ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
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Herr Gijssen, Sie sind bis heute die große Autorität in der Schiedsrichtergilde des Schachs. Zu der Vergangenheit. Was halten Sie aus heutiger Sicht von dem ersten unvollendeten Wettkampf Karpov-Kasparov 1984/85 in Moskau? War der Main Referee Svetozar Gligorić der richtige Mann am richtigen Platz?
Zu der damaligen Zeit war es üblich, dass beide Spieler von der FIDE eine Liste mit den Namen von sieben Schiedsrichtern bekamen. Jeder der beiden Spieler hatte das Recht, drei Schiedsrichter von dieser Liste zu streichen und die restlichen in der Reihenfolge der von ihnen gewählten Präferenz der FIDE zu überreichen. Meiner Meinung nach, ein hervorragendes System. Offensichtlich stand Gligorić an erster Stelle und war der von beiden Spielern gewünschte Schiedsrichter. Auch für mich war er der richtige Mann am richtigen Platz. Ich habe nie gehört, dass sich die Spieler über den Schiedsrichter beschwert haben.
Ich habe einmal an einem Seminar in der Nähe von Madrid teilgenommen. Anwesend waren unter anderem Campomanes, Kasparov und Korchnoi. Frage von Korchnoi: „Was war eigentlich los damals in Moskau, Herr Campomanes?“ Antwort von Campomanes: „Jeder hat seine eigene Version und Vision von den damaligen Ereignissen. Deshalb macht es keinen Sinn, darüber weiter zu sprechen.“
Der Revanche-Wettkampf Karpov-Kasparov in Sevilla. Einige Großmeister, zum Beispiel Spassky, Timman und auch ich haben den Verdacht, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zuging. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Ich habe auch diese Gerüchte über Sevilla gehört, aber ich kann es kaum glauben. Die Art und Weise, wie beide Spieler miteinander umgingen (und ich meine nicht im Spielsaal, sondern außerhalb des Spielsaals), lässt mich vermuten, dass es keinerlei Pakt zwischen den beiden gegeben hat. Ich bin neugierig, wie es zu diesem Verdacht kommen konnte. Das einzige, an das ich mich erinnere ist, dass Kasparov in einer Partie, in der er deutlich besser stand, zu früh ein Remis angeboten hat. Nach dem Wettkampf habe ich übrigens nichts mehr von den Gerüchten gehört.
Lieber Herr Hort, Sie schreiben dass Sie zu den Spielern gehören, die an der Korrektheit dieses Zweikampfs zweifeln. Es wäre interessant zu hören, worauf sich Ihre Verdachtsmomente stützen.
Sie waren der Schiedsrichter bei dem Wettkampf Topalov-Kramnik, der in die Geschichte als „Toiletten-Wettkampf“ eingegangen ist. Wer trägt Ihrer Meinung nach die Schuld an dem Skandal?
Es gab Zeiten, in denen Spieler während der Wettkämpfe ohne Sekundanten auskommen mussten. Max Euwe war meiner Meinung nach der erste, der sich Unterstützung bei den Sekundanten (Hans Kmoch) holte. Damals gab es, soweit ich weiß, keine Probleme. Später kamen dann ein Mannschaftsführer, ein Arzt, ein Koch, ein Psychologe und endlich auch ein Manager dazu. Bei so vielen Leuten rund um einen Spieler, ist es eigentlich zu erwarten, dass es Probleme geben wird. Ich bin der Meinung, dass Kramnik und Topalov o.k. waren. Wenn ich so alles überdenke, dann glaube ich, dass Danailov die Sache zu sehr auf die Spitze getrieben hat.
Das „Pairing-System“ ist bei den Schacholympiaden sehr kompliziert. Gab es während Ihrer Amtszeit viele Proteste?
Ab und zu wurde von einzelnen Mannschaften eine Erklärung zu der Auslosung verlangt. In allen Fällen, die ich kenne, konnte aber jegliche Kritik an dem System entkräftet werden. Ich spreche von der Zeit als ich mit den Paarungen beschäftigt war: 1984 ab Runde 6, 1988, 1994,1996. Wenn es Probleme gab, hatten die meistens einen politischen Hintergrund. Zum Beispiel dürfen einige Länder (arabische) nicht gegen Israel spielen. Ein kampfloser Verlust 0:4 verträgt sich nicht mit dem Olympischen Gedanken. Mein Vorschlag wäre, dass das Olympia-Komitee solche Paarungen im Vorfeld vermeidet.
„Pièce touchée“ – die Partie Judith Polgar-Kasparov schlug damals große Wellen in der Schachwelt. Sie waren der direkte Zeuge.
Ich war kein Zeuge, ich war nie in Linares und ich habe auch nie mit dem Schiedsrichter darüber gesprochen. Aber ich habe das Video gesehen und sage dazu gerne meine Meinung. Der Schiedsrichter hat keinen Fehler gemacht. Beide Spieler befanden sich in höchster Zeitnot. Der Schiedsrichter stand neben dem Tisch und notierte die blitzschnellen Züge. Kasparov spielt 35…Sd7-c5 und der Schiedsrichter schrieb diesen Zug auf. Kasparov sieht, dass sein Zug ein Fehler war und ändert ihn in 35…Sd7-f8.
Es ist für mich sehr plausibel und nachvollziehbar, dass der Schiedsrichter diesen Vorgang nicht bemerken konnte, weil er zu diesem Zeitpunkt auf sein Protokoll schaute. Wie mir Judith Polgar später erzählte, hatte sie nicht den Mut zu protestieren. Ihre Angst vor einer Zeitstrafe war zu groß.
Große Aufregung gab es auch bei der Partie Krum Georgiev-Kasparov während der Schacholympiade Malta 1980. Was war der Grund dafür, warum die russische Delegation protestierte?
Ich war nicht dabei, aber ich habe einiges darüber gelesen. So, wie ich es verstanden habe, reklamierte Kasparov den Verstoß von Georgiev gegen die „Pièce touchée“ Regel. Sein Gegner widersprach. Wenn der Schiedsrichter diesen Vorfall selbst nicht gesehen hat, gilt der gespielte Zug und die Partie muss weiter fortgesetzt werden. Was in Malta auch richtigerweise geschehen ist.
Was denken Sie über die heutige FIDE?
Foto: Max Euwe Centrum
Um die Frage korrekt zu beantworten, muss ich erst einmal wissen, was Sie meinen. Geht es um die FIDE als Föderation, oder nur um den Vorstand der FIDE?
Mit der Föderation bin ich bin sehr zufrieden. Jeden Monat werden die Ratinglisten für Standartschach, Rapid-Schach und Blitzschach publiziert. Weltweit gibt es Kurse für Schiedsrichter und Trainer. Alle Kommissionen leisten gute Arbeit. Darüber hinaus organisiert die FIDE viele Turniere, zum Beispiel die Olympiaden, die Weltmeisterschaften, die Jugendweltmeisterschaften in allen Altersklassen, Mannschaft-Weltmeisterschaften, Weltmeisterschaften für Behinderte, Weltmeisterschaften für Senioren und noch viel mehr.
Wenn Sie aber den FIDE-Vorstand meinen, kann ich nur sagen, dass mir dort die Transparenz fehlt. Ist zum Beispiel der gewählte Präsident noch im Amt? Glücklicherweise habe ich mich nie mit der Schach-Politik auseinandergesetzt und ich möchte es auch ganz gerne, nachdem ich mich mehr und weniger aus der Schach-Szene zurückgezogen habe, dabei belassen. Bei der Paarungsfrage habe ich gesagt, dass man diejenige Paarung vermeiden sollte, von der man weiß, dass eine der Mannschaften aus politischen Gründen nicht antreten darf. Dasselbe gilt meiner Meinung nach auch für die FIDE-Einzelturniere. Man sollte in Ländern, die keine Visa-Garantie für alle Spieler die sich anmelden geben, keine Schachevents organisieren.
Es ist bekannt, dass Sie ein leidenschaftlicher Sammler von Schachliteratur sind. Welche Bücher sind „Evergreens“ und sollten von jedem ernstzunehmenden Schachspieler gelesen werden?
Das ist eine schwierige Frage. Die erste Partie-Sammlung, die ich mir gekauft habe, war „Dreihundert Schachpartien“ von Tarrasch. Ich war sehr beeindruckt. Auch heute ist für mich dieses Buch noch immer ein Juwel.
Besonders zu empfehlen sind die Bücher von Kasparov, wie zum Beispiel „Meine großen Vorkämpfer“ und „Garry Kasparov on modern chess“. Neben seinen interessanten Kommentaren erfährt man auch viel über die moderne Schachgeschichte. Von den heutigen Autoren möchte ich Tibor Karolyi hervorheben. Seine Bücher über Karpov, Kasparov und Tal sind bemerkenswert. Wie Sie sehen, liebe ich die Biographien mit Partie-Sammlungen sehr!
Der beste FIDE-Präsident der Schachgeschichte war…?
Das ist eine Frage, die kaum zu beantworten ist. Ebenso wie die Frage nach dem besten Schachspieler aller Zeiten. Insgesamt gab es bei der FIDE bisher sieben Präsidenten, die unmöglich miteinander zu vergleichen sind. Als Rueb (1924 – 1946) Präsident war, gab es nicht so viele Föderationen wie heute. Die Weltmeisterschaft war damals noch eine Privat-Sache und die FIDE hatte damit nichts zu tun. Wenn ich mich nicht irre, war die Olympiade das einzige Turnier, das von der FIDE zu dieser Zeit organisiert wurde. Das ist überhaupt nicht zu vergleichen mit den vielen Turnieren, für die die FIDE heute verantwortlich ist.
Der nächste Präsident von FIDE wird…?
… in Batumi gewählt.
Die FIDE sollte unbedingt vieles und besonders … verbessern?
Es ist immer gut, dass man versucht, sich oder etwas zu verbessern. Stillstand ist Rückstand. Allerdings mache ich mir Sorgen um die älteren Profis - Schachgroßmeister, die vom Schach leben müssen. Ich kenne viele, die große finanzielle Probleme haben. Bin aber nicht sicher, ob das eine Angelegenheit der FIDE sein sollte. Es wäre aber gut, einmal darüber nachzudenken.
Zurzeit haben die Top 10 der Schachelite mit Sicherheit ein sehr gutes Einkommen. Auch die Top 40 profitieren noch von dem Schachboom, aber alle anderen müssen für ihr Auskommen hart kämpfen. Ich kann verstehen, dass deshalb viele junge Großmeister einen „normalen“ Beruf bevorzugen.
Auch würde ich mir sehr wünschen, dass sich die finanzielle Differenz von Frauen- und Männerschach verkleinert.
Schach in Holland. Ist ein wirklicher Nachfolger von Jan Timman am Schachhimmel schon zu sehen?
Im Jahre 1982 war Jan Timman die Nummer 2 der Welt. Unsere Hoffnung ist momentan selbstverständlich Anish Giri. Er steht auf der FIDE-Ratingliste auf Platz 14 (1 Dezember2017). Die Konkurrenz ist zwar sehr groß, aber ich glaube, insbesondere wenn ich sein Alter in Betracht ziehe, dass er noch sehr gute Möglichkeiten hat, aufzusteigen.
An welches Schachturnier erinnern Sie sich am liebsten und möchten es gerne noch einmal erleben?
Warum fragen sie Singular und nicht Plural? Ich habe so viele Turniere geleitet, die perfekt organisiert waren und wo die Atmosphäre ausgezeichnet war. Auch die Orte, an denen die Turniere stattfanden, waren sehr attraktiv. Besonders gerne denke ich an all die fantastischen Schachevents von Joop van Oosterom (Max Euwe Association), die er ins Leben gerufen und gesponsert hat. Es wurde immer hart gekämpft und das Ambiente war außergewöhnlich.
Noch immer denke ich mit Freude an die Swift-Turniere, die World Cup Turniere 1988 und 1989, die Interpolis Turniere, die Aeroflot Turniere, die Jugend-Turniere in Salekhard (Sibirien), die Weltmeisterschaften und, und, und.
Wenn Sie mich gefragt hätten, ob es ein Turnier gibt, an das ich mich nicht mehr erinnern will, dann würde ich passen.
Der nächste Herausforderer von Carlsen wird sicher nicht Giri. Geben Sie bitte Ihren persönlichen Tipp ab.
Ich glaube, dass Aronian sehr gute Chancen hat. Mamedyarov, Caruana, Karjakin, So, Kramnik, Grischuk oder Ding Liren sind für eine Überraschung gut. Wie Sie sehen, sind das genau die Spieler, die nächstes Jahr in Berlin zum Kandidaten-Turnier antreten werden.
Sie haben während Ihrer aktiven Schiedsrichtertätigkeit vieles gesehen und kennen mit Sicherheit jede Menge kleiner Geheimnisse über die Sie bis heute geschwiegen haben. Die Schachwelt ist neugierig. Zeit, die Geheimnisse zu lüften und ein Buch darüber zu schreiben?
Ich fürchte die Schachwelt enttäuschen zu müssen. Obwohl Sie nicht der erste sind, der mich danach fragt, habe ich nicht die Absicht, ein Buch über meine Erlebnisse zu schreiben. Es gibt verschiedene Gründe dafür. Die Öffentlichkeit interessiert sich vor allem für Skandale. Große Skandale, abgesehen von dem Wettkampf Kramnik – Topalov, habe ich aber nicht erlebt. Außerdem ist es sehr schwierig, viele der Ereignisse objektiv zu beschreiben.
Meine Bibliothek enthält selbstverständlich Bücher, in denen Vorfälle geschildert werden, die in meiner Gegenwart stattgefunden haben oder an denen ich beteiligt war. Einige Male war ich überrascht und enttäuscht, zu welchen Ergebnissen diese Autoren ab und zu gekommen sind. Ein Trost für mich, auch Jan Timman war irritiert über die Interpretation eines Schreiberlings.
Ich möchte gerne noch etwas hinzufügen. Ich hatte das Glück, mit einigen hervorragenden Organisatoren zusammen arbeiten zu können, die ich hier unbedingt noch einmal (in alphabetischer Reihenfolge) erwähnen möchte: Alexander Bach, Valery Bovavev, Meindert Hermes, Lies Muller, Alexander Potapov, Jan Rennings und Barbara Schol.
Welcher Weltklassespieler hat Sie am meisten enttäuscht und warum?
Jeder, der die Kommentare im Internet über den Wettkampf Kramnik – Topalov (Elista 2006) damals gelesen hat, weiß genau, welcher Großmeister mich enttäuscht hat. Übrigens kann ich melden, dass ich keine Probleme mit Kramnik und Topalov hatte.
Von welchem Schachspieler der Weltelite wurden Sie angenehm überrascht?
Alexander Khalifman. Er ist einer der wenigen, der die Paarungen des Schweizer Systems, auch wenn sie kompliziert sind, ausgezeichnet beherrscht.
„Null-Toleranz“, eine der neuesten Regeln der FIDE. Wie stehen Sie dazu?
Ich finde diese Regel nicht schlecht und verstehe sehr gut, warum man sie eingeführt hat. Insbesondere macht diese Regel Sinn, wenn das Turnier im Hotel gespielt wird, in dem die Spieler auch wohnen. Es gibt für mich keinen einzigen triftigen Grund, nicht rechtzeitig am Brett zu sitzen. Diese Höflichkeit gehört sich einfach gegenüber dem Gegner, dem Publikum, den Sponsoren und der Presse.
Die Fotografen dürfen sowieso nur die ersten fünf oder zehn Minuten auf die Bühne, um zu fotografieren. In der Vergangenheit ist es häufig vorgekommen, dass zum Spielbeginn nur zwei oder drei Spieler anwesend waren. Die Publizität eines Turniers leidet darunter, das ist klar.
Eine andere Sache ist es, wenn Spieler in verschiedenen Hotels untergebracht sind. Beispiel: bei den Olympiaden wohnen einige Mannschaften oft sehr nah am Spielsaal, andere dagegen haben eine längere Anreise. In solchen Fällen sollte man etwas flexibler sein.
Was soll man mit den kurzen und farblosen Remisen machen? Reicht die Applikation der bisherigen „Sofia-Regel“ dafür?
Ich bin fast sicher, dass die Sofia-Regel nicht reicht. Wenn nach der Sofia-Regel (30 Züge) gespielt wurde, habe ich es mehrmals erlebt, dass die Partie mit dem 31sten Zug abrupt unentschieden endete. Häufig wird von den Protagonisten, um diese Regel zu umgehen, auch dreimal dieselbe Stellung wiederholt.
Meiner Meinung nach hat die Sofia-Regel sehr wenig Wirkung und deshalb sollte man sie auch nicht anwenden. Ich bin ganz sicher, dass Spieler die viele „Salon-Remisen“ produzieren für die Organisatoren und das interessierte Publikum nicht attraktiv sind. Auf lange Sicht bleiben dann die Einladungen aus. Und das ist richtig so!
Eine andere Möglichkeit wäre, so wie im Fußball drei Punkte für eine gewonnene Partie und ein Punkt für ein Unentschieden zu geben.
Sie haben sich vom aktiven Schach zurückgezogen – womit verbringen Sie heute Ihre Zeit?
Ich sehe mir viele Turniere im Internet an. Das bereitet mir große Freude. Außerdem lese ich ziemlich viel, natürlich Schachliteratur, aber auch Geschichtsbücher. In meinem Verein S.M.B. Nijmegen spiele ich inzwischen auch wieder für eine Mannschaft. Es ist eine Veteranen-Mannschaft. Wenn ich eine Einladung für ein Schach-Turnier bekäme, würde ich nicht ablehnen. Doch ich mache diese Reisen nur noch in Begleitung meiner Frau.
Trifft das Sprichwort auch bei Ihnen zu „Alte Liebe rostet nicht“?
Sie haben Recht. Ich bin weiterhin interessiert an der Schach-Szene. Meine Aufmerksamkeit gilt speziell den Spiel-Regeln und ich fürchte, so wird es bleiben.