In dieser Rezension möchte ich einen Blick auf Markus Raggers neuen Kurs "Überraschungswaffe gegen Sizilianisch mit 2…d6" werfen, der in der ChessBase "60 Minutes" Reihe erschienen ist. Die österreichische Nummer 1 beschäftigt sich hier mit dem Zug 4.Dxd4 (nach 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4) in der Sizilianischen Verteidigung, der lange Zeit kaum gespielt wurde, aber jetzt immer populärer wird. Auch Weltklassespieler wie Hikaru Nakamura, Alexander Grischuk oder Magnus Carlsen haben ihn schon angewandt.
Der Kurs richtet sich vor allem an Spieler, die mit Weiß eine solide und aussichtsreiche Variante gegen Sizilianisch mit 2…d6 suchen, jedoch keine langen, theoretischen Varianten lernen wollen. Zudem hält Ragger 4.Dxd4 für eine gute Möglichkeit, den Gegner zu überraschen und ihn früh auf unbekanntes Terrain zu locken.
Nach 4.Dxd4 stellt Ragger eine Reihe von Abspielen vor, die sich je nach schwarzer Antwort ergeben können. Die Hauptabspiele sind:
- 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 Sf6 4.dxc5 Sxe4 5.cxd6 Sc6!? 6.dxe7 Dxd1+ 7.Kxd1 Lxe7 8.Le3 (Dies ist eigentlich nicht der Aufbau, den Weiß angestrebt hat, aber dafür steht er leicht besser)
- 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Dxd4 a6 (einer der Hauptzüge) 5.h3 Sc6 6.De3 g6 7.Le2 Lg7 8.0-0 Sf6 9.c4 0-0 10.Sc3 Tb8 11.Td1
- 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Dxd4 Sc6 5.De3 g6 6.Lc4 Lg7 7.0-0 Sf6 8.h3 0-0 9.Sc3 b6 10.Td1 Lb7 11.De2 Sd7 12.Lg5 h6 13.Le3 (Das Aronian-System)
- 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Dxd4 Sc6 5.De3 Sf6 6.Le2 g6 7.0-0 Lg7 8.Td1 0-0 9.h3 Le6! 10.Sc3 (Das Harikrishna-System)
- 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Dxd4 Sc6 5.De3 Sf6 6.Le2 g6 7.0-0 Lg7 8.Td1 0-0 9.Sc3 (Das Esipenko-System)
Früher galt 4.Dxd4 als theoretisch nicht vollwertig, aber mit der Zeit hat sich diese Sichtweise geändert, und aktuell erzielt der Weiße in der Mehrzahl der Varianten mindestens 53% der Punkte. (Zum Vergleich: 4.Sxd4 kommt nach 4…Sf6 auf knapp 52%.) Die gängige Theorie empfiehlt nach 4.Dxd4 Sc6 den Zug 5.Lb5, doch Ragger beschreitet mit 5.De3 andere, weniger erforschte, aber vielversprechende Pfade. 5.De3 wird deutlich seltener gespielt als 5.Lb5, aber mit einem Score von 58% punktet Weiß überdurchschnittlich gut.
Diese Zahl allein zeigt, dass man trotz aller theoretischen Urteile gut punkten kann, wenn man mit den typischen Ideen und Plänen vertraut ist.
Und auf die weist Ragger immer wieder hin: Die typischen Züge des Weißen sind De3, Td1 und Sc3, außerdem strebt Weiß einen Maroczy-Aufbau mit Bauern auf c4, d5 und e4 an.
Weiß möchte das Zentrum kontrollieren und strebt nach einer harmonischen Aufstellung seiner Figuren und wie so oft im Sizilianer spielt das Feld d5 auch hier eine große Rolle.
Im Vergleich zu den äußerst komplexen und scharfen Stellungen, die nach 4.Sxd4 entstehen können, steuert Weiß hier in der Regel ruhigeres Fahrwasser an. Gutes Stellungsgefühl und gutes Stellungsverständnis sind wichtiger als das Auswendiglernen scharfer taktischer Varianten.
Ragger präsentiert sein Material plausibel und gut strukturiert. Er beginnt mit einer Einleitung, in der er verrät, warum er diesen Kurs machen wollte und gemacht hat und zeigt, welche Vorteile es hat, den Zug 4.Dxd4 in sein Repertoire aufzunehmen. Weiß vermeidet nicht nur theoretische Duelle, sondern hat auch die Möglichkeit, je nach Geschmack scharf oder doch etwas positioneller zu spielen.
Fazit
Ich habe schon viele Partien mit dem Sizilianer gespielt und schätze diese Eröffnung. Gerade deshalb hat es mich überrascht, wie gut der Zug 4.Dxd4 zu sein scheint, denn tatsächlich spielt Weiß nach 3.d4 cxd4 doch meist 4.Sxd4.
Des Weiteren schätze ich am Dd4-System, dass man wenig Theorie lernen muss und es eben mehr auf positionelles Verständnis und Planfindung ankommt. Es gibt zwar einige schärfere Varianten, aber in denen muss vor allem Schwarz aufpassen, nicht vom rechten Wege abzukommen.
Ein weiterer Vorzug von 4.Dxd4 gegenüber 4.Sxd4 ist, dass man sich die typischen Motive gut merke, und dass Weiß in vielen Varianten bei gutem Verständnis der Stellung auf einen leichten, jedoch stabilen Vorteil hoffen kann.
Sehr gut finde ich auch, dass Ragger immer wieder auf den weißen Standardaufbau (mit De3, Le2, Td1 etc.) verweist. Auch in Varianten, in denen Weiß seinen "Wunschaufbau" nicht ohne weiteres einnehmen kann, befasst sich Ragger mit der Frage, wie dies doch gelingen könnte. Das hilft dem Zuschauer, die wichtigen Motive, Schlüsselzüge und Pläne zu realisieren und zu verstehen.
Und aufgrund der sich permanent weiterentwickelnden Theorie, den immer besseren Engines und dem generell größeren Wissen der Schachspieler ist es von Vorteil, seine Gegner ab und an zu überraschen – und warum nicht mit 4.Dxd4?
Der Kurs sollte nicht mehr als 60 Minuten lang sein, aber trotzdem hätte Ragger meiner Meinung nach gerne noch ein paar Züge tiefer und ausführlicher auf die Hauptvarianten eingehen können, gerne auch mit Referenz zu Großmeister-Partien.
Außerdem wäre eine Rubrik mit Beispielpartien eine schöne Ergänzung gewesen. Das hätte ich sehr hilfreich gefunden, um noch besser zu verstehen, wieso 4.Dxd4 mittlerweile häufiger gespielt wird und welche Entdeckungen/Neuerungen zu dieser Neubewertung des Systems geführt haben.
Aber dennoch: alles in allem eine gut gelungene Einführung, mit deren Hilfe man in nur 60 Minuten ein für Schwarz gefährliches und für Weiß aussichtsreiches System gegen Sizilianisch mit 2...d6 kennenlernt.
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