Aufholjagd à la Carlsen

von Marco Baldauf
31.12.2017 – Der Dezember 2017 schien für Magnus Carlsen ein Monat zu werden, den er am liebsten ganz schnell wieder vergessen möchte: einem kränkelnden Auftritt beim London Chess Classic folgte ein fünfter Platz bei der Schnellschach-Weltmeisterschaft. Alle Hoffnungen waren also auf die Blitz-Weltmeisterschaft gerichtet. Doch dann auch hier ein schwacher Start. Carlsen brauchte also einen fantastischen zweiten Tag, um den Monat noch zu retten. Und ja, er hatte einen solchen Tag | Foto: Turnierseite

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Von sieben auf sechzehn in zehn Partien

Eine Aufholjagd vom allerfeinsten zeigte der frisch gekührte Blitz-Weltmeister Magnus Carlsen am gestrigen zweiten Tag der King Salman FIDE Blitz Weltmeisterschaften. Einem sehr verhaltenen Start am ersten Tag mit nur 7.0/11 folgte ein herausragender Tag Nr. 2: Neun Siege, bei zwei Remisen und keiner Niederlage stellten klar, dass Carlsen im Blitzschach nach wie vor als das Maß der Dinge zu gelten hat.

Rd. 12: Ein fehlerfreier Auftakt

Der Tag begann optimal für Carlsen. Mit Schwarz gelang ihm ein überzeugender Sieg gegen Alexander Grischuk. Grischuk ist ein äußerst gefährlicher Spieler, besonders im Blitz. 2015 stürzte er in Berlin in einem dramatischen Fotofinish Blitz-Weltmeister Carlsen vom Thron, 2016 kam er immerhin als Fünfter ins Ziel. Nicht vergessen werden darf sein Sieg gegen Carlsen in der Schlussrunde des Rapid-Events, der Carlsen dort den Titel kostete.

Alexander Grischuk: Nur unzufrieden mit oder bereits angeekelt von seiner Stellung? | Foto: Turnierseite

Carlsen gelang also die Revanche. Damit war der Grundstein für die Aufholjagd gelegt. Für Grischuk lief an diesem Tag hingegen nicht mehr viel zusammen. Aus den übrigen neun Partien erzielte er gerade mal etwas mehr als die Hälfte der Punkte und so rangierte er in der Endtabelle mit 13.0/21 lediglich unter ferner liefen.

Rd. 13: Starker Springer, schwacher Läufer

Läufer sind ganz allgemein betrachtet die stärkeren Figuren als Springer. So zumindest die Meinung der meisten Autoren und Großmeister, die ich gelesen oder gesprochen habe. Carlsen hingegen - und das ist eine einfach mal dahingestellte Beobachtung, die freilich diskutiert werden kann - gibt oft den Läufer für einen Springer ab. Man könnte hier jetzt Beispiele ohne Ende zeigen und würde dann auf ein Vielzahl an Gegenbeispielen treffen. Ohne sich die Mühe zu machen, Carlsens Partien statistisch auszuwerten, hat diese Diskussion auch rein spekulativen Charakter. Dennoch: gehen wir von der Tatsache aus, dass Carlsen eine Ausnahme zum (keinesfall unberechtigten) Läuferpaarfetischismus der Weltelite darstellt, könnte man darüber spekulieren, ob dies auch einen Grund dafür liefert, wieso der Norweger im Blitzen einfach einen Ticken stärker ist als der Rest. Denn im Blitz - und diese These ist vermutlich berechtigt, wenn auch diskutabel - sind die Springer besser als die Läufer. Der Springer bietet einfach mehr taktische Möglichkeiten, ist wendiger und agiler. Eben eine Figur für Trickser. Und tricksen ist bekanntlich die beste Strategie im Blitzschach.

 

Carlsen mit einem überzeugenden Sieg gegen Harikrishna | Foto: Turnierseite

Rd. 14: Ein Geschenk aus Aserbaidschan

"Einfach Züge machen und warten bis der Gegner etwas einstellt" - so die Carlsensche Blitzstrategie gegen Shakriyar Mamedyarov. Die Partie bietet an sich wenig Raum für Kommentare, ein trockenes Schwerfigurenendspiel, in dem Carlsen leichte Initiative hat und Druck gegen die vorgerückten weißen Bauern am Damenflügel ausübt. Mamedyarov ist zu passiver Verteidigung gezwungen, erblickt jedoch eine taktische Möglichkeit, den Bauern auf a4 zu decken. Ein Schuss, der definitiv nach hinten losgeht.

 

Rd. 15: Den  Titelverteidiger vom Brett gefegt

Sergey Karjakin hatte nach schwachem Ergebnis beim Rapid einen großartigen ersten Tag im Blitz zu verzeichnen und war mit 9.0/11 auf bestem Wege, seinen 2016 erworbenen Titel zu verteidigen. Am zweiten Tag erwischte er einen Stotterstart mit nur drei Remisen. Mit 10.5 Punkten lag er immer noch vor Carlsen, der den Rückstand mittlerweile jedoch auf einen halben Punkt verkürzt hatte. Nun also das direkte Aufeinandertreffen. Zum Leidwesen des Titelverteidigers zeigte Carlsen gerade hier eine der stärksten Partien des Tages.

 

Da war die Tabellenführung für Sergey Karjakin dahin | Foto: Turnierseite

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Rd. 16-18: Konsolidierung und Ausbau

In nur vier Partien hatte es Carlsen also an die Tabellenspitze geschafft. Es folgte ein wenig ereignisreiches Remis gegen Maxime Vachier-Lagrave, der somit als einziger Spieler ein ausgekämpftes Remis gegen den Norweger erreichte.

Maxime Vachier-Lagrave konnte dem Weltmeister Paroli bieten | Foto: Turnierseite

Die Runde darauf setzte Carlsen seine Siegesserie gegen Tigran Petrosian fort. Der Armenier ging Carlsen mit einem Figurenopfer zwar scharf an, der Norweger verteidigte sich jedoch präzise und münzte seinen Materialvorsprung letztlich um. In Runde 18 kam Carlsen zu einem Sieg gegen Ding Liren. Ding ist für das Kandidatenturnier im März in Berlin qualifiziert und spätestens seither zur absoluten Weltelite aufgestiegen. Carlsen erreichte wieder ein Endspiel mit Springer gegen Läufer, diesmal für die Leichtfiguren von ihren Damen unterstützt. Carlsen ging volles Risiko, opferte seinen Damenflügel um einen Vormarsch des h-Bauern am Königsflügel zu starten.

 

Ding Liren musste seine Dame passiv auf f1 parken. Ohne die Unterstützung der stärksten Figur gingen von seinen Freibauern am Damenflügel allerdings keine große Gefahr aus. Carlsens Springer hüpfte umher und Dings König lebte wegen des Bauern auf h3 in ständiger Gefahr. Ding hielt die Stellung lange zusammen, brach aber letztlich nach starker Verteidigung doch ein.

 

Rd. 19: Gewackelt, aber nicht gefallen

Zu einer haarigen Angelegenheit entpuppte sich die Partie gegen eine der vielversprechendsten russischen Nachwuchshoffnungen, Vladislav Artemiev. In einem relativ ruhigen Endspiel übersah Carlsen eine einfache taktische Möglichkeit seines Gegners. Artemiev ließ die Risenchance jedoch liegen. Tiefes Durchschnaufen bei den Fans des Weltmeisters, der in Folge zu einem fein herausgespielten Sieg im Endspiel kam.

 

Rd. 20-21: Entscheidung

Mit einem Punkt Vorsprung auf Sergey Karjakin ging Carlsen in die vorletzte Runde. Sein härtester Widersacher musste mit Schwarz gegen Levon Aronian antreten, der an diesem zweiten Tag mit 7.0/8 ebenso furios aufspielte wie Carlsen. Karjakin unterlag und blieb bei 13.5/20 stehen, Carlsen erfüllte hingegen seine Aufgabe gegen Anton Korobov und schraubt sein Konto auf uneinholbare 15.5 Punkte hoch. In der Schlussrunde lies Carlsen es als bereits feststehender Titelgewinner ruhig angehen und akzeptierte die frühe Punkteteilung von Levon Aronian. Aronian kam damit auf den 5. Rang, ein Ergebnis, das er sich nach 5.5/11 am ersten Tag wohl nicht erträumen konnte.

Nach 2009 und 2014 endlich wieder Blitzweltmeister: Magnus Carlsen | Foto: Turnierseite

Carlsens Partien der Runden 12-21:

 

Interview mit Magnus Carlsen

 

Magnus Carlsen im Interview | Quelle: ChessCast

Links

 


Marco Baldauf, Jahrgang 1990, spielt seit seinem sechsten Lebensjahr Schach. Zwei Mal wurde er Deutscher Jugendmeister, seit 2015 spielt er für die Schachfreunde Berlin in der Bundesliga. Für Chessbase schreibt er gelegentlich auf der Homepage, kommentiert live oder versucht sich als Autor von Fritztrainern.

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