Die Anatomie des Erfolgs (IV)

von Gennadi Sosonko
11.05.2017 – Vierter und letzter Teil von Gennadi Sosonkos Artikel über (unerlaubte) Mittel, mit denen man vielleicht seine Leistungen beim Schach verbessern kann, oder doch nicht: Kann man Beispiel mit Medikamenten Müdigkeit bekämpfen und die Konzentration erhöhen?

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Also – trinken Sie Kaffee, um gesund zu bleiben; denken Sie aber daran, dass er gering dosiert anregt, in großen Mengen dagegen deprimiert. Und noch etwas: Wenn Kaffee eine Rolle in Ihrem Leben spielt, dann trinken Sie ihn in guter Qualität und nicht als braunen Schlamm, selbst wenn auf der Packung 'Sieg' steht, wie in Orwells berühmtem Roman.

Ende des dritten Teils...

Wir sind nun bei der wichtigsten Frage angelangt: Sollten alle Pillen verboten werden, die die Konzentration erhöhen, die Müdigkeit verringern oder das Gedächtnis verbessern? Heutzutage ist es üblich, dass auch gesunde Menschen Mittel einnehmen, um bestimmte Körperfunktionen zu verbessern. Die biochemische Industrie entwickelt sich so rasant, dass neben der Frage, wie ein Kranker geheilt wird, die Frage auftaucht, wie man aus einem gesunden Menschen einen noch gesunderen macht.

Wie immer in Bereichen mit Umsätzen in Milliardenhöhe ist es nicht einfach, die Wahrheit von Berechnung und sogar Betrug zu unterscheiden. Hunderte von Webseiten bieten eine Reihe Mittelchen an, die einem jeden rezeptfrei zugänglich sind. Diese Mittel versprechen maximale geistige Leistung, Hilfe bei der Konzentration, Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses sowie Senkung von Müdigkeit und zwar ohne jegliche Risiken und Nebenwirkungen. Die obengenannten Versprechen findet man auf den Packungsbeilagen, in Verweisen auf Empfehlungen, über Rezensionen von begeisterten Kunden, die bereits am zweiten Tag der Einnahme eine deutliche Verbesserung verspürten. Längst existieren auch die sogenannten "Studenten Pillen", die den jungen Menschen helfen, den Stress während der Prüfungszeit zu bewältigen. Oder sollte das Wort helfen in Anführungszeichen stehen? Denn in Wirklichkeit handelt es sich um eine Mischung aus Vitaminen und anderen Substanzen, in erster Linie Coffein, sodass viele ihre Zweifel an der Wirkung der Pillen haben.
 
"Hier sollte man den Placebo Effekt berücksichtigen", sagt Herr Wittkamp – Professor an einer Amsterdamer Universität. "Mit dem gleichen Erfolg kann man einfach eine Tasse Kaffee trinken. Wenn aber der Student fest an die Wirkung derartiger Pillen glaubt, warum dann nicht – dies wird ihm ohne Zweifel auch helfen." Der Autor dieser Zeilen hat einmal gelesen, dass es zu einem unlauteren Wettbewerb kommen soll, wenn ein Student diese Pillen einnimmt, während ein anderer ohne sie auskommen muss. Diese Überlegungen lassen sich leicht auf Schach übertragen. Wenn jemand während seiner Partie damit zu kämpfen hat, seine Müdigkeit, die Ängste und die Nervosität in den Griff zu bekommen, während ein anderer irgendwelche Pillen geschluckt hat und dadurch die Ruhe in Person ist und souverän gewinnt – dagegen sollte man gnadenlos vorgehen.

Nein, ich kann diese Ansicht nicht teilen. Niemand hindert den Gegner daran, das Gleiche zu tun, solange diese Mittel nicht als verboten gelten. Nicht jeder kann wie der junge Capablanca antworten, der auf den Vorschlag hin, sein Glück im Casino San-Sebastian zu versuchen, in dem der Kubaner sein erstes internationales Turnier gewann, sagte: "Ich brauche das nicht." 

Raul Capablanca bei einem Simultan

Master Class Band 4: José Raúl Capablanca

Er war ein Wunderkind und um ihn ranken sich Legenden. In seinen besten Zeiten galt er gar als unbezwingbar und manche betrachten ihn als das größte Schachtalent aller Zeiten: Jose Raul Capablanca, geb. 1888 in Havanna.

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Derartige Überlegungen lassen leicht Zorn aufkommen: ja-aa-aa, er kann sich während der Partie eine Schweizer Schokolade leisten. Er nimmt Getränke zu sich, die in vielen Ländern verboten sind, daher bestimmt er auch die Partie bis zum letzten Zug. Unfair!

Die Idee, das Gehirn mit Hilfe künstlicher Mittel zu perfektionieren, ist zwar sehr verlockend, dennoch nicht neu. Lediglich die verwendeten Substanzen werden aktualisiert. Philosophisch betrachtet, hat sich die Menschheit noch nicht entschieden, wie sie derartigen Mittelchen gegenüber treten soll. Wird man in der Zukunft Stimulantien täglich einnehmen? Sollte eine Pille das Gedächtnis und die Konzentration des Schülers verbessern können, so würde wohl kaum ein Elternteil seinem Kind diese Möglichkeit verweigern.  

Aufgrund des Ärztemangels sind die Mediziner in England gezwungen, in Schichten zu arbeiten. Was wäre Ihnen lieber? Von einem nach mehrstündiger Arbeit erschöpften Arzt behandelt zu werden oder einem, der dank eingenommener Stimulantien hoch konzentriert arbeitet und keine Müdigkeit verspürt?

Im Gegensatz zu den meisten Sportarten, in denen eine blitzschnelle Reaktion entscheidet, kann man im Schach in Gedanken schwelgen, wenn auch nicht so ausgiebig wie damals, aber immerhin für die Dauer von einer halben Stunde und länger. Ganz davon zu schweigen, dass die Denkprozesse der Schachspieler nicht abgebrochen werden, während der Gegner am Zug ist. Diese langen Zeitsegmente verursachen eine Aufregung, die nicht selten schon im Hotelzimmer entsteht und zum Turniersaal mitgenommen wird. Die Folge dieser Aufregung sind lächerliche Fehler, impulsive Entscheidungen und grobe Patzer. Daraus folgen der Partieverlust und das verpatzte Turnier und zwar womöglich als Dauerzustand. Warum nicht auf ein Medikament zurückgreifen, wenn es nicht gelingt, die Müdigkeit und die Anspannung auf konventionelle Art und Weise zu bekämpfen?
 
In naher Zukunft werden wir zweifelsohne neue Mittel entdecken, die die kognitiven Fähigkeiten verbessern und sich als sehr wirksam erweisen werden. Bis dahin bleibt uns die Sichtweise der Fachleute, die neulich die renommierte Zeitschrift "Nature" veröffentlichte: Das beste Mittel, um das Gehirn optimal funktionieren zu lassen, ist …  –   Sie haben es schon erraten! –  ein gesunder und ausgiebiger Schlaf. 

Der Artikel erschien in russischer Sprache bei Chess-news.ru. Nachdruck in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung.

Quelle: http://chess-news.ru/node/23031?_utl_t=fb


Gennadi Sosonko ist ein niederländischer Großmeister russsicher Herkunft. Er spielte zwischen 1974 und 1996 an elf Schacholympiaden für die Niederlande. Später hat er mehrer Schachbücher mit biographischen Aufsätzen veröffentlicht.

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