Erinnerungen an Robert Hübner

von Dr. Thorsten Heedt
28.01.2025 – Einer, der Robert Hübner über eine lange Zeit sehr gut kennengelernt hatte, war Dr. Thorsten Heedt. Er erhielt regelmäßig Schachunterricht und war schließlich so gut mit Robert Hübner befreundet, dass dieser sich gerne bereit erklärte, bei der Hochzeit von Thorsten Heedt Trauzeuge zu sein. Einige ganz persönliche Erinnerungen...

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Notizen eines überforderten Schülers

Erinnerungen an GM Dr. Robert Hübner (1948-2025)

Es begab sich einst vor ca. 20 Jahren, dass ich meinen früheren Vereinskollegen GM Dr. Frank Holzke fragte, ich sei so ein Fan von Robert Hübner, ob er nicht wisse, wie man diesen kontaktieren könne. Er sagte, kein Problem, er wisse seine Adresse, man solle ihm am besten handschriftlich schreiben, dann antworte er garantiert – ebenfalls handschriftlich. Gesagt, getan - ich verfasste ein seitenlanges glühendes Fanschreiben, wo ich außerdem meine schachlichen Mängel haarklein darlegte und ihn um Unterricht ersuchte. Zu meiner großen Überraschung sagte er zu, und alsbald fand ich mich in einer spartanisch eingerichteten Wohnung in Solingen wieder. Wir saßen in einem kleinen Zimmer, ich bekam ein Glas Wasser, und mein Idol, die frühere Nr. 3 der Schachwelt, saß mir gegenüber.

Er hatte aus meinen Partien bereits messerscharf geschlossen, dass ich zwar ein paar Remis gegen starke Spieler geschafft hatte, aber dies seien nur Partien, wo der schwächere Spieler irgendwie ein Unentschieden abgeklammert habe, es fehle meinen Partien der rote Faden; es sei nirgendwo zu sehen, dass ich z.B. einen schwachen Punkt belagere o.ä. Daran müsse man arbeiten. 

Ich hatte große Angst, mich zu blamieren, und andererseits Angst, den großen Star, der mir narzisstisch sehr verletzlich erschien, durch irgendeinen dummen Kommentar zu verärgern und einen frühzeitigen Rauswurf zu provozieren. Die Unterrichtstunden gestalteten sich sehr quälend. Denn sie liefen etwa nach folgendem Schema ab:

Ich bekam eine Stellung aufgebaut, und der Meister fragte etwas wie folgt (in der ersten Stunde hatte ich Schwarz, spielte französisch, und sollte die richtigen Verteidigungszüge finden):

- „Wer steht besser? Welche Drohung hat der Weiße, und wie kann man sich dagegen verteidigen?“

Dann gab ich eine Antwort (z.B. „Weiß hat großen Vorteil“).

- RH: „Natürlich steht Schwarz auf Gewinn. Das sieht man sofort“.

- TH: „Ach so, ich denke jedenfalls sollte Schwarz hier …Le7 ziehen“

- RH: (kopfschüttelnd) – „Dieser Zug kommt als Einziger überhaupt nicht in Betracht“ und so fort.

Das konnte stundenlang so weitergehen. Es erinnert an den Satz im chirurgischen OP: „Ein harter Tadel ist Lobes genug“. Es handelte sich hier also um einen sehr strengen Lehrer, am Ende der Stunde fühlte ich mich wie ein Idiot.

Aber tatsächlich gewann ich 2007 zum ersten Mal die Ärztemeisterschaft (und 2014 noch einmal).

„Lieber Thorsten!

Für Deine Zuschriften danke ich Dir, und ich gratuliere Dir herzlich zum Gewinn der Ärztemeisterschaft. Vielleicht sollte ich ab jetzt bei Dir Unterricht nehmen - nicht umgekehrt.“

Ohne den Unterricht bei ihm hätte ich das niemals geschafft.

Als ich nach einem allgemeinen Denkschema fragte, wie ich an eine Stellung herangehen solle, winkte er ab. Schach sei ein konkretes Spiel, wenn nur ein Bauer an anderer Stelle stehe, sei alles anders, deswegen könne man keine Regeln aufstellen, sondern müsse jedes Mal neu nachdenken.

Später versuchte er mir dennoch weiterzuhelfen und sagte, das Erste und Wichtigste sei es, sich zu fragen: „Was droht der Gegner“? Sonst hatte ich den Eindruck, dass er Stellungen vor allem nach strukturellen Merkmalen beurteilte, weniger nach dynamischen Möglichkeiten, die er zudem gelegentlich unterschätzte.

Was ich schnell feststellte war, dass der Unterricht wirklich sehr anstrengend war, besonders psychisch, da mir ständig meine Fehler nachgewiesen wurden und ich fragte mich manches Mal, warum ich überhaupt noch komme. Ich ging aber dennoch über Jahre hin jedes Jahr ca. sechs bis zehnmal zu ihm und nahm Unterricht. Mir wurde klar, dass er – viel mehr als im Schach – ein großartiger Mentor im Allgemeinen war, in dem Sinne, dass er mich wichtige Dinge für das Leben lehrte: Denn Robert Hübner war ein extrem kritischer Mensch. Er machte sich immer und überall ein eigenes Bild. Er vertiefte sich in eine Sache, in kleinste Details, hatte dicke Bücher auf dem Tisch, wo er mit kleinster Schrift Anmerkungen hineinschrieb, ein typischer Gelehrter. Die meisten Menschen haben ja irgendjemand, dem sie nachfolgen, an dessen Urteil sie sich entlanghangeln. Er aber nicht. Typisch z.B., als ich ihm einen Kommentar zu einem Buch empfahl: RH (abwinkend): „Ich lese selten Sekundärliteratur“.

Die großen Namen beeindruckten ihn nicht. So fand er Goethe nicht besonders überzeugend, überhaupt neigte er dazu, Dinge und Personen sehr kritisch zu beurteilen, mit der Ausnahme von Schiller: Dem billigte er zu, gute Dinge geschrieben zu haben. Die meisten Schachspieler fand er auch nicht besonders überzeugend, allerdings berichtete er mir, er habe einmal mit Caruana analysiert (als dieser noch sehr jung war), und fand, dass dieser ihn überzeugt habe; er habe ein tiefes Schachverständnis gezeigt und auf ihn Eindruck gemacht. Aus dem könne etwas werden.

Als ich mit ihm einmal Morphy-Partien anschaute und mich über einen Fehler wunderte, sagte er, dass die Spieler dieser Zeit viel schwächer gewesen seien als die heutigen, damals habe sich das Schachspiel halt erst entwickelt. Über Fischer schrieb er ein sehr kritisches Buch, wo er dem ja oft glorifizierten früheren Weltmeister viele Fehlurteile nachwies. Der kritische Geist Hübners hat mir später sehr geholfen, um mich beruflich und persönlich weiterzuentwickeln. Ich werde das sehr vermissen.

Auch die Genauigkeit in allen, selbst den kleinsten Dingen hat mir klargemacht, dass dies das Charakteristikum großer Geister ist. So machte er sich daran das Riesenwerk, die Ilias (er war vor allem „Graecist“, also Experte für Griechisch) neu zu übersetzen, weil ihm die bisherigen nicht gefielen. Einmal – ich habe es noch nicht wiedergefunden – schenkte er mir zum Geburtstag einige Seiten seiner handgeschriebenen Übersetzung.

Ihn faszinierte eine Zeitlang die Ikonenmalerei und unter Anleitung einer steinalten Nonne, die dies beherrschte, malte er selber eine, mit glänzendem Ergebnis.

So wie Paula Modersohn-Becker nach Paris fuhr, um ägyptische Mumienporträts zu studieren, versuchte sich Robert Hübner auch an diesen, ebenfalls mit sehr gutem Ergebnis.

Überhaupt befasste er sich lieber mit länger zurückliegenden Epochen. So fand er die Malerei des Mittelalters interessant, oder Bilder von Caravaggio, einmal besuchten wir dann ausnahmsweise zusammen eine Matisse-Ausstellung, aber schon dies war ihm ein Stück weit suspekt, er schätzte die alten Meister weit höher ein.

Vom Charakter her fand ich ihn vielschichtig: Da standen unverbunden nebeneinander ein „verletztes Kind“ (ich vermute strenge Eltern), was schonmal wütend werden konnte (z.B. zeigte er sich verärgert über Behörden aller Art), andererseits hatte er eine sehr schalkhafte Seite und fast jeder Satz, den er äußerte, war gleichzeitig gelehrt, ironisch und pointiert. Dann konnte er aber auch sehr bemüht sein um gute Sitten, hatte eine sehr liebenswürdige und verantwortungsvolle Seite (kümmerte sich rührend um seinen todkranken Bruder und nahm ihn zu sich auf), hatte Werte von Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit. Es gab aber auch eine entrückte Seite, man konnte ihn nicht wirklich erreichen, da war ein gewisser Schutzmantel um ihn herum, er war immer auch ein wenig distanziert, er verwendete gern sehr formale Wendungen, wie z.B. in Mails: „Lieber Thorsten, für Deine Zuschrift danke ich Dir aufs Beste“ u.ä.

Seine Sprachbegabung war legendär, so lernte er mühelos finnisch, fuhr gerne dorthin in Urlaub, und übersetzte finnische satirische Geschichtchen, die aber etwas sperrig waren (ich las es einmal Patienten auf der Psychiatrie vor; niemand lachte). Er hatte ein massives Streben nach Autonomie, Unabhängigkeit, ja Autarkie, ich glaube ebenfalls als Reaktion auf Verletzungen der Kindheit.

Ähnlich wie Morphy und Fischer stellte er innerlichen Abstand zum Schach her, behauptete, dass ihn das im Grunde gar nicht mehr interessiere (obwohl es ja einen Großteil seines Lebens ausgemacht hatte).

Ich glaube, wie in seinen melancholischen Schriften über alte Weggefährten des Schachvereins zum Ausdruck kommt, dass der Schachverein und die Kölner Schachszene früher eine sichere Heimstatt für ihn waren. Auf der Schachweltbühne hingegen kam er als sensibler Charakter zunehmend unter Druck und scheiterte ein Stück weit daran.

Anfangs hatte ich bis zur nächsten Stunde bei ihm das Lösen von Studien als Aufgabe erhalten, die aber regelmäßig viel zu schwer für mich waren. Wenige könnte ich lösen, aber die Aufgaben brachten mich immer zur kompletten Verzweiflung (während Hübner selbst teilweise blind die schwersten Studien in der Küche oder auf der Toilette sitzend löste).

Irgendwann bot ich ihm das „Du“ an, und der Unterricht wurde weniger streng, wir fingen an Schnellpartien zu spielen, ich 30 min., er 15 (oder ähnliche Zeitkontrollen), meist setzte es Niederlagen, selten gab es ein Remis, noch seltener Siege (er schüttelte dann nur unwirsch den Kopf, ohne die Partie weiter zu betrachten, danach setzte es die nächste Niederlage).

Modische Neuerungen wie das Internet waren ihm anfangs suspekt, so dass er sich mit Computern nicht so gut auskannte. Einmal verschoben wir den Unterricht, weil ich zwei Stunden brauchte, um seinen Laptop mit verschiedenen Tools von zahllosen Viren zu befreien, überall auf dem Bildschirm erschienen Pop-ups.

Jedenfalls war eigentlich das Schönste, wenn ich ihn besuchte, die Möglichkeit mit ihm über Literatur und Philosophie zu sprechen. Denn das war immer unglaublich gehaltvoll. Natürlich fehlten auch hier launige Kommentare nicht:

- TH: „Robert, was ist eigentlich der Sinn des Lebens“?

– RH: „Ich weiß ganz sicher, was der Sinn des Lebens ist!

– TH (mit großen Augen): „Ach ja, welcher denn, da bin ich gespannt!“

– RH: „Ganz einfach, es gibt keinen Sinn, das ist 100% sicher!“

Einmal war ich stolz über eine eigene Gedichtsammlung, die ich ihm natürlich begeistert zeigte und hoffte auf ein positives Votum meines Helden. Er kniff die Augen zusammen, überflog kurz die Werke, maximal 20 sec. lang und antwortete kurz: „Sind die nicht etwas rückwärtsgewandt“? Gemeint war offenkundig, dass sie belanglos waren und den Stil vergangener Zeiten erfolglos imitierten.

Ich veröffentlichte das Buch unter dem Titel „100 rückwärtsgewandte Gedichte“. Ich heiratete 2009, frech fragte ich den Meister, ob er nicht Trauzeuge sein wolle? Zu meiner großen Überraschung sagte er zu.

Er kam in einem weißen Schlangenlederkostüm, hatte sich richtig schick gemacht für den Anlass.

Lieber Robert, möge es Dir im Himmel gut gehen. Ruhe in Frieden.
Ich vermisse Dich, Du warst einzigartig.


Dr. med. Thorsten Heedt, MHBA ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Leitender Oberarzt einer psychosomatischen Fachklinik, Experte für Traumatherapie, Autor mehrerer psychiatrischer Fachbücher, spielt bei der SG Porz und war 2 x Deutscher Ärztemeister im Schach (2007, 2014)
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