischof, Elefant, Slon, Fou, Alfil, Offizier, Jäger, Schütze.
Du hast viele schöne Partien gespielt. Welches war die beste in deiner Karriere?
Schwer zu sagen. Ich mag meinen Schwarzsieg gegen Walter Browne in Wijk aan Zee. Dieses Spiel mit einem Damenopfer erhielt damals den Schönheitspreis. Danach habe ich bestimmt hundert Bier ausgegeben. Auch gegen Paul Keres habe ich als 17-Jähriger bei der Mannschafts-EM 1961 in Oberhausen eine feine Partie gespielt. Der Kampf wogte hin und her. Auch wenn ich am Ende fast vom Stuhl gefallen bin, weil ich noch verlor, gehört diese Partie zu denen in meiner Laufbahn, an die ich mich besonders gern erinnere.
Danke, Vlastimil, für deine interessanten Auskünfte und alles Gute!
Zwei Dinosaurier
Browne-Hort