Erinnerungen an Johannes Eising

von Dr. Robert Hübner
28.04.2023 – Johannes Eising (1935-2022), in Magdeburg geboren, gehörte in den 1960er und 1970er Jahren zu den besten Spielern der Bundesrepublik Deutschland. Er war Nationalspieler, erhielt aber niemals den angestrebten IM-Titel. Johannes Eising starb am 1. September 2022. Ein Nachruf von Robert Hübner.

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Erinnerungen an Johannes Eising

In Köln war um 1960 Dr. Paul Tröger (1913-1992) von allen als der führende Meister der Region anerkannt. Er hatte 1957 die Meisterschaft der Bundesrepublik Deutschland vor W. Unzicker gewonnen, und auch 1959 einen ausgezeichneten Platz belegt (3.-4. mit G. Pfeiffer hinter W. Unzicker und L. Schmid). Es tauchten aber nun einige junge Spieler auf, die an seinem Thron rütteln wollten.

Einer von ihnen war Johannes Eising. Er kam am 30. Mai 1935 in Magdeburg zur Welt. Bereits 1955 nahm er mit gutem Ergebnis an der Meisterschaft der Deutschen Demokratischen Republik in Zwickau teil (4.-5. mit J. Franz, 1. W. Uhlmann). Auch 1957 in Sömmerda erzielte er bei derselben Veranstaltung einen hohen Platz.

Ende 1957 verließ er zusammen mit Hans Besser (1935-2002) sein Geburtsland, um sich in der Bundesrepublik Deutschland niederzulassen. Köln wählte er zu seinem Wohnsitz. Er immatrikulierte sich an der dortigen Universität, hatte jedoch nicht die Absicht zu studieren, sondern erstrebte nur einen offiziellen Status; er brachte es wohl auf etwa sechzig Semester.
Seine Hauptbeschäftigung bestand im Schachspielen. Von seinen ersten Taten in Köln weiß ich nichts zu berichten, obwohl ich hin und wieder mit ihm zusammentraf. Er besuchte meinen Verein (Eisenbahner-Schachverein „Turm“-Köln) nur selten, weil dort hauptsächlich Fünf-Minuten-Blitzpartien gespielt wurden – und das ging ihm zu schnell. „Blitzschach ist ein Kampf Uhr gegen Uhr, und Fernschach ist ein Kampf Buch gegen Buch“, pflegte er mit scherzhaft mürrischem Unterton zu sagen.

Er hat sich aber offenbar die Teilnahmeberechtigung am Qualifikationsturnier zur Meisterschaft der Bundesrepublik Deutschland (genannt „Kandidatenturnier“) in Berlin 1960 erkämpft. Er belegte mit 8½ aus 13 den 2.-6. Platz (nach Wertung den 5. Platz); das berechtigte ihn zur Teilnahme an der Meisterschaft in Bad Pyrmont 1961 (7 aus 15).

Von 1961 bis 1976 nahm er sieben Mal an der Meisterschaft der Bundesrepublik Deutschland teil, Seine beste Platzierung erreichte er 1974 in Menden (2. Platz hinter P. Ostermeyer), seine stärkste Leistung zeigte er wohl 1967 in Kiel (5.-6. Platz mit D. Mohrlok, +3 -1 =11).
Er strebte in dieser Zeit danach, den Titel „Internationaler Meister“ zu erringen. Aber obwohl er in zahlreichen Internationalen Turnieren „zweiten Ranges“ (zum Beispiel die B-Gruppen in Wijk aan Zee und Amsterdam) spielte, gelang ihm nie der Durchbruch zu einer stetigen Leistung.

Den Betrachter seines Spiels erfüllt dies zunächst mit Erstaunen, denn Johannes Eising legte seine Partien sorgfältig an, spielte ein gesundes Positionsschach und konnte die stärksten Meister mit eisernem Griff zerquetschen. Zwei Beispiele seien vorgestellt.


Es ist nicht einfach anzugeben, wo Schwarz den entscheidenden Fehler beging.
 

Auch in dieser Partie glitt Schwarz beinahe unmerklich in ein verlorenes Endspiel hinein.

Hätte Johannes Eising solche Leistungen mit einiger Regelmäßigkeit vollbringen können, wäre er offenbar ein starker Großmeister geworden. Auch in dynamischen Stellungen war sein Verständnis nicht schlecht entwickelt. Was hinderte ihn am Erreichen besserer Erfolge? War er schwach im taktischen Bereich? Auch das möchte ich nicht sagen. Er kam aber beinahe in jeder Partie in heftige Zeitnot; sie war sein treuester Begleiter in seiner Schachlaufbahn. Oft habe ich dies selbst miterlebt. Der große Zeiger seiner tickenden Schachuhr kroch auf die Zwölf zu und begann das Fallblättchen zu heben, während die rechte Seite seines Partieformulars noch blütenweiß war. Johannes hob seinen Arm; er drohte zu ziehen – aber dann fuhr die Hand durch seinen dichten Haarschopf und sank auf den Tisch zurück. Nach einigen Sekunden wiederholte sich dieser Bewegungsablauf, und wieder und wieder … Bei Mannschaftskämpfen sorgte er daher oft für Spannung bei den übrigen Mitgliedern der Mannschaft. Nervenschwache Naturen konnten das Zuschauen nicht ertragen und liefen davon.

In Zeitnot verdarb er manche aussichtsreiche Stellung. Auch gegen weniger erfahrene Gegner konnte er ins Schwimmen geraten und büßte Punkte ein; gelegentlich verlor er auch durch Zeitüberschreitung.

Natürlich war Langsamkeit bei der Variantenberechnung nicht die Hauptursache für diese Erscheinung. Die gewaltige Verantwortung, die für den Spieler mit jedem Zug verbunden ist, drückte ihn schwer; Entscheidungsfreudigkeit fehlte ihm gänzlich.
Johannes Eising war ein angenehmer Mann, der sich nicht in den Vordergrund drängte; dabei war er immer hilfsbereit. Manchen erfreute er mit seinem trockenen Humor. Es war nicht seine Absicht, im quirlenden Getriebe der Gesellschaft eine Rolle zu spielen; er richtete sich aufs bescheidenste ein und übte sich in Bedürfnislosigkeit.

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, daß er in seinem Wesen Großmeister Sämisch ähnelte. Auch der war ja immer in Zeitnot und war nicht auf bürgerliche Lebensführung erpicht. Aber in Wirklichkeit waren sie grundverschieden. Sämisch vergaß die Uhr, und das Ergebnis der Partie war ihm nicht wichtig. Johannes Eising dagegen haderte durchaus mit dem Schicksal seiner Partien. Sämisch schwebte mit Großartigkeit hoch über den Dingen des Alltags; Johannes Eising schenkte in seiner selbstgewählten Beschränkung Kleinigkeiten große Aufmerksamkeit. Stets sah man ihn mit ein und derselben abgeschabten Aktentasche umherwandeln, in der er viele nützliche Dinge mitführte: anregende Mittel zum Gebrauch beim Schachspielen, beruhigende Pillen zum Einschlafen, ein Paar Ersatzsocken und anderes mehr. Wenn er diese Schatztruhe öffnete, konnte man auf Überraschungen gefaßt sein.

Als Johannes Eising Ende der siebziger Jahre die Hoffnung verlor, den Titel „Internationaler Meister“ zu erringen, beschränkte er sich hauptsächlich auf die Teilnahme an Mannschaftskämpfen. Außerdem versorgte er eine Schachecke in einer Aachener Tageszeitung. Allmählich wurde er verschrobener. Er erwarb die Kenntnis unfehlbarer Methoden zur Förderung der Gesundheit, die er in seiner Gutherzigkeit auch anderen zugutekommen lassen wollte. Seine matte, energielose Erscheinung war jedoch keine Empfehlung für die Mittel und Vorschriften zur Lebensführung, die er anpries.

In meiner Jugend war Johannes Eising ein wichtiger Spielpartner für mich, von dessen Stellungsverständnis ich viel gelernt habe. Ich habe acht Turnierpartien mit ihm gespielt. Ich will die letzte dieser Partien vorführen.
 


Die Partie zeigt, daß es keineswegs genügte, eine schwierige, unübersichtliche Stellung herbeizuführen, um Johannes Eising aus dem Sattel zu heben. Aber es gelang ihm nicht in befriedigendem Maße, sein gutes Schachverständnis in zählbare Punkte umzusetzen.


Zum letzten Mal sah ich Johannes Eising als Zuschauer beim Weltmeisterschaftskampf in Bonn 2008. Er war freundlich und wohlwollend wie immer. Sofort wollte er mich zu seinen Vorstellungen von gesunder Lebensweise bekehren, öffnete die bekannte Aktentasche und entnahm ihr das einschlägige Material. Dann betrachteten wir gemeinsam das Geschehen auf dem Schachbrett (Kramnik-Anand, 5. Partie).

Später verschwand er aus seiner winzigen Einzimmerwohnung in der Nähe der Universität Köln, und ich weiß nicht, wo er seinen Lebensabend verbracht hat. Er starb am 1. September 2022.

Ein solch liebenswürdiges Original wie Johannes Eising könnte, so fürchte ich, in der heutigen Zeit voll hektischer Betriebsamkeit kaum mehr existieren.
 

Anmerkung der Redaktion: Robert Hübner wies daraufhin, dass die Angaben zu den Titeln in den Kopfdaten der ChessBase-Partien häufig unzutreffend sind. Zum Zeitpunkt der Partie gegen Eising 1968 war Robert Hübner noch kein Großmeister, nicht einmal Internationaler Meister. Den Titel FIDE-Meister gab es noch gar nicht.


Robert Hübner, Großmeister, gehörte in den 1970er bis 1990er Jahren zu den besten Schachspielern der Welt und spielte mehrfach um die Weltmeisterschaft mit. Der promovierte Altphilologe ist Autor zahlreicher Aufsätze und einer Reihe von Büchern.