Die Elo Inflation verstehen
Im Januar 2020 hatten die 50 weltbesten Spieler einen Eloschnitt von 2.735 Punkten. Im Januar 1980 waren es dagegen nur 2.581 Punkte. Diese starke Zunahme wird als Elo-Inflation bezeichnet. Der Gedanke, dass 2.600 Punkte vor 40 Jahren genau soviel wert waren wie 2.750 Punkte heute, ist weit verbreitet. Jeff Sonas hat mit seinem Artikel "Rating inflation - its causes and possible cures" (2009) maßgeblich dazu beigetragen. Er behauptete, dass die frühere Rating Untergrenze (Rating Floor) von 2.200 Punkten die Ursache allen Übels wäre, weil schwächere SpielerInnen, die bei einigen Turnieren zufällig gut abschnitten, ungerechtfertigterweise in die Datenbank gelangten und dann als Punktelieferanten dienten. Dies hätte zu einer systematischen Verzerrung der Elo-Zahlen geführt. Der englischsprachige Wikipedia Artikel "Elo Rating System" bezieht sich auf Sonas und erweckt den Eindruck, dass die Inflation ein Fehler im Elo-System ist. Manche Spitzenspieler teilten diese Ansicht (Nigel Short in ChessBase News, 2009).
Auch die Wissenschaft hat sich mit dem Thema beschäftigt. Howard (1999, 2001) brachte die Tatsache, dass die besten SchachspielerInnen immer jünger werden mit dem Flynn-Effekt in Zusammenhang. Nach Flynn (1987) sind die Ergebnisse von Intelligenz (IQ)-Tests in den Industrieländern bis in die 1990er Jahre ständig angestiegen. Gobet, Campitelli & Waters (2002) widersprachen Howard und machten bessere Trainingsbedingungen und Informationsübermittlung durch Bücher und Schach-Software, ein niedrigeres Start-Alter, ein größeres Turnier-Angebot und höhere Preisgelder dafür verantwortlich. Regan & Haworth (2011) bewerteten die Qualität von Zügen mit Schach-Engines als Benchmark und kamen zu dem Ergebnis, dass es wenig oder keine Elo-Inflation gibt und die SpielerInnen ihre Wertungszahlen verdienen. Strittmatter, Sunde & Zegners (2020) verwendeten eine ähnliche Methode und fanden heraus, dass sich die Spielstärke in den letzten 125 Jahren stark verbessert hat. Der Anstieg war während der 1990er Jahre am steilsten, wofür sie bessere Trainingsmöglichkeiten aufgrund der Digitalisierung verantwortlich machten.
Der Anstieg der Spielstärke in den letzten 125 Jahren ist noch keine Erklärung für die Elo-Inflation. Das Elo-System ist ein relatives und kein absolutes System. Wenn die Spielstärke aller SpielerInnen gleichmäßig ansteigt, dann verändern sich die Ratingzahlen nicht. Ist das Phänomen der Elo-Inflation auf einen Fehler im System zurückzuführen oder sind die SpielerInnen wirklich stärker geworden? Wenn ja, was sind die Ursachen? Zur Beantwortung dieser Fragen verwendete ich die Datenbank des Weltschachverbands FIDE und die Programmiersprache R (R Core Team, 2020). R ist eine frei zugängliche Standard-Software in der Statistik und wird von WissenschaftlerInnen auf der ganzen Welt ständig gepflegt und erweitert. FIDE-Ratinglisten ab Januar 2001 stehen auf der FIDE Webseite zum Download bereit, historische Listen von 1967 bis 2001 auf der OlimpBase Webseite (Bartelski, 2019). Ich habe alle diese Listen bis einschließlich Dezember 2019 zu einer großen Datenbank mit 361.187 SpielerInnen und 26.628.516 Einträgen verschmolzen.
Die SpielerInnen verdienen ihre Ratingzahlen
Abb. 1 A zeigt wie sich die Zahl der SpielerInnen mit einem Rating von 2.200 Elo-Punkten oder höher seit 1975 entwickelt hat. Die dazugehörige Kurve ist S-förmig oder sigmoidal. Sie beginnt und endet mit einem Plateau. Sie wird als logistische Funktion bezeichnet und hat folgende mathematische Formel:
Die Parameter A, B, C und D werden nach der "Methode der kleinsten Quadrate" ermittelt. Die Kurve wird so gelegt, dass die Summe der Abstände der Datenpunkte zu ihr möglichst klein ist. Dazu müssen die Abstände quadriert werden, sonst würden sich positive und negative Abstände gegenseitig aufheben. In Abb. 1 A ist y die Anzahl der SpielerInnen und x das Jahr. A ist der Abstand zwischen Endplateau und Anfangsplateau, B definiert die Steilheit der Kurve zwischen den Plateaus, C ist ihr Mittelpunkt oder Wendepunkt und D ihre Verschiebung entlang der y-Achse; e ist die Eulersche Zahl.
Die logistische Gleichung, die 1838 von dem belgischen Mathematiker Verhulst veröffentlicht wurde, beschreibt Wachstumsprozesse aller Art. Aufgrund der Endlichkeit aller Ressourcen kann es auf dieser Erde kein unbegrenztes Wachstum geben. Es nähert sich immer einem Sättigungswert oder Plateau an. Das Wachstum von Populationen – egal ob Mikroorganismen oder Menschen – erfolgt nach diesem Schema. Ausgefallenere Beispiele sind der Anstieg der Zahl der Universitätsgründungen in Europa und der bekannten chemischen Elemente als Funktionen der Zeit oder die Produktion von Rohstoffen wie Steinkohle, Kupfer und Zink (De Solla Price, 1974).
Das Endplateau einer logistischen Funktion ist häufig das Anfangsplateau einer neuen logistischen Funktion. Auf diese Weise kommt es zur Kettenbildung. De Solla Price hat dieses Phänomen als "Eskalation" bezeichnet (De Solla Price, 1974, S. 35). Ein aktuelles Beispiel ist die COVID-19-Pandemie, in der bereits über eine zweite und dritte Welle gesprochen wird, wobei eine Welle nichts anderes als eine logistische Stufe ist. Die Kurve in Abb. 1 B zeigt, wie sich die Rating-Maxima der 100 besten SpielerInnen von 1975 bis 2019 entwickelt haben. Sie ist durch Eskalation oder Verkettung dreier logistischer Funktionen entstanden, die farblich gekennzeichnet sind. Die FIDE hat den Rating-Floor von ursprünglich 2.200 Punkten auf 2.000 Punkte im Jahr 1992, 1.800 in 2002, 1.600 in 2004, 1.400 in 2006, 1.200 in 2009 und 1.000 in 2012 gesenkt. Aus Abb. 1 ist ersichtlich, dass der Rating Floor – anders als von Sonas (2009) behauptet – nicht den geringsten Einfluss auf die Entwicklung hatte.
Zusammenfassend ist die Zunahme der Elozahlen in den letzten Jahrzehnten als logistischer Wachstumsprozess aufzufassen und nicht auf einen systematischen Fehler im System zurückzuführen. Eine systemimmanente, inflationäre Entwicklung wäre nicht in eine Plateauphase gemündet. Die SpielerInnen verdienen ihre Ratingzahlen. Die alte "Nature versus Nurture" Debatte, ob Vererbung oder Umwelt die Eigenschaften eines Menschen bestimmen, kann hier zugunsten der Umwelt entschieden werden. Das Genom ändert sich nicht innerhalb so kurzer Zeit. Im Folgenden versuche ich diese Umwelteinflüsse näher zu charakterisieren. Inflation wird normalerweise mit steigenden Preisen assoziiert. Sie unterscheidet nicht zwischen Jung und Alt. Bei der Elo-Inflation ist das anders.
Die Elo-Inflation findet in der Kindheit und Jugend statt
Abb. 2 zeigt, wie sich die Spielstärke von aktiven SpielerInnen der Geburtsjahrgänge 1950 bis 1969, die mit 50 Jahren ein Rating von >= 2.200 Punkten aufwiesen, im Alter zwischen 40 und 50 Jahren verändert hat. Die 50 SpielerInnen des Geburtsjahrgangs 1950 hatten im Alter von 40 Jahren ein mittleres Rating von 2.360 Punkten. Mit 50 Jahren waren es 2.353 Punkte. Die 157 SpielerInnen des Jahrgangs 1969 starteten mit 2.357 Punkten und beendeten die 10 Jahres-Periode mit 2.327 Punkten. Die Differenz ist von -7 auf -30 Punkte angewachsen. Die Tendenz im mittleren Erwachsenenalter ist somit deflationär.
Die Elo-Inflation muss folglich bei den Jüngeren gesucht werden. Abb. 3 zeigt die Entwicklung der besten 100 männlichen Spieler verschiedener Geburtsjahrgänge. Jeder kleine, farbige Kreis repräsentiert den Mittelwert von mindestens 50 Spielern. Bei den Jahrgängen 1995-1999 waren 51 der späteren Top 100 - Spieler bereits im Alter von 10 Jahren aktiv. Die Jahrgänge 1955-1959 überschritten die 50er Grenze dagegen erst mit 20 Jahren. Die Spieler der Jahrgänge 1955-59 erreichten ihren Peak oder Spitzenwert von 2.523 Punkten im Alter von 41 Jahren. Der Peak der Geburtskohorte 1985-1989 lag deutlich höher bei 2.635 Punkten und wurde bereits im Alter von 28 Jahren erreicht. Das war aber auch die Obergrenze. Die Jahrgänge 1995-1999 zeigten keine weitere Zunahme der Ratingzahlen mehr. Die sogenannte Elo-Inflation findet somit hauptsächlich in der Kindheit und Jugend statt und ist mit Beendigung der Lernphase und Erreichen des Rating-Peaks beendet.
Das Einstiegs-Alter korreliert mit der späteren Spielstärke
Abb. 4 A zeigt, dass das Alter, in dem die SpielerInnen beginnen, Turniere zu spielen nicht nur mit dem Geburtsjahrgang sondern auch mit der Spielstärke negativ korreliert ist. Je höher die maximale Ratingzahl ist, die sie später erreichen, desto früher erscheinen sie in der Datenbank. Die Absenkung des Rating Floors spielt dabei nur eine Nebenrolle. Die 50 besten männlichen Spieler des Jahrgangs 1980 hatten bei ihrem Eintrittsalter von 15,9 Jahren ein mittleres Rating von 2.242 Punkten. Die 50 Topspieler des Geburtsjahrgangs 1990 starteten im Alter von 12,1 Jahren mit 2.135 Punkten und hatten im gleichen Alter von 15,9 Jahren bereits durchschnittlich 2.359 Punkte auf dem Konto.
Auch das Alter, in dem der Peak erreicht wird, hat kontinuierlich abgenommen (Abb. 4 B). Der Zusammenhang mit der Spielstärke ist hier umgekehrt. Die stärkste Gruppe erreichte ihren Zenit etwas später. Zukünftige SpitzenspielerInnen beginnen natürlich schon einige Jahre bevor sie ihr erstes Turnier spielen, sich intensiv mit Schach zu beschäftigen. Gobet & Ereku (2014) haben die Biografien einiger Super-Großmeister untersucht und ein durchweg einstelliges Start-Alter gefunden.
Lernen erfolgt in Stufen
Die Datenpunkte der Geburtskohorten in Abb. 3 lassen sich bis zum Erreichen des jeweiligen Maximums durch den oberen Teil einer logistischen Kurve anpassen, wie leicht zu erkennen ist. Ist das auch bei individuellen Lernkurven der Fall? Abb. 5 A zeigt die Elo-Entwicklung von Magnus Carlsen. Die Kurve wird durch Verkettung oder additive Kombination von 6 logistischen Funktionen erhalten. Die 1. Ableitung dieser neuen Funktion in Abb. 5 B beschreibt die Veränderung der Elozahl pro Jahr. Sie verdeutlicht, dass Carlsen's schachliche Entwicklung zwischen dem Alter von 10 und 24 Jahren in 6 Stufen mit abnehmender Intensität erfolgte. Sein bisheriges Maximum von 2.882 Punkten erreichte er im Alter von 23,4 Jahren. Die logistische Funktion ähnelt der Verteilungsfunktion der Gaußschen Normalverteilung. Deshalb sieht die Kurve in Abb. 5 B wie eine Aneinanderreihung von 6 Glockenkurven aus. Carlsen ist kein Einzelfall. Die Lernkurven aller Spieler zeigen dieses Phänomen. Anzahl, Höhe und Breite der einzelnen Stufen sind individuell verschieden. Aber das Prinzip des Lernens als eskalierendes, logistisches Wachstum gilt für GroßmeisterInnen und DurchschnittsspielerInnen gleichermaßen. Schon Arpad E. Elo, der Erfinder des Elosystems, hat einen stufenförmigen Verlauf des Lernens postuliert und ein plötzliches starkes Ansteigen der Spielstärke bei jungen SpielerInnen als Quantensprung ("quantum jump") bezeichnet (Elo, 2008, S. 105).
In Lehrbüchern der kognitiven Psychologie (Anderson, 2013, S. 127) findet man dagegen fälschlicherweise, dass Lernen einem Potenzgesetz folgt ("The power law of practice"). Diese Einschätzung geht maßgeblich auf Newell & Rosenbloom (1981) zurück. Durch Übung wird die Ausführungszeit von Tätigkeiten verkürzt. Wenn man auf doppelt-logarithmischem Papier die Ausführungszeit gegen die Anzahl der Versuche auftrug, erhielt man annähernd Geraden, weil Potenzfunktionen durch beidseitiges Logarithmieren in lineare Funktionen übergeführt werden. Das wurde allgemein als Beweis für die Gültigkeit des Potenzgesetzes akzeptiert. Das bekannteste Beispiel stammt von Crossman (1959), der herausfand, dass ArbeiterInnen in einer Zigarrenfabrik immer weniger Zeit brauchten, um eine Zigarre herzustellen, bis irgendwann eine untere Grenze erreicht war. Newell & Rosenbloom (1981) schlossen die logistische Funktion von vornherein von ihren Überlegungen aus, weil sie ansteigt und deshalb eine Verkürzung der Ausführungszeiten ihrer Ansicht nach nicht darstellbar war. Es gibt natürlich auch negatives logistisches Wachstum. Wenn diese Autoren der logistischen Formel ein Minuszeichen vorangestellt hätten, wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen. Gaschler, Progscha, Smallbone, Ram & Bilalić (2014) und Howard (2014) versuchten erfolglos, Lernkurven von SchachspielerInnen mithilfe einer Potenzfunktion anzupassen.
Die Talentiertesten profitieren am meisten von der Entwicklung
Die Kurven in Abb. 6 sind die Wahrscheinlichkeits-Dichtefunktionen der SpielerInnen unterschiedlicher Ratingklassen der Geburtsjahrgänge 1930 bis 2010. Die rote Kurve gehört den 120 SpielerInnen, die irgendwann in ihrer Karriere ein Rating von 2.700 Punkten oder höher erreicht haben. Darunter ist als einzige Frau Judit Polgár. Wenn Statistiker von Wahrscheinlichkeit sprechen, dann meinen sie die Fläche unter einer Kurve. Die Fläche links von der senkrechten gestrichelten Trennlinie bei Jahrgang 1975, beträgt 21,7 % der Gesamtfläche. Das bedeutet, dass 26 der 2.700+ SpielerInnen vor 1975 geboren sind, während 78,3 % oder 94 im Jahr 1975 oder später geboren sind. Je höher die Spielstärke ist, desto höher ist der prozentuale Anteil der nach 1975 Geborenen. Die drei schwächeren Gruppen zeigen an der Stelle, wo das Hauptmaximum der beiden stärksten Gruppen liegt – etwa bei Jahrgang 1986 – nur einen Nebenpeak.
Abb. 7 zeigt, wie sich die mittlere Spielstärke der besten 50, 101-150 und 401-450 SpielerInnen der Geburtsjahrgänge 1960 bis 1990 entwickelt hat. Die Schere zwischen den Top 50 und den schwächeren Gruppen klafft immer weiter auseinander. Beim Jahrgang 1960 ist der Unterschied zwischen den besten 50 und denen der Rangliste 401-450 etwa 250 Punkte, beim Jahrgang 1990 sind es schon fast 400 Punkte. Der stärkste Anstieg beginnt interessanterweise beim Jahrgang 1983 und ist bei der Top 50 - Gruppe viel stärker ausgeprägt als bei den schwächeren Gruppen. Das Absinken der Kurven der schwächeren Gruppen hängt damit zusammen, dass später geborene SpielerInnen immer weniger Zeit haben, ihr Ratingmaximum zu erreichen, weil die Datenbank nur bis einschließlich 2019 reicht. Dieser Effekt ist in der Top 50 - Gruppe nicht erkennbar.
Wenn sich die schachlichen Umweltbedingungen verbessern, dann sollte man eigentlich erwarten, dass alle gleichmäßig davon profitieren. Das ist hier nicht der Fall. Es hat eine Entwicklung stattgefunden, die den Stärksten am meisten zugutegekommen ist.
Diskussion
Die Argumentation von Sonas (2009), dass der Rating Floor für die Elo-Inflation verantwortlich ist, ist nicht stichhaltig. Genauso wenig sollte man glauben, dass Siegbert Tarrasch – der im Hauptberuf Arzt war und Schach nie professionell betrieben hat – eine Ratingzahl von 2.824 nach heutigem Maßstab hatte. Die historischen Chessmetrics Ratings von Sonas ignorieren, dass sich die Spielstärke in den letzten 125 Jahren nicht nur in der Spitze sondern vor allem auch in der Breite stark verbessert hat. Deshalb sind 15 der nach Chessmetrics 50 besten SpielerInnen vor 1900 geboren und hatten ein durchschnittliches 1-Jahres Rating von 2.799 Punkten. Das lineare Erwartungsmodel ("linear expectancy model") – das dem Ratingsystem von Sonas zugrundeliegt und von dem er behauptet, dass er es selbst entwickelt hat – hat Elo schon lange vorher erwähnt und als Verzerrung ("bias") kritisiert (Elo, 2008, S. 28, zuerst veröffentlicht 1978).
Die individuelle Entwicklung von SchachspielerInnen erfolgt in Stufen oder Wellen, wie am Beispiel von Magnus Carlsen gezeigt wird (Abb. 5). Starke Anstiege wechseln sich mit scheinbaren Ruhephasen ab, in denen jedoch neue Erfahrungen gesammelt und neue Kräfte für den nächsten Sprung akkumuliert werden. Wenn das schwächste Glied der Kette beseitigt ist, kommt es zu einer schlagartigen Entladung der aufgestauten Energie und zu einem plötzlichen Anstieg der Spielstärke, was Elo als Quantensprung bezeichnet hat. Die Plateauphasen in den Abb. 1 und 5 sind der Beweis dafür, dass das Elo-System nicht inflationär ist. Magnus Carlsen hat die höchste jemals erreichte Wertung und ist der stärkste Schachspieler aller Zeiten. Das Potenzgesetz des Lernens ist einer der langlebigsten Irrtümer in der Geschichte der kognitiven Psychologie. Potenzfunktionen können keine Stufen darstellen. Lernen ist eskalierendes logistisches Wachstum, um das Wort von De Solla Price (1974) zu gebrauchen.
Zukünftige WeltklassespielerInnen beginnen im einstelligen Alter Schach zu spielen. Die kritische Phase vor dem 10. Lebensjahr prägt die spätere Entwicklung. Wer dieses Zeitfenster verpasst, vergibt die Chance, ihr oder sein natürliches Potential voll auszuschöpfen. Je später der Einstieg erfolgt, desto geringer ist der Erfolg. Das alte Sprichwort "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" bringt es auf den Punkt. Schach ist nicht zuletzt dank Bobby Fischer immer populärer geworden. Die Menschen haben mehr Freizeit zur Verfügung. Das hat dazu geführt, dass Erwachsene mehr Zeit für Schach aufwenden und Kinder dazu animieren, es ihnen gleichzutun. Die Talentiertesten haben in den letzten Jahrzehnten immer früher und intensiver mit Schach begonnen (Abb. 4 A). Das ist einer der Hauptgründe für die sogenannte Elo-Inflation. Eine Verbreiterung des Talent-Pools als Ursache ist dagegen unwahrscheinlich. Es ist davon auszugehen, dass die Talentiertesten in den letzten Jahrzehnten schon immer vollzählig an Bord waren und Spitzentalente nicht einfach übersehen wurden.
Die orange Kurve in Abb. 7 zeigt einige kleinere Wellen aber auch einen Quantensprung im Elo'schen Sinn, der mit dem Geburtsjahrgang 1983 beginnt und für die letzte Stufe in Abb. 1 B (oranger Teil der Kurve) verantwortlich ist. Dieser abrupte Anstieg ist nicht alleine mit der kontinuierlichen Absenkung des Start-Alters erklärbar. Es besteht ein zeitlicher Zusammenhang mit der Digitalisierung im Schach, die eng mit dem Namen ChessBase verknüpft ist. Matthias Wüllenweber startete sein Projekt Mitte der 1980er Jahre. ChessBase hat das Schachtraining revolutioniert. Die Geburtsjahrgänge ab 1983 konnten daraus als Erste einen signifikanten Nutzen ziehen. SchachspielerInnen aller Leistungsklassen haben davon profitiert, aber die Talentiertesten am meisten. Diese Asymmetrie (Abb. 6 und 7), die offenbar für alle umweltbedingten Leistungssprünge im Schach gilt, ist der Schlüssel zum Verständnis der Elo-Inflation.
Die letzte Plateau-Phase hat ab etwa 2012 eingesetzt (Abb. 1 B). Es könnte sein, dass damit die natürliche menschliche Leistungsgrenze bereits ausgelotet ist. Die Umweltbedingungen lassen sich nicht unbegrenzt verbessern. Es ist kaum vorstellbar, dass eine weitere Absenkung des Start-Alters möglich ist und einen zusätzlichen Effekt brächte. Vielleicht gelingt der Forschung eines Tages im mentalen Bereich, was ihr im physischen Bereich mit Anabolika und Wachstumshormonen gelungen ist. Ob das wünschenswert ist, ist eine andere Frage.
Abbildungen:
Abbildung 1. Die Elo-Inflation in der FIDE-Datenbank. Sowohl die Anzahl der SpielerInnen mit Elo 2.200 oder höher (A) als auch das Rating der 100 besten SpielerInnen (B) ist stufenförmig gewachsen und lässt sich mit der logistischen Funktion beschreiben. In Abb. B sind drei logistische Funktionen miteinander verkettet.
Abbildung 2. Elo-Deflation im mittleren Erwachsenen-Alter. Je später geboren die SpielerInnen sind, desto größer ist ihr Elo-Verlust zwischen 40 und 50 Lebensjahren. Die Kurvenanpassung in den Abb. 2, 4 und 7 erfolgte mit einer Methode, die als "generalized additive modeling" (GAM) bekannt ist. Hierzu kam das R-Paket "itsadug" (van Rij, 2020) zum Einsatz.
Abbildung 3. Elo-Inflation in jungen Jahren. Je später geboren die SpielerInnen sind, desto höher ist ihr Spitzenwert oder Peak. Die Obergrenze ist bei den Jahrgängen 1985-89 erreicht. Die Jahrgänge 1995-99 zeigen keine weitere Steigerung der Ratingzahlen mehr. Die Kurven sind hier nicht angepasst, sondern die Punkte durch gerade Linien verbunden.
Abbildung 4. Abnahme des Einstiegs-Alters und Peak-Alters. Spätere Geburtsjahrgänge beginnen immer früher Turniere zu spielen und erreichen ihr Rating-Maximum in jüngeren Jahren. Es besteht ein Zusammenhang mit der Spielstärke. Beim Alter in dem der Peak erreicht wird, ist die Reihenfolge umgekehrt.
Abbildung 5. Lernen ist eskalierendes logistisches Wachstum. Die Elo-Entwicklung von Magnus Carlsen lässt sich zwischen dem Alter von 10 und 24 Jahren durch additive Kombination von sechs logistischen Funktionen darstellen (A). Die 1. Ableitung dieser neuen Funktion ist in Abb. B zu sehen. Das Geburtsdatum von Carlsen ist bekannt. Deshalb konnte das Alter in Dezimalzahlen berechnet werden, wobei wegen der Schaltjahre ein Jahr mit 365,25 Tagen angesetzt wurde.
Abbildung 6. Die talentiertesten SpielerInnen profitieren am meisten (I). Wahrscheinlichkeitsdichte-Kurven der Geburtsjahrgänge 1930-2010. Der prozentuale Anteil der SpielerInnen, die nach 1975 geboren sind, nimmt mit steigender Ratingzahl zu.
Abbildung 7. Die talentiertesten SpielerInnen profitieren am meisten (II). Die Schere zwischen den Top 50 und den Top 401-450 SpielerInnen klafft immer weiter auseinander. Der stärkste Wachstumsschub beginnt mit dem Jahrgang 1983.
Literaturstellen:
Anderson, J. R. (2013), Kognitive Psychologie, Springer VS, Berlin Heidelberg. Zuerst veröffentlicht von Worth Publishers, New York, 2010.
Bartelski, W. (2020), OlimpBase, Elo lists 1971-2001
Crossman, E. R. F. W. (1959). A Theory of the Acquisition of Speed-Skill. Ergonomics, 2:2, 153-166.
De Solla Price, D. J. (1974). Little Science, Big Science, Suhrkamp, Frankfurt a. Main. Zuerst veröffentlicht von Columbia University Press, New York (1963)
Elo, A. E. (2008). The Rating of Chessplayers, Past & Present. Bronx, NY: Ishi Press International. (zuerst veröffentlicht 1978)
Flynn, J. R. (1987). Massive IQ gains in 14 nations: what IQ tests really measure. Psychological Bulletin, 101, 171–191.
Gaschler, R., Progscha, J., Smallbone, K., Ram, N., Bilalić, M. (2014). Playing off the curve - testing quantitative predictions of skill acquisition theories in development of chess performance. Front. Psychol., 5: 923.
Gobet, F., & Ereku, M. H. (2014). Checkmate to deliberate practice: the case of Magnus Carlsen. Front. Psychol. 5: 878
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Chess News (2009). Nigel Short on being number one in Britain again.
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