Eröffnungsstrategien beim Kandidatenturnier 2020/2021 – Teil 1

von Joshua Doknjas
12.05.2021 – Das Kandidatenturnier 2020/2021 endete am 27. April mit einem Sieg von Ian Nepomniachtchi (Bild), der Maxime Vachier-Lagrave, Anish Giri und Fabiano Caruana auf die Plätze verwies. In einem zweiteiligen Artikel wirft der kanadische FM und Theorieexperte Joshua Doknjas einen Blick auf wichtige Eröffnungstrends und Neuerungen, die beim Kandidatenturnier zum Tragen kamen. | Foto: Lennart Ootes

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Eröffnungstrends in Jekaterinburg

Eine der interessantesten Begleiterscheinungen von Topturnieren sind die zahlreichen und oft sehr kreativen Eröffnungsideen, die dort in der Praxis getestet werden. Und gerade beim Kandidatenturnier waren eine Reihe interessanter Entwicklungen in der Eröffnung zu sehen. Denn die acht Kandidaten haben sich sorgfältig auf dieses Turnier vorbereitet und Monate damit verbracht, Eröffnungsüberraschungen für ihre Gegner vorzubereiten.

Der erste Teil meines Rückblicks auf das Kandidatenturnier beschäftigt sich mit Eröffnungsideen, die in der ersten Hälfte des Turniers (in den Runden 1 bis 7) zu sehen waren. Besonders Giri und Caruana haben hier eine Reihe von bemerkenswerten Ideen aufs Brett gebracht, und diese Ideen haben maßgeblich zur Theorie im Katalanen, im klassischen Slawen und der Variante mit 6...Lc5 im Spanier beigetragen. Die untenstehenden Analysen der Partien zeigen, dass ein paar dieser Ideen die bisherige Bewertung einer Reihe von Eröffnungen über den Haufen geworfen haben.

Scharfes Spiel in der Englischen Symmetrievariante

In Runde 1 des Kandidatenturniers spielte Anish Giri gegen Ian Nepomniachtchi und zeigte gleich zu Beginn des Turniers, wie viel Zeit und Energie er in die Eröffnungsvorbereitung gesteckt hatte. Im zwölften Zug brachte er eine neue Idee aufs Brett, die zu großen Komplikationen, zweischneidigen Stellungen und Qualitätsopfern führte.

Nepomniachtchi bewies seine Defensivqualitäten und schaffte es, die kritische Variante zu finden und sich aus der Gefahrenzone zu manövrieren. Plötzlich ging die Initiative dann an Nepomniachtchi über, der schließlich ein schwieriges Endspiel gewinnen konnte, in dem Weiß kurz davor stand, sich erfolgreich mit einer Festung zu verteidigen.

 

Anish Giri vs Ian Nepomniachtchi, Runde 3 | Photo: Lennart Ootes

Caruanas doppeltes Bauernopfer

Caruanas Repertoire mit Schwarz (klassisches Slawisch und Spanisch mit 6…Lc5) war vor dem Turnier schwer vorherzusagen. In Runde drei spielte Caruana mit Schwarz gegen Ding Liren und überraschte seinen Gegner nicht nur mit Slawisch, sondern brachte auch gleich eine verblüffende Neuerung im neunten Zug, bei der er zwei Bauern ins Geschäft steckte. Doch wie Nepomniachtchi gegen Giri, so fand auch Ding eine der kritischen Varianten und schaffte es, die Komplikationen heil zu überstehen. Dann passierte Caruana das Missgeschick, in einer vorbereiteten Variante zwei Züge zu vertauschen und landete dadurch schließlich in einer Stellung, in der er nicht genug Kompensation für die beiden Bauern hatte und verlor die Partie.

Das Ergebnis der Partie sagt jedoch nichts über den Wert von Caruanas Neuerung aus, und ich bin gespannt, wie sich die Theorie in dieser Variante nach 10.e4 entwickelt. Die dann entstehenden Stellungen sind extrem kompliziert und voller scharfer Ideen.

 

Ding Liren | Foto: Lennart Ootes

Giris …h5-h4 im Katalanen

Katalanisch gehört zum Repertoire vieler Spitzenspieler und Ding Liren, der mit Weiß fast ausschließlich geschlossene Eröffnungen spielt, ist ein Experte darin. In Runde 4 probierte Giri gegen Ding Lirens Katalanisch das seltene Abspiel mit 4…a5!?, was zu einer Stellung führte, die wegen der hängenden Bauern des Schwarzen zunächst vorteilhaft für Weiß aussah. Aber Giri hatte eine Reihe tiefer Ideen vorbereitet, die auf dem Vorstoß …h5-h4 beruhten, der dieses System nicht nur voll spielbar macht, sondern Schwarz sogar ausgezeichnete Chancen gibt, in manchen Varianten um die Initiative zu kämpfen (siehe Vidit – Giri in den Anmerkungen unten).

Angesichts der Tatsache, dass Giri genug Vertrauen in das System mit 4…a5 hatte, um es gegen einen der besten Kenner des Katalanen anzuwenden, wäre ich nicht überrascht, wenn sich dieser Zug neben anderen, bewährten Systemen, gegen Katalanisch zu spielen, zu einer der Hauptvarianten entwickelt.

 

Anish Giri sucht nach neuen Wegen, um gegen Katalanisch zu spielen | Foto: Lennart Ootes

Von AlphaZero inspiriertes Spiel gegen Grünfeld

Ich sollte darauf hinweisen, dass alle hier in diesem Artikel vorgestellten Ideen von den Spielern mit Sicherheit vorher ausgiebig mit Hilfe von Engines analysiert wurden. Vor allem die Partie Caruana gegen Nepomniachtchi weist deutliche Parallelen zu AlphaZeros berühmtem Vorstoß mit dem h-Bauern gegen Grünfeld auf. Gegen Nepomniachtchis Grünfeld spielt Caruana die klassische Abtauschvariante mit 7.Lc4 und entscheidet sich dann für eine moderne Idee mit h4-h5, um Druck auf die schwarzen Felder am Königsflügel auszuüben. Nepomniachtchi reagiert gut und findet eine Möglichkeit, die Partie zu vereinfachen, was zu einem für Schwarz etwas schlechteren Endspiel führt, dass Nepomniachtchi bequem Remis hält.

 

Neue Ideen im Spanier mit 6…Lc5

In der ersten Hälfte des Kandidatenturniers musste sich Caruana zwei Mal gegen eine der gefährlichsten Varianten im Spanier mit 6....Lc5 verteidigen (10.a5). In beiden Partien zeigte Caruana sehr gutes Verständnis der entstehenden Stellungen und wartete mit einer Reihe neuer Ideen auf. In seiner Partie gegen Grischuk war Caruanas zwölfter Zug wahrscheinlich eine große Überraschung für Grischuk, denn bislang hatte dieser Zug aus taktischen Gründen als nicht spielbar gegolten. Aber der Versuch, die "taktischen Mängel" dieses Zuges auszunutzen, hätte sich leicht als Bumerang erweisen können, da Schwarz eine starke Initiative entfaltet und gefährliche Angriffschancen am Königsflügel erhält (siehe die Anmerkung zum 13. Zug von Weiß).

 

Kurze Besprechung einer theoretisch interessanten Partie: Alexander Grischuk und Fabiano Caruana | Photo: Lennart Ootes

Nepomniachtchis Französische Verteidigung

Caruanas Umstellung seines Eröffnungsrepertoires wurde bereits erwähnt, aber die verblüffendste Änderung im Repertoire war wohl Nepomniachtchis Entscheidung, in den Runden 3 und 7 vom Najdorf Sizilianer, den er sonst spielt, zum Winawer-Franzosen zu wechseln. In der extrem wichtigen Partie aus Runde 7 zwischen MVL (3,5/6) und Nepomniachtchi (4.5/6) entschied sich MVL für einen relativ neuen und kritischen Aufbau gegen Winawer und erhielt aus der Eröffnung heraus eine sehr bequeme Stellung.

Dies war die einzige Partie im Kandidatenturnier, in der Nepomniachtchis Rechenfähigkeiten und seine Zähigkeit in der Verteidigung nicht ausgereicht haben, um gegen die tiefe, gezielte Vorbereitung und das starke Spiel seines Gegners im Mittelspiel zu bestehen.

 

Der spätere Turniersieger Ian Nepomniachtchi | Foto: Lennart Ootes

Vor- und Nachteile tiefer Vorbereitung

Immer wieder war in diesem Artikel von tiefer, origineller Vorbereitung die Rede. Der vielleicht attraktivste Grund, eine solche Vorbereitung anzustreben, besteht darin, dass der Gegner gezwungen ist, am Brett Probleme zu lösen, während der vorbereitete Spieler sich auf seine Hausanalyse verlassen kann. Dies führt zu einem Zeitvorteil auf der Uhr und auch zu einem psychologischen Vorteil, denn der Spieler, der mit der Vorbereitung konfrontiert wird, könnte sich über mögliche Fallen, die der Gegner vorbereitet, Gedanken machen. So hat Grischuk nach seiner Partie gegen Caruana angemerkt, dass es unangenehm ist, die Hälfte der Partie gegen einen Computer zu spielen (Caruanas Vorbereitung).

Manche Spieler können vielleicht besser mit der tiefen Vorbereitung des Gegners umgehen als andere. In den ersten beiden Partien, die in diesem Artikel erörtert wurden, haben wir gesehen, wie Nepomniachtchi und Ding Liren beide einen Weg gefunden haben, um ihre Eröffnungsprobleme zu lösen und am Ende sogar noch zu gewinnen. Vor allem für Nepomniachtchi, der mit Schwarz ein zweischneidiges und relativ kleines Repertoire hat (Grünfeld und Winawer oder Najdorf), ist die Fähigkeit, ruhig zu rechnen, wenn der Gegner einen mit tiefer Vorbereitung konfrontiert, extrem wichtig.

Eine weitere Warnung vor den Nachteilen, die es mit sich bringen kann, sich allzusehr auf tiefe Vorbereitung zu verlassen, war die Partie Ding Liren – Caruana, die deutlich gemacht hat, dass es unmöglich ist, sich jedes Detail zu merken (17…Sg6 anstelle von 17…Tc8!), und dass die Analyse mit dem Computer manchmal ein falsches Gefühl von Wissen und Sicherheit vermittelt. In Wirklichkeit kann die Stellung genauso so gefährlich (oder sogar gefährlicher) für die Seite sein, die vorbereitet ist, aber oft erkennt man das erst am Brett.

Natürlich bleibt tiefe Vorbereitung ein wichtiger Bestandteil des Spitzenschachs, aber ich glaube, es ist für Spieler jeder Spielstärke nützlich, die Grenzen und Risiken dieser Form der Vorbereitung zu bgreifen, um sie zu erkennen und zu verringen, bevor es dafür am Brett zu spät ist.

Dies ist der erste Teil eines zweiteiligen Artikels über die Beiträge des Kandidatenturniers zur aktuellen Eröffnungstheorie. Teil zwei folgt in Kürze.

Offizielle Seite des Kandidatenturniers


Joshua Doknjas ist ein kanadischer FIDE-Meister und Autor von Büchern über den Najdorf Sizilianer und den Spanier. Er ist Schachliebhaber, verfolgt das aktuelle Schachgeschehen und gibt gerne Schachunterricht und schreibt gerne über Schach. Besonders interessant findet er die Rolle, die Engines bei der Eröffnungsvorbereitung spielen und die Frage, wie KI das moderne Schach beeinflusst hat.

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