Berlin 1928 (III) – Weltelite spielt Unter den Linden
Foto: Capablanca bei einer Simultanveranstaltung 1928 in Berlin. Nach seinem Sieg im „Tageblatt“-Turnier gefiel ihm Berlin so gut, dass er noch drei Wochen blieb und hier seinen 40. Geburtstag feierte. Quelle: Privatarchiv Hans-Jürgen Fresen
Als Jaques Mieses im Februar 1928 mit dem Paternoster in die Chefetage des Mosse-Verlags im Presseviertel in der Schützenstraße fuhr ahnte er nicht, dass auf ihn eine ebenso schwierige wie ehrenvolle Aufgabe erwartete. Hans Lachmann-Mosse, der Chef nach dem Tod des Unternehmensgründers Rudolf Mosse, erklärte dem Großmeister was er wollte. Mieses, der seit Jahrzehnten als Schachberichterstatter für den Mosse-Verlag arbeitete, sollte ein Schachturnier organisieren. Natürlich kein gewöhnliches Turnier. Lachmann-Mosse, vom Besuchererfolg des Jubiläumturniers der Berliner Schachgesellschaft im Februar beeindruckt, umriss seinen Auftrag kurz und knapp: „ Mieses, Sie haben 10.000 Mark zur Verfügung. Damit organisieren Sie mir im Oktober ein Turnier der Weltklasse in Berlin. Es wird das ‚Berliner Tageblatt Turnier’.“
Als Mieses wieder abwärts fuhr, machte er in Gedanken bereits eine Liste. Schließlich hatte er viel Erfahrung mit der Organisation von Spitzenturnieren. Die Höhepunkte auf diesem Gebiet waren für ihn San Sebastian 1911 und 1912 gewesen. Zuerst besuchte er Dr. Emanuel Lasker in seiner Wilmersdorfer Wohnung. Doch der Ex-Weltmeister winkte ab: zu viel Arbeit, zu wenig Zeit für die Vorbereitung auf ein solches Turnier. Neben der Arbeit kümmere er sich auch noch um seinen schwerkranken Bruder Berthold, dessen letztes Foto beim Jubiläums-Turnier der Berliner Schachgesellschaft gemacht worden ist (siehe Berlin 28 Folge 1). Dr. Berthold Lasker starb am 19. Oktober 1928.
Danach gestaltete sich die Zusammenstellung des Meisterfeldes zu einer Achterbahn der Gefühle für Mieses. Zuallererst sagte Weltmeister Alexander Aljechin ab, weil er erst am Jahresende freie Termine hatte. Kurz nach dem Niederschlag bestätigte Ex-Weltmeister Raoul Capablanca seine Teilnahme. Auch Frank Marshall sagte zu, da er ohnehin im Sommer eine Europatournee geplant hatte. Akiba Rubinstein und Dr. Milan Vidmar bestätigten ihre Teilnahme und Dr. Max Euwe zeigte großes Interesse, im Oktober in Berlin zu spielen. Mit den Großmeistern Aron Nimzowitsch, Rudolf Spielmann und Richard Reti wurde sich Mieses ebenfalls schnell einig.
Nur Efim Bogoljubow zeigte sich störrisch. Er kam mit vielen Sonderwünschen wie einem Extra-Startgeld, die Reisekosten und Unterkunft für seine Frau sollte der Veranstalter bezahlen usw. usw…
Die vielen Extrawürste, die Bogoljubow gebraten haben wollte, gingen Mieses auf die Nerven. Am Ende wurde es Mieses zu bunt. Er schaute über die Brillengläser seines Kneifers und er sagte, dass gute Preisgelder und ordentliche Konditionen für Reisekosten und Unterkunft ausreichen müssten. Und beendete das Gespräch damit, dass er auf ihn, Bogoljubow, nicht angewiesen sei. An dem Tag des Gesprächs hatte er die Zusage von Dr. Savielly Tartawower erhalten.
Diese Bemerkung erwies sich als etwas voreilig. Denn drei Monate später zog Dr. Milan Vidmar seine Zusage zurück, da man ihn zum Rektor der Universität Laibach gewählt hatte. Zur selben Zeit musste auch Dr. Max Euwe von einer Teilnahme Abstand nehmen, da er unvorhergesehene Arbeiten erledigen musste. Mieses, der ein doppelrundiges Turnier mit acht Großmeistern geplant hatte, kam vor Turnierbeginn doch noch in Schwierigkeiten, da Geza Maroczy erkrankte und absagen musste.
In dieser Situation traf der Turnierdirektor eine Entscheidung, die in Schachkreisen in Deutschland und Österreich für große Aufregung und Empörung sorgte: Er lud Dr. Siegbert Tarrasch aus München ein. Der 66jährige Meister hatte allerdings seit Jahren keine guten Resultate mehr erzielt. Nicht nur die Berliner hätten lieber den halb so alten Friedrich Sämisch stattdessen gesehen. Der Berliner spielte 1928 in exzellenter Form. Mieses verwies darauf, dass Sämischs guten Ergebnisse erst aus jüngster Zeit gute Ergebnisse stammten, während Tarrasch früher große Triumphe gefeiert habe. Die Wiener Schachzeitung kommentierte die Begründung süffisant mit dem Hinweis auf das Turnier in Baden-Baden 1925. Dort hatte Sämisch als Dritter hinter Aljechin und Rubinstein die übrige Weltelite unter den 21 Teilnehmern hinter sich gelassen – inklusive Tarrasch, der 13 Plätze hinter ihm ge landet war.
Café König, Unter den Linden
Am 11. Oktober 1928, einem Donnerstag, begann das Turnier im „Café König“ Unter den Linden. Es wurde fünfmal in der Woche jeweils von 10-14 und 15-17 Uhr gespielt. Mittwoch und Sonntag war spielfrei. Die Bedenkzeit betrug zwei Stunden für die ersten 30 Züge, danach eine Stunde für weitere 15 Züge. Trotz der ungewöhnlichen Spielzeiten kamen an jedem Tag zwischen 150 und 200 Zuschauer.
Wer nun gedacht hatte, man könne Partien von Weltklassespielern in Ruhe verfolgen, hatte sich getäuscht. Schon nach der ersten Runde gab es richtig Krach und wieder ging es um Tarrasch. Der Doktor erlitt eine Gallenentzündung und wollte schon aufgeben. Er tat es aber erst nach der dritten Runde. Als dann noch kolportiert wurde, Mieses habe ihn dazu überredet, stand der gebürtige Leipziger, der bereits viele Jahre in Berlin lebte, erneut im Kreuzfeuer der Kritik. Besonders die Befürworter von Sämisch gingen mit Mieses hart ins Gericht. Der Turnierorganisator und –schiedsrichter steckte die Vorwürfe ein. Immerhin ließ er die Spieler nicht unter dem Ausfall leiden. Jeder der Nichtpreisträger bekam für die nicht gespielten Partien gegen Tarrasch 200 Mark.
Dr. Savielly Tartakower umschrieb den deutlichen Erfolg von Capablanca (8,5 Punkte aus 12 Partien ohne Niederlage) mit dem Satz: „Capa kam, spielte gesundes Schach und siegte.“ Sein Held in diesem Turnier war aber Rubinstein, dem er ein außerordentliches Spiel attestierte: „Es war die großartige Tiefe, die der schweigsame Rubinstein in viele seiner Partien hineinlegte, weshalb sein Spiel auch die meiste Bewunderung hervorrief.“
Dass Rubinstein bereits zunehmend unter seiner psychischen Erkrankung litt, zeigte ein geradezu unglaublicher Vorfall in seiner Partie gegen Marshall mit Schwarz in der sechsten Runde. Tartakower schildert die Szene nach dem 28. Zug von Weiß so: „Die nunmehr erreichte Stellung ist offenbar für Weiß hoffnungslos, er hat zwei Bauern weniger und ein rettender ‚Schwindel’ ist nirgends zu erspähen. Aber Rubinstein, dem bis zum 30. Zuge mehr als 20 Minuten Bedenkzeit zur Verfügung standen, begann nun zur allgemeinen Verwunderung lange nachzudenken. Der Minutenzeiger näherte sich der Zwölf. Rubinstein warf wohl Blicke auf die Uhr, aber er zog nicht! Endlich entschloss er sich zur selbstverständlichen Folge 28. … Txd1 29. Dxd1 Dd5 30. Dc2 Ehe er seinen 30. Zug machen konnte, fiel sein Blättchen. Damit war die Bedenkzeit überschritten, eine klar gewonnene Partie für ihn verloren.“
Für Marshall blieb es in diesem Turnier der einzige volle Punkt – von Sieg kann man wohl kaum sprechen.
Partien von Runde 1 bis 14
Stand nach 14 Runden
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