In Band 10 seiner "Understanding Middlegame Strategies"-Reihe widmet sich Ivan Sokolov der Caro-Kann-Vorstoßvariante, Ausgangspunkt ist die Stellung nach 1.e4 c6 2.d4 d5 3.e5 Lf5. Schon im Intro betont der niederländische Großmeister, dass der Kurs in erster Linie Inspirationen für Weiß-Spieler gibt, aber auch Caro-Kann-Spieler auf der schwarzen Seite profitieren können.
Reiches Sortiment
Anhand von 17 Musterpartien stellt Sokolov in einer Gesamtspielzeit von über 7 Stunden verschiedene aussichtsreiche weiße Aufbauten vor. Das passt zum modernen Schach, in dem Flexibilität und ein breites Arsenal gefragt sind!
Sokolov weist wiederholt darauf hin, dass der Kurs kein Opening Guide ist. Er zeigt zwar theoretische Grundzüge der Abspiele und verweist auf kritische Stellungen, wo es sich lohnen würde, noch tiefer zu graben. Naturgemäß geht der erfahrene Großmeister und Trainer im Mittelspiel-Kurs jedoch theoretisch nicht in die Tiefe, wie es in einem Repertoire-Kurs der Fall wäre.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Sokolov dem scharfen 4.Sc3 e6 5.g4 Lg6 6.Sge2
In den 6 Musterpartien zu diesem Abspiel finden sich Namen wie Kasparov, Anand oder Shirov auf der weißen Seite, was zeigt, dass es in einer früheren Epoche auf höchstem Level ausgiebig getestet wurde. Sokolov glaubt allerdings, dass diese Variante auf Top-Level in Kürze wieder einen Popularitätsschub erleben könnte. Sie lässt sich mit modernen Engines sehr gut vorbereiten, ist für Schwarz am Brett extrem gefährlich und eignet sich hervorragend für Angriffsspieler: "The better calculator wins."
Aber auch für Positionsspieler hat Sokolov etwas im Variantenkoffer, etwa das seltene 4.Le3 oder 4.Sd2 e6 5.Sb3, was anhand einer Partie von Anish Giri gezeigt wird. Weiß möchte das thematische …c6-c5 erschweren – oder vielmehr nur auf Kosten des Läuferpaars zulassen!
Das auf GM-Level derzeit heiß diskutierte 4.h4 und nach 4…h5 sowohl 5.Ld3 als auch 5.c4 wird ebenfalls vorgestellt, genauso wie sofortiges 4.c4. Letzteres halten einige Experten für weniger gefährlich als mit dem Einschub 4.h4 h5, aber die eindrucksvolle Partie Carlsen-Fedoseev zeigt auch hier Ideen für Weiß.
Motive und Pläne für beide Seiten
Der Fokus auf das Mittelspiel hat den Vorteil, dass der Zuhörer eine Fülle an typischen Plänen und Motiven mitnimmt.
(Stellung aus Shirov-Eljanov)
Gegen frühes …c5 setzt die Öffnung mit c2-c4 Schwarz häufig unter Druck. Shirov erlangte folglich mit 8.c4! die Initiative. Weitaus beeindruckender sind allerdings die taktischen Motive, mit denen der Angriffskünstler ab dem 14. Zug das Brett in Flammen setzte.
(Stellung aus Kasparov-Navara)
9.f5! exf5 10.g5. Das ist objektiv noch in Ordnung für Schwarz, doch der Altmeister überspielte seinen Gegner in der Folge lehrreich. 11 Züge später waren die einzigen verbliebenen Leichtfiguren ein weißer Traumspringer auf f4 und der, Zitat Sokolov, "big pawn on g6".
Auch zahlreiche Motive für Schwarz kommen im Kurs vor. Hier hat Weiß auf Läufergewinn gespielt, stand aber nach 13…f5! 14.dxe4 fxe4 am Abgrund! Für die Figur hat der Nachziehende kräftige Zentralbauern und Chancen gegen den unsicher platzierten weißen König.
Welchen Benefit bietet der Kurs für Schwarz-Spieler?
Ein klassisches Repertoirebuch fokussiert sich in aller Regel auf konkrete, recht enge Empfehlungen. Aber was gibt es in einem Abspiel sonst noch für Optionen? Warum ist eigentlich dieser natürlich aussehende Zug hier nicht so gut? Welche Motive und Gefahren drohen mir, wenn ich mich nicht mehr genau an die Datei erinnere und ungenau spiele?
Worauf hier angespielt wird, kann als Allgemeinwissen über eine Eröffnung bezeichnet werden. Und davon wird der Caro-Kann-Spieler durch den Kurs einiges mitnehmen! Hinzu kommt eine Portion Schachgeschichte. So analysiert Sokolov die entscheidende letzte Runde des WM-Matches 2004 zwischen Kramnik und Leko im Detail, zeigt "nebenbei" aber auch noch weitere Klassiker, etwa ein Duell zwischen Tal und Botwinnik.
Fazit:
In seinem neuen Mittelspiel-Kurs zur Caro-Kann-Vorstoßvariante gibt GM Ivan Sokolov Weißspielern Inspirationen auf den Weg, wie sie nach 3.e5 Lf5 um Vorteil kämpfen können. Anhand lehrreicher Musterpartien werden eine Reihe an aussichtsreichen Versuchen gezeigt.
Auch für Caro-Kann-Spieler auf der schwarzen Seite lohnt sich der Kurs. Im Vergleich etwa zu einem Repertoire-Buch lässt sich der Horizont erweitern und einiges an Wissen mitnehmen. Und selbstverständlich kann man sich bei einem Vortrag, bei dem es um die "eigene" Eröffnung geht, auch einfach zurücklehnen und die Partien genießen! Manch einer hätte sich bei der Auswahl der Musterpartien womöglich einen höheren Anteil an neuen Partien von aktuellen Top-Großmeistern gewünscht – dies tut dem Gehalt der Auswahl Sokolovs allerdings keinen Abbruch.