Interview mit Vincent Keymer (I)

von ChessBase
16.01.2025 – Vincent Keymer hat ein ereignisreiches Jahr hinter sich. Er stieg in die Weltspitze auf und half zum Jahresende Domararaju Gukesh beim Gewinn der Weltmeisterschaft. Für die Deutschen Welle hat Holger Hank mit der deutschen Nummer Eins über verschiedene Aspekte des Spitzenschachs gesprochen. Zum 1. Teil des Interviews: | Foto: Niki Riga/ ECU

ChessBase 18 - Megapaket ChessBase 18 - Megapaket

Das Wissen, das Du jetzt brauchst!
Die neue Version 18 bietet völlig neue Möglichkeiten für Schachtraining und Analyse: Stilanalyse von Spielern, Suche nach strategischen Themen, Zugriff auf 6 Mrd. LiChess-Partien, Download von chess.com mit eingebauter API, Spielervorbereitung durch Abgleich mit LiChess-Partien, eingebaute Cloud-Engine u.v.m..

Mehr...

Am Sieg des neuen Schach-Weltmeisters Gukesh war auch ein Deutscher beteiligt. Vincent Keymer, Deutschlands Nummer eins, unterstützte als Mitglied des Trainerteams den jungen Inder. Keymer gehört inzwischen ebenfalls zu den besten Spielern der Welt mit Ambitionen, vielleicht selbst einmal um den Titel zu spielen.

Holger Hank hat Anfang des Jahres für die Sportredaktion der Deutsche Welle über Vincent Keymer und sein WM-Engagement berichtet.  Dabei ist ein ausführliches Interview entstanden. Im ersten Teil des Interviews geht es u.a. um die WM, die Eröffnungsvorbereitung im modernen (computerunterstützen) Spitzenschach und die Frage, in welche Bereichen sich Vincent Keymer noch verbessern will.


"Ich hatte den Eindruck, dass Ding kaum eine Vorbereitung für das gesamte Match hatte."

Über den Jahreswechsel hast Du bei der Rapid- und Blitz-WM in New York nicht mitgespielt? Wie froh bist Du über diese Entscheidung im Nachhinein?

2024 war ein sehr anstrengendes Jahr – auch die Arbeit mit Gukesh bei der Weltmeisterschaft hat mich gefordert. Insgesamt ist über die Feiertage nur wenig Zeit für die Vorbereitung auf die jetzt anstehenden Turniere wie Wijk aan Zee. Wenn ich nach New York gegangen wäre, verbunden mit der langen Reise, dann wäre ich nicht mit einem guten Gefühl zu den folgenden Turnieren gefahren. Ich habe die Entscheidung ehrlich gesagt nicht bereut.

Du bist jetzt in den Top 20 der Weltrangliste und international eine feste Größe im Spitzenschach. Wie ist das Jahr 2024 aus Deiner Sicht gelaufen?

Es war ein durchwachsenes Jahr. Ich hatte leider ein paar krankheitsgeplagte Turniere. Zum Beispiel die Schach-Olympiade in Budapest. Das war für mich ein Turnier in zwei Teilen. Die ersten vier Runden dort war ich richtig krank: Ich hatte zeitweise 39 Grad Fieber, auch Nasenbluten. Das hat sich auf die Partien ausgewirkt. Dabei hatte ich vorher mein erstes starkes Rundenturnier gewonnen (Rubinstein-Memorial Polanica-Zdrój in Polen). Dort mit fünf Siegen in den ersten sechs Runden zu starten, war natürlich etwas Besonderes.

Auf jeden Fall habe ich 2024 sehr viel gearbeitet - natürlich auch bei der WM - und ich hoffe jetzt, dass ich bei den Turnieren im Jahr 2025 von dieser Arbeit profitiere. Top 20 ist schön, aber es nicht das, wo ich langfristig stehen will. Deshalb muss ich jetzt noch an einigen Schwächen arbeiten.

In welchen Bereichen willst Du Dich noch verbessern?

Da geht es um Feinheiten. Ich frage mich: Was sind die Dinge, die meinem Schach noch fehlen und die z.B. für andere Spieler, wie meine indischen Konkurrenten, extrem gut funktionieren?

Es gibt auch Aspekte, die damit zu tun haben, wie ich als Kind trainiert habe. Auch damals habe ich schon sehr starke Turniere gespielt. Aber wegen der Schule hatte ich mit meinem langjährigen Trainer Peter Leko nie sehr viel Zeit für die Vorbereitung. Wir haben immer versucht, schnell ein Eröffnungsrepertoire zusammenzustellen, mit dem ich nicht direkt in Schwierigkeiten komme. Deswegen fehlt mir heute immer noch ein wenig die Breite im Repertoire. Es geht ja zum Beispiel auch darum, was man gegen etwas schwächere Gegner spielt, um Gewinnchancen zu haben.

Ich will mich auf jeden Fall weiter stufenweise verbessern. Ich hatte immer ein recht gutes Gefühl dafür, wo ich die Figuren hinstellen soll. Doch bei eher unlogischen Stellungen fehlt manchmal noch die Präzision in der Tiefe bei der Berechnung. Auf jeden Fall geht es jetzt um viele kleine Schräubchen - jeden Tag ein paar Taktikaufgaben zu machen, reicht leider nicht (lacht).

Während des WM-Kampfes zwischen Gukesh und Ding Liren war immer wieder die Rede davon, dass insbesondere der neue Weltmeister sich stark auf seine Rechenkünste verlässt. Gibt es diesen Unterschied zwischen asiatischer Rechnerei und europäischer Intuition tatsächlich?

Der Unterschied besteht. Das Spiel von Gukesh beruht viel mehr auf Kalkulation als meines. Man muss natürlich beides zusammenbringen. Wir Menschen sind nicht in der Lage, alle Züge zu berechnen. Man spart sehr viel Bedenkzeit, wenn man die richtigen Züge vorauswählt. Und ein sehr gutes Stellungsgefühl erleichtert diese Auswahl. Ich vermute auch, dass sich die Spielweisen von Gukesh und mir mit der Zeit annähern werden.

ChessBase Magazin 223

Schachweltmeisterschaft 2024 – alle Partien mit Analysen von Giri, Shankland, So u.a. Kasimdzhanov, King und Ris zeigen neue Eröffnungsideen im Video. 10 Repertoireartikel von Englisch bis Königsindisch u.v.m.

Mehr...

Wie war das während der Schach-WM? Du hast ja mit Gukesh einen Spieler unterstützt, der eine andere Spielweise hat als Du.

Team Gukesh: Vincent Keymer, Radoslaw Wojtaszek, Pentala Harikrishna | Foto: Vincent Keymer auf Instagram

Bei meiner Arbeit als WM-Sekundant ging es natürlich darum, die Eröffnungen mit vorzubereiten. Es ist gewünscht, seinen eigenen Stil und seine Ideen einzubringen – aber am Ende entscheidet Gukesh mit seinem Cheftrainer. Natürlich hatten wir bereits vor dem Turnier eine Richtung festgelegt, was wir uns genau anschauen wollten.

Habt Ihr bei der Analyse besondere Computer genutzt?

Nein, wir haben normale Rechner eingesetzt. Ich habe zum Beispiel auf dem leistungsstarken PC gearbeitet, mit dem ich normalerweise arbeite. Die sind heutzutage völlig ausreichend, um auch in einem WM-Kampf die Varianten vorzubereiten.

Was war Euer Eindruck von Ding Lirens Vorbereitung?

Etwas böse ausgedrückt: Ich hatte den Eindruck, dass Ding kaum eine Vorbereitung für das gesamte Match hatte. Klar, es gab kleinere Ideen. Aber man hat gesehen, dass da nicht monatelange Arbeit drinsteckte.

Viele Beobachter waren überrascht, dass Ding Liren gleich in der ersten Partie Französisch als Antwort auf 1. e4 aufs Brett gebracht hat. Ihr auch?

Foto: FIDE/ Eng Chin An

Französisch war in der dritten Reihe der erwarteten Eröffnungen. Wir hatten das vorbereitet, aber nicht so intensiv. Die größere Überraschung war jedoch, dass Ding Liren Französisch beibehalten hat. Wir hatten eher erwartet, dass er danach andere Eröffnungen spielen würde.

Warum habt Ihr Französisch nicht so richtig in den Griff bekommen?

Das größte Problem war, dass Gukesh die erste Partie verloren hat. Die Variante mit 3. Sc3 hat gegen Französisch sicher das das größte Potenzial, Probleme zu bereiten. Die Idee, die Gukesh dann tatsächlich in der 13. Partie auch gespielt hat, hatten wir schon zwei Wochen vorher analysiert. Aber es ist eine psychologische Herausforderung, eine Variante zu wiederholen, mit der man schon einmal verloren hat.

Die Französische Verteidigung - Ein chancenreiches und solides Schwarzrepertoire gegen 1.e4 Band 1 & 2

Dieser zweibändige Videokurs bietet Ihnen ein vollständiges und zuverlässiges Repertoire für Schwarz gegen 1.e4. Erfahren Sie, wie Sie mit der Französischen Verteidigung erfolgreich kontern und Ihre Gegner überraschen können.

Mehr...

Magnus Carlsens Chef-Trainer Peter-Heine Nielsen hat einmal gesagt, dass Neuerungen bei einer WM nur noch für eine Partie funktionieren (https://p.dw.com/p/4np8X). Siehst Du das auch so?

Mit Weiß kann es nur darum gehen, praktische Probleme zu stellen, denn objektiv ist bei bestem Spiel am Ende ja immer ein Remis zu erwarten. Die exakt gleiche Variante noch einmal zu spielen, ist daher schwierig, wenn man Vorteil haben will. Mit Schwarz ist das meiner Meinung nach anders – da will man in der Regel ja zunächst nur Ausgleich erreichen. Da ist es möglich, Varianten zu wiederholen. Man muss dann aber bereit sein, den Druck der gegnerischen Vorbereitung auszuhalten.

Wir habt ihr das Zeitmanagement während der WM eingeschätzt?

Bei Gukesh war es so: Die Vorbereitung wird ausgeblitzt. Ich glaube schon, dass generell die Idee war, nicht in Zeitnot zu kommen. Zeitnot erhöht die Gefahr von Kontrollverlust und das ist das, was man nicht braucht. Bei Ding Liren war das Zeitmanagement dagegen schon sehr speziell. Aber WM-Matches haben eigene Regeln und nach den ersten sechs Runden mussten wir uns glücklich schätzen, dass wir nicht hinten lagen. Denn einigen Partien hätten auch gegen uns kippen können.

Was hat Du bei der Arbeit für Gukesh für Dein Schach gelernt?

Zunächst einmal nehme ich für mein eigenes Repertoire konkrete Ideen mit, an denen ich gearbeitet habe. Wenn man weiß, dass die eigenen Analysen in einem WM-Match gebraucht wird, dann erfordert das noch mehr Präzision. Das ist schon anders als wenn man nur zuhause sitzt und an seinem Schach arbeitet. Und natürlich habe ich ganz praktisch mitbekommen, wie so ein WM-Match hinter den Kulissen funktioniert.

Teil 2 folgt.


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.
Diskussion und Feedback Senden Sie Ihr Feedback an die Redakteure