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Auf den Tag genau 45 Jahre nach Beginn des bedeutendsten Sportereignisses des Kalten Krieges möchte ich die Umstände beschreiben, die damals die Schachwelt und die internationalen Medien in Atem gehalten haben. Viele von Ihnen sind damit vielleicht vertraut, aber vor kurzem habe ich mit einem jungen Großmeister gesprochen, der nur eine vage Vorstellung von dem hatte, was in Reykjavik passiert ist. Er entschuldigte sich für sein fehlendes Wissen, aber ich meinte zu ihm, das sei verständlich – immerhin fand der Fischer-Spassky Wettkampf statt, als seine Eltern noch nicht geboren waren! Für ihn und andere junge Spieler erzählen wir das Drama noch einmal.
Der "Wettkampf des Jahrhunderts" zwischen Weltmeister Boris Spassky, UdSSR, und seinem Herausforderer Bobby Fischer, USA, sollte Anfang Juli 1972 in Reykjavik, Island, beginnen. Spassky, der die mächtige Schachmaschine der Sowjetunion hinter sich hatte (der Weltmeistertitel befand sich seit 24 Jahren in der Hand von Sowjetbürgern), war pünktlich in der isländischen Hauptstadt eingetroffen. Aber sein Gegner, der exzentrische US-Großmeister Fischer, der praktisch ganz alleine arbeitete, saß noch in New York, unzufrieden mit den Wettkampfbedingungen.
Der WM-Kampf war auf 24 Partien angesetzt und der Herausforderer musste eine Partie mehr gewinnen: sollte der Wettkampf nach 24 Partien 12:12 Unentschieden stehen, würde Spassky seinen Titel behalten. Fischer hatte eine Elo-Zahl von 2785, 125 Punkte mehr als Spassky (2660), der Preisfonds betrug $120.000 – 5/8 davon gingen an den Sieger, 3/8 an den Verlierer. Aber zusätzlich verlangte Fischer 30% der Einnahmen aus den Film- und Fernsehrechten sowie 30% der Erlöse aus dem Kartenverkauf – jeweils zu gleichen Teilen zwischen ihm und Spassky geteilt. Als diese Forderungen nicht erfüllt wurden, stornierte Fischer, der am 25. Juni 1972 nach Island fliegen sollte, seinen Flug.
Anfang Juli 1972 war Fischer in Douglaston, New York, wo er im Haus seines langjährigen Freundes IM Anthony Saidy wohnte. In dem anderthalbstündigen Dokumentarfilm "Bobby Fischer against the World" von Liz Garbus schildert Saidy, wie er Bobby nach Island bringen wollte. (Im Film ca. 22 Minuten nach Filmbeginn)
Da Fischer am 1. Juli noch nicht in Reykjavik eingetroffen war, fand die aufwendige Eröffnungsfeier im Nationaltheater von Reykjavik ohne ihn statt. Die erste Partie sollte am 2. Juli gespielt werden, aber Fischer fehlte weiterhin. Die Russen verlangten einen kampflosen Sieg, aber FIDE-Präsident (und Ex-Weltmeister) Max Euwe, entschied sich, gegen die Regularien zu verstoßen und verschob den Start des Wettkampfs um zwei Tage. Er setzte Fischer eine letzte Frist: 4. Juli, 12 Uhr, Ortszeit in Reykjavik.
Am 3. Juli sah die Lage schlecht aus. Fischer war immer noch im Haus von Anthony Saidy und schmollte. Doch dann bot der britische Finanzmann James Slater (oben) öffentlich an, den Preisfonds um weitere $125.000 zu erhöhen und damit zu verdoppeln. Am gleichen Tag rief Henry Kissinger, Staatssekretär der USA, aus Washington bei Fischer an: "Hier ruft der schlechteste Schachspieler der Welt den besten Schachspieler der Welt an", soll er gesagt haben, und: "Amerika will, dass du dahin fährst und die Russen schlägst. Beweg deinen Hintern nach Island."
Am gleichen Abend wurde Fischer zum John F. Kennedy Airport in New York gebracht und an Bord des Loftleidir (heute Icelandic Airlines) Flugs 202A nach Reykjavik geschmuggelt. Das Flugzeug startete um 22.04, etwa drei Stunden später als geplant - Fischer hatte das Flugzeug warten lassen und ein paar Passagiere waren in letzter Minute von Bord genommen worden, um für Fischers Entourage Platz zu machen.
In den frühen Morgenstunden des 4. Juli 1972, knapp zehn Stunden vor Ablauf von Euwes Ultimatum, kam Fischer am Flughafen von Keflavik in Island an. Die beiden Screenshots oben stammen aus dieser fünfteiligen Dokumentatin über Fischer (siehe vor allem Teil 3, ab 2:30 min). Fischer wurde von einer großen Gruppe von Pressevertretern und isländischen Würdenträgern empfangen, die er jedoch ignorierte. Er eilte zu einem wartenden Auto, das ihn ins etwa eine Autostunde entfernte Reykjavik brachte. Dort ließ er sich in einer Dreizimmer-Suite im Hotel Loftleidir nieder.
Für eine ausführliche Beschreibung der Vorgeschichte des Wettkampfs des Jahrhunderts zitieren wir Prof. Dr. Christian Hesses Artikel Ein großer Moment im Schach, Teil 2. Hesse schreibt:
Doch mit Fischers Eintreffen in Island waren nicht alle Probleme verschwunden. Wie Gudmundur Thorarinsson, Präsident des Isländischen Schachverbands, andeutete: "Ihr Amerikaner denkt, das einzige Problem ist, Bobby hierher zu bekommen. Ihr begreift nicht, dass es genauso wichtig - und vielleicht sogar noch schwieriger ist - die Russen hier zu halten."
In der Tat waren die Russen erzürnt über die zusätzliche Frist von zwei Tagen, die Euwe Fischer eingeräumt hatte. Auf ihrer Seite gab es Überlegungen, das Match abzusagen. Hinter den Kulissen gab es zahlreiche Treffen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Auf höchster Ebene, der Ebene des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion, war man der Ansicht, Fischers Verhalten sei eine Demütigung des Weltmeisters. Und es gibt Hinweise, dass, zumindest zeitweise, versucht wurde, Spassky in die Heimat zurück zu schicken. Der sowjetische Schachverband schickte ein scharf formuliertes Telegramm an Lothar Schmid, den deutschen Schiedsrichter des Wettkampfs, in dem sich die Sowjets über Fischers Verhalten und Euwe Reaktion darauf beklagten.
Die Erwartungen vor Beginn des Wettkampfs, der (Spoilerwarnung!) tatsächlich stattgefunden hat, beschreibt Prof. Dr. Christian Hesse in Ein großer Moment im Schach, Teil 2.
Vor ihrer Begegnung in Reykjavik hatten die beiden Protagonisten 5 Partien gegeneinander gespielt, von denen Spassky drei gewonnen hatte und zwei Remis geworden waren. Jedes Mal, wenn er mit Weiß gegen Fischer gespielt hatte, hatte Spassky mit dem d-Bauern eröffnet, doch in seinem Weltmeisterschaftskampf mit Petrosian, der ihm die Krone gebracht hatte, hatte Spassky sein Repertoire auf 1.e4 aufgebaut.
Die Frage war, was er jetzt nach einem Jahr umfassender und systematischer Vorbereitung gegen Fischer spielen würde. Hatte die mikroskopische Analyse von Fischer-Partien durch Spasskys Team verborgene Schwächen seines Gegners bei der Behandlung geschlossener Systeme ans Tageslicht gebracht oder hatte sie Spassky zu dem Schluss kommen lassen, gegen Fischer direkt mit 1. e4 loszuschlagen: Der mutigste Zug gegen Fischers Repertoire, der zur Bauernraubvariante im Sizilianer einlud und damit Bereitschaft signalisierte, die zweischneidigen Varianten zu spielen, die Fischer Jahre lang analysiert hatte.
Dabei sollte man nicht vergessen, dass praktisch alle russischen Spitzenspieler Spassky bei seiner Vorbereitung unterstützt hatten: Karpov spielte geheime Trainingswettkämpfe gegen Spassky, Tal, Petrosian, Keres und Smyslov erstellten ausführliche Dossiers über Fischers Stärken und Schwächen. Ein paar davon sind vor kurzem aus russischen Archiven aufgetaucht. Hier Zitate aus einer Auswahl dieser Dossiers.
Mikhail Tal:
"Im Sizilianer spielt Fischer mit Weiß generell gut erforschte Systeme. Das sind die Sozin-Variante (2…Sc6 und 5…d6), der Rauser-Angriff und die Drachenvariante - Systeme mit g3 (ich glaube, 5. Sb5 kann man ausschließen) gegen die Paulsen-Variante. Die einzige Variante, in der Fischer nicht immer den gleichen Zügen treu bleibt, ist seine Lieblingsvariante mit 2…d6 und 5…a6. Hier spielt er 6. Lc4, 6. h3, und 6. Lg5. Vielleicht sollte man bei dem Amerikaner auf den "Busch klopfen" - 24 Partien liefern dafür genug Zeit. Fischers Reaktion auf 1…c6 hinterlässt keinen großen Eindruck. Auf jeden Fall sollte das System, das er gegen Petrosian angewandt hat, nicht gefährlich sein. Auch seine Reaktion auf 3…Sf6 im Spanier (bei einem Turnier in den USA griff er zu 6. Lg5) stellt meiner Meinung nach kaum eine wirkungsvolle Waffe gegen dieses System dar.
Wenn es möglich wäre, Fischer von seinem Lieblingssystem im Sizilianer abzubringen, wäre Spasskys Aufgabe viel leichter. Ich bin sicher, Möglichkeiten, das zu tun (zum Beispiel 6. Lg5 und 6. Le2 - Geller) werden gesucht. Ich möchte die Aufmerksamkeit noch auf die Zugfolge 1. e4 c5 2. Sf3 d6 3. Sc3 lenken. In den zwei mir bekannten Partien spielte Fischer nicht 3…Sf6. Gegen Kurajica (Zagreb 1970) setzte er mit 3…Sa6 fort und in einem Blitzturnier spielte er gegen mich 3…e5. In beiden Fällen kam Fischer schlecht aus der Eröffnung. Vielleicht gefällt ihm 4. e5 nicht?"
Tigran Petrosian:
("a) Die Variante des Sizilianers mit 2…d6 und 5…a6 macht im Moment eine ernsthafte Krise durch, sowohl nach 6. Le2 als auch nach 6. Lg5. Es ist eine Frage des Geschmacks, welchen Plan man vorzieht und perfektioniert.
b) Gegen die Königsindische Verteidigung und die Grünfeld-Verteidigung müssen Systeme gewählt werden, die Weiß ein Bauernübergewicht im Zentrum geben.
c) Als Antwort auf 1. e4 kann man mit Ausnahme von 1…e5 (dem Spanier) fast alle Varianten gegen Fischer spielen.
d) Fischer muss mit Weiß durch viele Eröffnungen "gehetzt" werden."Keres:
"Da Fischer mit Weiß kaum je etwas anderes spielt als 1. e4, ist die Vorbereitung ziemlich eingeschränkt. Fischers Bandbreite mit Schwarz ist ebenfalls ziemlich eingegrenzt: als Antwort auf 1. e4 wählt er den Sizilianer und als Antwort auf 1. d4 spielt er mit Vorliebe Königsindisch, Grünfeld-Indisch oder Damengambit. Auch nach 1.Sf3 versucht er, die Partie in diese Systeme zu steuern und beantwortet 1.c4 oft mit 1…c5. Vielleicht kann man ihn so mit Tarrasch mit vertauschten Farben erwischen? Fischer hat diese Eröffnung kaum je gespielt, während Spassky sie gerne und ausgezeichnet spielt. Generell scheint eine solche strategische Eröffnung mit ein paar spannenden taktischen Möglichkeiten eine passende Waffe zu sein, vor allem, weil Weiß ein Zug mehr hat. (…)
a) Mit Weiß gegen den Sizilianer mit 2…d6 und 5…a6: Das ist ein sehr kompliziertes System, das nach 6. Lg5 eine Menge Vorbereitung verlangt. Da Fischer hier sehr viel Arbeit hinein gesteckt hat und die Stellung gut kennt, würde ich 6. Lg5 empfehlen, es sei denn, die Lage ist verzweifelt.
Ich glaube, dass 6. Le2 praktischer ist, vor allem, weil Geller ein großer Kenner dieses Systems ist. In Betracht gezogen werden kann auch 6. f4, was Weiß oft Chancen auf Königsangriff gibt. Der Zug 6. Be3 wurde noch nicht ausreichend genug erforscht, um ihn beurteilen zu können."
Smyslov:
"Das Eröffnungsrepertoire muss breit gefächert und auf Fischers spezifische Varianten zugeschnitten sein.
a) Zum Beispiel kann man 6. Le2 im Sizilianer in Betracht ziehen, wobei der Springer von f3 nach b3 geht. Jedes Vorgehen muss sorgfältig durchdacht werden und die Möglichkeit zum Ausgleich bieten, wenn man keinen Vorteil erzielen kann. Mit anderen Worten, man muss einen großen Sicherheitsspielraum schaffen.
b) Als Antwort auf den Königsinder, kann die Sämisch-Variante angewandt werden, ebenso wie ruhige Entwicklung, zum Beispiel 1. d4 Sf6 2. c4 g6 3. Sc3 Lg7 4. Sf3 d6 5. Lg5, etc. In der Grünfeld-Verteidigung wäre es interessant, das System mit 4. Db3 und 4. Lf4 zu untersuchen.
c) Als Antwort auf 1. e4 müssen klassische Systeme mit 1…e5 vorbereitet werden. Ich kann die Russische Verteidigung ebenso empfehlen wie Spanisch in seiner klassischen Form mit Sc6-a5 und c7-c5 analog der Partien von Fischer gegen Kholmov (Havanna 1965) und O`Kelly (Buenos Aires 1970), mit entsprechender Aktualisierung durch moderne Theorie.
d) Ich glaube nicht, dass die schwarze Verteidigung in einer Variante, die von Fischer sehr geschätzt wird, besonders stark ist: 1. c4 c5 2. Sf3 g6 3. d4 cd4 4. Sd4. Die Maroczy-Formation mit Bauern auf c4 und e4 verspricht Weiß eine solide Initiative."
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