"Ein bemerkenswert mutiges Turnier"

von Gregor Poniewasz
19.02.2024 – Das Freestyle-Turnier im Weissenhaus sollte einen neuen Meilenstein in Bezug auf Schachturnier-Präsentation setzten, hatte Jan Henric Buettner versprochen. Tatsächlich wurden die Erwartungen übertroffen. Am meisten Spaß hatten die Spieler selber. Nicht Eröffnungswissen, sondern Kreativität und Talent standen im Vordergrund. Gregor Poniewasz hat die Töne und Bilder des letzten Spieltages gesammelt.

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Carlsen gewinnt "sein" Format im Weissenhaus

Von Gregor Poniewasz

Der Händedruck zu Beginn der wichtigsten Partie zwischen den zwei wichtigsten Männern an den Brettern war nicht erzwungen, nicht künstlich, nicht halbherzig, nicht halb verunglückt wie so oft bei Schachturnieren; stattdessen war es ein echter, ein ehrlicher, ein ernstgemeinter Händedruck zwischen Carlsen und Caruana vor ihrem Schicksalsspiel, das das Turnier entscheiden würde.

In diesem Händedruck der zwei weltbesten Schachspieler nach FIDE-ELO und den einzigen über 2800 sah man Respekt, lange Bekanntschaft und Lust auf ein Spiel mit neuen Schach960-Karten. Dieser Moment drückte schon vor dem Kampf aus, was Magnus Carlsen danach zu seinem Turniersieg sagte: Mit diesem Turnierformat „ist ein Traum für mich wahrgeworden, es bedeutet mir sehr viel, es war das erste seiner Art.“ „Ich hatte schon mit vielen Leuten über so ein Turnier gesprochen“ – Schach960 – „aber er“ – Turnierveranstalter Jan Henric Buettner – „war der, der gesagt hat ‚ja, lass‘ uns das machen!‘, und ich mag diesen Enthusiasmus.“

Miss Angola am Brett der Finalisten

Carlsens Notationsformular

Perfekter Spielraum

Freude und Enthusiasmus für dieses revolutionäre Turnier war sichtbar und erlebbar in dem fast überperfekt eingerichtetem Turnier-Raum in Jan Henric Buettners Gut Weißenhaus an der Ostsee nahe Lübeck: Die gediegene Atmosphäre mit zugfreien Spieler-Plätzen, schalldämmenden Teppichen und angenehmem Licht setzte ein bemerkenswert mutiges Turnier in Szene, das den Schach960-Erfinder und -Namensgeber Bobby Fischer sicher glänzende Augen beschert hätte: Alles atmete Respekt vor der Idee der Legende, das klassische Schach von der Diktatur des Auswendiglernens zu befreien. Fischer besaß Weitsicht, denn zur Zeit des ersten Fischer-Random-Chess-Turniers 1996 gab es fast keine Vorbereitung mit Computer-Schach-Engines, so wie sie heute üblich und nicht kleiner Teil des Erfolgs oder Misserfolgs eines Spielers ist. Als Verneigung vor seinem damaligen Gewinn des ersten Fischer-Random-Turniers war Péter Lékó als Kommentator nach Weißenhaus eingeladen worden: Die kurzweiligen Live-Kommentar-Videos mit Tania Sachdev und Niclas Huschenbeth hatten sogar an Freitagnachmittagen knapp 10.000 Zuschauer, eine sehr gute Zahl für dieses unübliche Schachformat und die Uhrzeit.

Und auch Veranstalter Buettner sah man die Glücklichkeit über seine Unternehmung mit diesem Format und den absolut bemerkenswert hochkarätigen Spielern an: „Wir hätten es nicht besser treffen können“ eröffnet er vor dem letzten Spieltag sichtlich stolz, aber auch aufgewühlt, die Veranstaltung und meinte die Gewinnpaarung Carlsen/Caruana.

Mastermind Jan Henric Buettner und Fiona Steil-Antoni

Jan Henric Buettner mit Gattin und Miss Angola

Nach dem Sieg von Carlsen sah man fast ein Feuer der Freude in Buettners Augen brennen und noch vor der Siegerehrung machte er, ganz der Entrepreneur, Ankündigungen zu seinen nächsten Ideen: Das Turnier würde in Weißenhaus in einem Jahr eine neue Runde bekommen, versprach er, und er sprudelte nur so vor Möglichkeiten wie Formel-1-Parallelen und einem Grand-Slam-Ansatz mit mehreren Turnieren im Jahresverlauf auf verschiedenen Kontinenten und einem Millionen-Dollar-Preisgeld, dieses Mal waren es 200.000. Und Hikaru Nakamura, der wegen eines anderen Turniers abgesagt hatte, würde er gern einladen – in der Tat würde das die Runde der sehr unterschiedlichen aber allesamt hervorragenden Spieler komplettieren, die rechnerisch durschnittliche ELO-Zahl von 2763 der Teilnehmer machte Weißenhaus kalkulatorisch zu einem Top-4-der-Welt-Bereichs-Event.

Und auch den Spielern selbst sah man regelrechte Freude über die Veranstaltung an, nur Ding Liren litt äußerlich sichtbar unter seinem schlechten Lauf; an einer Stelle kämpfte er mit Niesen, aber er schien nicht wirklich krank zu sein. „Ich bin sicher dass die Spieler das hier ebenso genossen haben“ sagte Carlsen, und ein aufgeräumter Alireza Firouzja bestätigte: „Hier geht es um Kreativität und Talent, das Format ist wirklich gut.“ Selbst für die Medienleute war es eine selten angenehme und wirklich quasi hautnahe Gelegenheit, diesen großen Teil der Schach-Weltspitze zu erleben. Buettners Team um Weißenhaus-Hotelchefs Natalie und Frank Nagel hatten dazu die Zahl der Zugänge zum Spielort radikal beschränkt, und so konnten Medienvertreter in den wenigen Stunden des letzten Turniertages zuweilen sogar allein nur 2 Meter von den Spielern am Brett das Geschehen verfolgen. Diese intime Atmosphäre brachte auch Ruhe in die Beobachtung, und das Faszinosum, dass diese Top-Spieler Menschen wie Du und ich sind, aber dennoch nur wenige Zentimeter entfernt mit Sportler-Puls von 120 und höchstkonzentriertem Denken arbeiten, wurde spürbar: Während der Betrachter in entspannter Gemütlichkeit von Brett zu Brett schlendert wird in unmittelbarer Nähe äußerlich unsichtbar fast regungslos Gehirnhöchstleistung erbracht. Selten ist so deutlich offenbar, was die Kapazität des Menschen ausmacht – seine Fähigkeit zu denken.

Ganz regungslos blieben die Spieler nicht, Gukesh und Firouzja wackelten von Anfang an unter dem Tisch unaufhörlich mit den Füßen, zur Hälfte der Zeit aber tanzte fast Aronian – der bei der Auslosung der Stellung gegähnt hatte – mit dem Körper im Sitz und gegen Ende wippten auch die mit allen Wassern gewaschenen Superprofis Caruana und Carlsen mit den Beinen. Fast alle Spieler machten ab und zu die Runde zu den anderen Brettern. Dauerläufer war Aronian, der sich am Rande der Spieltische am Anfang seelenruhig selbst einen Tee zubereitete und sich später apfelessenderweise sogar nicht zu schade war Medienleuten auf den schmalen Gängen um die Tische auszuweichen. Keymer und Firouzja blieben auch länger an einzelnen Brettern stehen, auffällig war, dass Carlsen zwar auch einige Male umherging, aber nie länger als 5 Sekungen auf ein Brett sah: Ob es ihn langweilte, es ihm egal war, er so schnell sowieso nichts ableiten konnte oder aber ob er schlichtweg in 5 Sekunden jede Stellung durchdrungen hatte wie nur er es kann weiß nur der beste Schachspieler der Welt selbst.

Die Stimmung insgesamt war natürlich hochkonzentriert, aber es war vollständig still im Raum, und Carlsen, Caruana und Aronian hatten sogar während der Spiele ein Lächeln für interessierte Medienbesucher übrig, die minutenlang auf ein Spiel starrten. Und so ging es fast schon zu wie im heimischen Wohnzimmer, dazu trug natürlich auch bei, dass – undenkbar bei klassischem Schachformat und umso faszinierender hier – den Spielern nach Auslosung der 960-Position vor dem Partiestart einige Minuten Bedenkzeit gegeben wurde, die diese zum Teil nutzten, um unter sich – Konkurrenten! – die ungewohnte Figurenstellung hörbar im Video-Livestream zu erörtern. Dazu nutzten sie die nur wenige Meter neben den Spieltischen stehende kapitale Ledersitzgruppen mit turniergroßem Extrabrett. Einige Spieler bevorzugten die Konzentration auf die ausgeloste Stellung allein: Carlsen blickte sichtbar nachdenklich aber nicht angestrengt auf die ungewohnte Stellung, Firouzja sagte nach dem Turnier dass er von den 10 erlaubten Vor-Bedenkminuten ganze 7  zur inneren Beruhigung genutzt hätte und nur 3 Minuten zur Beschäftigung mit der Stellung. Während des Spiels waren die meisten Spieler äußerlich beobachtet in ihrem Element – wie üblich drehte Carlsen gewonnene Figuren des Gegners in seinen Fingern und viele zeigten ihre typischen Kopf-in-den-Händen-Konzentrations-Gestiken.

Denkerposen

Wie sehr die gediegene angenehme Atmosphäre des Spielortes sich positiv auch auf die Spieler übertragen hatte war sogar am Ende zu spüren: Noch vor wenigen Jahren wurden klassische Turniere in neongrell ausgeleuchteten nackt möblierten hallenartigen Räumen mit einer Zwangs-Pressekonferenz beendet, bei der man den Spielern fast physische Schmerzen ansehen konnte, so wenig hatten sie Lust zu dem Verhör nach dem Spiel. Dementsprechend uninspiriert, aussagelos und kurz waren die Statements. Zwar gab es hier außer von Carlsen nach dem Turnier keine Statements auf der Bühne, aber Carlsen gab sein Resumee zu der Veranstaltung natürlich in bester Laune aber geradezu freiwillig ab und Keymer unterhielt sich völlig gelöst mit Caruana und anderen lautstark nach dem Spiel über Stellungsdetails.

Vorher waren Carlsen und selbst Verlierer Caruana sich nicht zu schade gewesen die Figuren nach ihrem Spiel überflüssigerweise gemeinsam wieder auf dem Brett aufzubauen. Währenddessen – es war immer noch absolut still trotz der nun anwesenden ca. 30 Medienleute – verfielen sie bei ihrem entspannt wirkenden Zwiegespräch über ihr Spiel unnötigerweise ins Flüstern: Alle anderen Spiele waren längst vorbei gewesen. Auch ein Indiz für die ruhige und konzentrationsfördernde Atmosphäre im Spielraum; Flüstern von Besuchern wurde ebenso unterbunden wie auch nur leises Piepen von Kameras beim Auslösen. Die gelöste Stimmung war auch am Spielerverhalten sichtbar: Zwar blieben die Snacks in den einzelnen Spieler-Kabinen – eine Tafel Schokolade, Schokoladenriegel, Weintrauben, Bananen, Äpfel und verschiedene Softdrinks – weitgehend unberührt, doch Carlsen ging selbst in seine Kabine zurück um sich eine weitere Flasche Wasser zu holen, er trank während des Spiels einen Liter, obwohl er nicht zu schwitzen schien. Überhaupt schien er sehr gelöst und entspannt, seine Freundin und sein Vater kamen erst nach dem Spiel in den Raum, aber nach der Ehrung auf der Bühne und einem kurzen Interview sagte er er wäre jetzt müde und hätte keine Lust mehr auf viel Aktion am Abend.

Auch äußerlich war diese Schach-Veranstaltung eine auf einem höheren Level, eher zu vergleichen mit klassischen Celebrity-Events: Alle Spieler waren mit unterschiedlich farbigen Samt-Sakkos vom Hamburger Modemacher Frank Rudolf ausgestattet worden, die vor Ort weit eleganter aussahen als in den Videostreams, und traten sogar in weißen Hemden an – eine selbst in Spitzenschachkreisen unübliche Eleganz.

Und so machte es auch nichts, dass der jugendlich-fröhliche Firouzja das Outfit mit einer viel zu großen Anzughose und einem falschrum eingesetztem Manschettenknopf ergänzt hatte. Oder dass für alle Spieler das Fußwerk leger erlaubt geblieben war, wobei Ding Lirens Sneakers im Super-Alarm-Design oder Alirezas bei jedem Schritt unglaublich laut quietschenden alienartigen Sportschuhe die Eleganz modern durchbrachen.

Sneakershow

Der großgewachsene Keymer war im Anzug erschienen, der Amerikaner Caruana in seiner üblichen korrekten Jeans, alle schienen tatsächlich äußerlich sehr entspannt zu sein, vielleicht aber auch Ergebnis des 960-Formats, das natürlich nichts an den FIDE-ELOs ändert. Gerade auch deswegen eine schöne, entspannte aber damit keinesfalls weniger spannende Veranstaltung, die gespielten Partien waren bekanntermaßen zuweilen höchstspannend, wie Lékó, Sachdev und Huschenbeth in ihren Kommentaren zu Recht immer wieder hervorhoben und anhand von Zugabfolgen zeigten.

Dass unmittelbar nach diesem dann doch medial sehr aufmerksamkeitsstarken Turnier die Schachkonservativen eine Welle der Kritik an diesem vermeintlich unschachlichen 960-Format lostreten belegt vielmehr, dass dies der Anfang einer Veränderung sein kann: Schachstreamer wie der Brite Lawrence Trent oder der Hamburger Georgios Souleidis wanderten ebenso mit interessiert-zufriedenen Gesichtern durch den Raum wie Turnierorganisator Großmeister Sebastian Siebrecht. Carlsen, der die Teilnahme an der letzten Weltmeisterschaft im wesentlichen mangels Lust an der elenden Eröffnungspaukerei abgesagt hatte, war konzeptioneller Kopf hinter der Turnierorganisation und hatte von Buettner freie Hand bekommen. Er strahlte nach dem Turnier regelrecht und sagte wörtlich er hätte sich auch sehr glücklich über diese 960-Veranstaltung geäußert wenn es nicht so gut für ihn gelaufen wäre.

Farbenfrohe Siegerehrung

Der Sieger

Den Kritikern, die herbeizuschreiben suchen, dass Fischer Random bald wieder in der Versenkung verschwinden würde, sei gesagt, dass im Februar 2024 im beschaulichen Weißenhaus an der deutschen Ostsee ein Grundstein auf das Schachbrett gelegt wurde, auf den turnierlich viel aufgebaut werden könnte.

Weissenhaus Privat Resort

Und dieser Ort in der Provinz hat schon einmal jüngst Weltbedeutung erlangt – hier hatten sich nämlich 2022 die G7-Staaten-Außenminister getroffen. Die Leuchtturmwirkung der Weißenhaus Freestyle Chess Challenge sollte man also nicht unterschätzen…


Gregor Poniewasz, Jahrgang 1969, arbeitet im digitalen Marketing und ist ein begeisterter Hobbyschachspieler. Er verfolgt das Geschehen im Turnierschach sehr intensiv und interessiert sich vor allem für die technischen Aspekte von Schachengines, besonders seit dem Start von Alpha / Leela Zero.