"It's only me" - Erinnerungen an Tony Miles

von Vlastimil Hort
09.01.2020 – Tony Miles war in den 1980er Jahren einer der besten Spieler aus dem "Westen". Vlastimil Hort erinnert sich an seinen leider früh verstorbenen einstigen Mannschafstkollegen bei Porz und an eine nicht so angenehme Begebenheit in London, nicht mit Tony, aber mit "Tom".

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"Tony Miles – It´s only me" 

Nur sehr selten verpasse ich die Herausgabe eines beeindruckenden Werkes aus der Schachszene, wie das meines Kameraden und Mannschaftskollegen Tony Miles. Das Buch hat eine sehr lange Zeit gebraucht, bis es endlich auf meinem Tisch landete.

Es hat auch lange gedauert, bis ich hinter das Anagramm des Titels kam. Im Titel "It´s only me" ist der Name von Tony Miles versteckt. Ob es irgendwo, irgendwann von ihm schon mal so kommuniziert wurde, ob der Herausgeber es bewusst gewählt hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Herausgegeben wurde das Buch von Batsford Chess im Jahre 2003, exakt zwei Jahre nach dem Tode von Tony (1955 – 2001).

Miles Artikel, seine Schachkolumnen, Notizen, einzelne Partien mit seinen Kommentaren wurden von Geoff Lawton sorgfältig zusammengetragen. Das Vorwort dazu schrieb Leonard Barden.

Leider hatte ich versäumt, mir das Buch zum Erscheinen zu besorgen. Als ich es später versuchte, war es schon vergriffen. Auch der Schachversand Niggemann meldete mir, dass das letzte Exemplar bereits schon 2009 verkauft wurde. Warum Batsford Chess das Buch nur in der ersten Auflage herausgebracht hat und später nie wieder, bleibt für mich ein Rätsel.

Tony hat die weltweite Resonanz zu diesem Buch leider nicht mehr miterleben können. Es ist jetzt an mir, einem Schachautodidakten und sehr kreativen Menschen ein kleines Denkmal zu setzen.

"Lieber Tony, besser später, als nie, isn´t it?"

Wann haben wir uns eigentlich kennengelernt? War es 1975, als wir uns in Hastings zum ersten Mal am Brett gegenübersaßen? Nach dem Wechsel von Robert Hübner 1981 nach Hamburg versprach Wilfried Hilgert für einen adäquaten Ersatz für Porz zu besorgen. Dann erschien plötzlich in der Kölner Schachszene Tony Miles, mit seinem Markenzeichen, den langen blonden Haaren.

Vlastimil Hort und Tony Miles 1981 bei einem gemeinsamen Simultan in Pulheim, | Fotoquelle: Pulheimer SC 

Dazu gibt es eine sehr gelungene Karikatur von Karel Popp, die ich vor langer, langer Zeit in meinem Buch „Schwarz-Weiße Erzählungen“ veröffentlicht habe.

Jeder weiß, welche Bedeutung das Bermudadreieck für die Schifffahrt hat. Weniger ist dagegen über die Existenz der Schach-Dreiecke bekannt. Spieler A gewinnt fast jede Partie gegen B, B hat sein "Opfer" C, doch C schlägt anschließend A, obwohl alle drei sehr ausgeglichen sind und sie nur ein paar Elo-Punkte trennen. Solch ein Schach-Dreieck waren A-Hort, B-Miles und C-  Ljubojević. Die astronomischen Unterschiede in unseren Partie-Resultaten sind kaum zu erklären.

Später, als mir mein Vereinskollege Tony verriet, dass er in England ernsthafte Probleme mit dem Finanzamt gehabt hatte, war mir klar, wie gelegen ihm der Wechsel nach Deutschland gekommen sein musste. Ein Angebot im richtigen Moment!

Mit 15 Jahren reiste Tony bereits mit seinem Köfferchen durch ganz England und reiste von einem Open zum anderen, quer durch ganz England. Tony, der Autodidakt, verbesserte sein Spiel zusehends und hatte den Ehrgeiz, erster englischer Großmeister zu werden. Slater's  Belohnung von 5.000 Pfund für den ersten englischen Großmeistertitel spielten dabei sicherlich keine unwesentliche Rolle! Tonys Talent und seine hervorragenden analytischen Fähigkeiten waren irgendwann von Erfolg gekrönt und 1976 wurde er bei einem Turnier im russischen Dubna der erste englische Großmeister überhaupt. A new Chess-Star was born in England!

Wir beide begegneten uns regelmäßig auf vielen Open oder Schacholympiaden. 1983 bekam ich ein lukratives Angebot der britischen Schachföderation. Während Kortschnoi und Kasparow in London im Kandidatenturnier um den Einzug in das Finale kämpften, war an den freien Tagen ein Rahmenprogramm organisiert. Der Wettkampf Hort-Miles! Acht Partien sollten gespielt werden.

Nach vier Partien war mit 2:2 ein Gleichstand erreicht. Leider erlebte ich just an diesem Abend den unangenehmsten Zwischenfall in meinem Leben.

Unbedarft spazierte ich mit meinem "Starthonorar aus Vinkovci 1969", einem auf Maß angefertigten Pelzmantel, durch die Straßen Londons. Schnupperte im hektischen Treiben die frische Herbstluft und war in bester Laune. Meine Hände hatte ich tief in den Taschen vergraben. Vor mir die U-Bahn. Ich wollte schnellstens zum Hotel zurück, um bei einem Pott Tee in Ruhe über die Partien nachzudenken.

Im falschen Moment am falschen Ort!

Wie schnell kann sich die Situation ändern, die erträumten, erwünschten Vorstellungen ins Gegenteil verkehren. Das sollte ich schneller als mir lieb war, auf der Rolltreppe in der U-Bahn-Station, erfahren. Eine überraschende Bewegung, ein Sprung und plötzlich stand mir jemand gegenüber. Face to face. Gleich darauf spürte ich den Druck eines spitzen Gegenstandes an meinem Bauch. Was denkt, fühlt und tut man in solch einer Situation? Der Druck auf meine Magengegend wurde immer stärker.

"Yes, I will give you all my money, but please, do not hurt me!" Ich bekam eine  ungewöhnliche Antwort zu hören. "It is not money I am after!" Meine Übersetzungsrädchen routierten … er wollte kein Geld, aber was wollte er?  Um meinen unwillkommenen Rolltreppen-Mitfahrer nicht noch unnötig zu reizen, ließ ich meine Hände vorsichtshalber in den Manteltaschen. Und dann sah ich endlich, was er in der Hand hielt und mir gegen den Körper drückte … ein Bajonett! Lieber Gott, lass diesen Kelch an mir vorübergehen, waren meine ersten Gedanken.

Was jetzt? In solchen Situationen verspricht man einfach alles. Die Rolltreppe fuhr unaufhaltsam nach oben – es waren Sekunden, die Menschen um uns herum merkten nichts. Angstschweiß stand mir auf der Stirn und dennoch, meine Gedanken wanderten zu meinen Schachkollegen. Ich versuchte sie mir in dieser prekären Situation vorzustellen und hätte fast gelacht.

Mein bedrohlicher Mitfahrer hatte blondes, langes Haar, so wie Tony Miles, spielte aber wahrscheinlich kein Schach. Zwei goldene Ohrringe fielen mir noch auf, am markantesten aber war der starke Geruch von billigem Parfüm.

Die Rolltreppe näherte sich schon ihrem Ziel, irgendetwas musste passieren, meine grauen Zellen arbeiteten wie bei einer aufregenden Schachpartie. Ich nahm all meinen Mut zusammen, überwand meine Abscheu und setzte alles auf eine Karte. "Oh yes, I'm like you. I live near by in the Westhotel. We can stay together the whole night in my room!" Ich hatte ins Schwarze getroffen!

"Allright, please, call me Tom but do not cheat me!" Es war eine seriöse Warnung. Doch warum hatte er ausgerechnet mich ausgesucht? Hatte ich solch eine Anziehungskraft auf das männliche Geschlecht?

Wir verließen die U-Bahn und durchquerten einen dunklen Park in Richtung Hotel. Tom wurde ungeduldig und begann, mich mit seiner freien Hand zu betasten. Wo, das erspare ich meinen Lesern.

Der kurze Weg zum Hotel erschien unendlich lang. Ich zwang mich, logisch nachzudenken. Wo würde ich, ohne körperlichen Schaden zu nehmen, die beste Chance haben mich von Tom zu befreien? Zu allererst musst die scharfe Klinge weg. Schließlich ging es um mein Leben! Die Rezeption in der Hotelhalle, das war mir klar, bot die beste Gelegenheit. Unbedingt musste ich die Aufmerksamkeit des Personals auf mich ziehen.

Angekommen, verlangte ich lautstark nach einer falschen Zimmernummer. Der Rezeptionist gab mir mit vollkommen englischer Gelassenheit und Höflichkeit den verlangten Zimmerschlüssel des anderen Gastes. Nichts bemerkend verabschiedete er mich mit einen "Good evening, Sir". Keine Hilfe in Sicht!

Jetzt war unbedingt Zeit zum Handeln! Ich war zu dieser Zeit noch recht sportlich, konnte die Kugel acht Meter weit werfen. Ein rasante Drehung wie beim Kugelstoßen und zack zielte ich mit dem Zimmerschlüssel in der Hand auf sein Kinn. Volltreffer, der Schlag hatte gesessen, Tom lag bewusstlos am Boden.

Die Angestellten hinter der Rezeption waren endlich wach. Aber, Herrjeh, drei Männer stürzten sich auf mich und überwältigen mich. Die Polizei ließ nicht lange auf sich warten. Tom lag noch immer seelenruhig am Boden, wahrscheinlich war er im Reich seiner unerfüllten erotischen Träume… 

Zu meinem Glück hielt er noch immer das scharfe Messer in seiner Hand – das Beweismaterial für meine Unschuld.

Ich wurde als erster befragt und ich glaube, die englischen Polizisten sahen zum ersten Mal in ihrem Leben einen tschechischen Pass. Jedenfalls stierten sie ungläubig auf das Dokument. Mit dem Einladungsschreiben der englischen Schach-Organisatoren konnte ich meinen Aufenthalt erklären.

Und dann die Befreiung! Tom war bei der Polizei für seine ungewöhnlichen Attacken schon hinlänglich bekannt. Die Bobbys waren anschließend sehr hilfsbereit und rieten mir, das Hotel zu wechseln.

Meine Ruhe war dahin, die ganze Nach lag ich wach … "Call me Tom, but please don´t cheat me", ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Wie nur sollte ich das Match mit Tony fortsetzen? Als ich am nächsten Tag am Schachtisch Platz nahm, zitterte ich immer noch am ganzen Körper.

Tony spürte wohl, dass etwas Ungewöhnliches passiert sein musste. "That is London, Vlastimil" war sein kurzer, lakonischer Kommentar. Er war fair. "Wir können unseren Wettkampf auch als Show interessant gestalten." Für dieses Angebot war ich ihm sehr dankbar.

Ich bin gerne Zuschauer beim Christopher Street Day, aber unerlaubte Übergriffe hasse ich wie die Pest.

Tony verließ uns und die Schachszene viel zu früh. Schade! Er war zweifellos der erste und für mich zu seiner Zeit der stärkste englische Großmeister. Ihm ist es zu verdanken, das Schach in England mehr geschätzt wurde und das Interesse daran explosionsartig in die Höhe schnellte. Er wurde zum Vorbild einer jungen Schach-Generation, die ihn begeistert und inspiriert bewunderte.

Was ist über die angespannte Beziehung zu Raymond Keene und Nigel Short zu sagen? Es ist auch für mich immer noch ein Rätsel. Jeder von den drei Akteuren hat und hatte mit Sicherheit seine eigene Version über die Differenzen. Für einen Außenstehenden ein Urteil zu fällen, ist daher sehr schwer.

Eins ist jedoch klar, Tony gab nur schweren Herzens seine Nummer eins Stellung an Short ab. Auch seine Vorstellung, Raymond Keene wolle ihn umbringen, ist sicher nicht das Produkt einer gesunden Seele. War es der Beginn seiner Paranoia?

Sein Allgemeinzustand verschlechterte sich zusehends. Entsprechend blieben auch die Schacherfolge aus und seine ELO-Zahl sank.

Dann, im Open in Biel 1993, bot er schon ein sehr trauriges Bild. Ich sah ihn an einem Tag ganz allein im großen Speisesaal am Tisch sitzen. Vor sich das Tablett mit nicht angerührtem Essen. Er wechselte in kurzen Abständen die Plätze am Tisch. Auf der einen Seite sprach er mit tiefer Bassstimme, auf der anderen antwortete er sich selbst mit hoher Sopranstimme.

Was wohl in seinem Kopf vorging? Die Szenen seiner Ehe? Sicherlich hätte er damals schon psychiatrische Hilfe gebraucht.

Zu seinen besten Zeiten gewann Tony viele starke internationale Open. Seltsamerweise klappte das nicht so gut in den Interzonenturnieren. Geurt Gjissen, der international bekannte Schiedsrichter, brachte mir noch einmal in Erinnerung, dass Miles in Tilburg 1985 den ersten Platz mit Hübner und Kortschnoi teilte.

Das Photo des liegenden Turniersiegers sorgte für Aufsehen nicht nur in der Schachwelt.

Tony Miles mir Rückenschmerzen, Foto: Persbureau van Eindhoven

Zu diesem Turnier war ich als Timmans Sekundant eingeladen. So konnte ich aus nächster Nähe all die ungewöhnlichen Vorkommnisse gut beobachten.

Tony hatte wegen starker Rückenschmerzen ein ärztliches Attest vorgelegt. Deshalb wurde ihm auch vom Turnierarzt erlaubt, im Liegen zu spielen. Die aus diesem Grunde einberufene Spielerversammlung sollte diese Entscheidung befürworten. Alle waren gekommen, nur Robert Hübner fehlte. Er hatte sich als einziger geweigert, seine Partie gegen den liegenden Tony zu spielen.

Hier war Diplomatie gefragt! Geurt Gjissen entschied, dass die Partie am nächsten freien Tag nachgeholt werden sollte. Bedingung, Miles musste sitzen, durfte aber herum spazieren. Hübner hatte Schwarz. Die Partie dauerte nicht lange und mit dem Unentschieden waren beide Seiten wohl zufrieden.

Mein Kollege, Robert Hübner, mit dem ich später den Vorfall noch einmal diskutierte, war überzeugt gewesen, dass Tony die Schmerzen nur simuliert hatte. Denn, er hatte Tony am Abend zuvor zufällig im Chinesischen Restaurant ganz normal sitzen und essen gesehen.

 

Tony Miles, Michael Stean beim Zonenturnier 1978 in Amsterdam | Foto: Dutch National Archive

 

Fotoquelle: "It's only me"

Der erste englische Schachprofi hatte nie ein Hochschulstudium beendet, freute sich aber über den von der Sheffield University 1975 verliehenen Ehrentitel "Master of Arts".  Wollte er damit Keene und Short ärgern?

Seine berühmteste Partie wird wohl die gegen Karpov 1980 im schwedischen Skara bleiben. Dort besiegte er den damaligen Weltmeister mit dem extravaganten Zug 1…a6?! und bewies, dass auch die "sowjetischen Giganten" schlagbar waren.

 

Foto: "It's only me"

Ich werde Tony immer sehr positiv in Erinnerung behalten. Sein trockener, englischer Humor und sein Fair Play vor allem. Wir verstanden uns auch gut beim Fußball-Spiel. Während des Schachturniers kämpften wir am freien Tag in der gleichen Mannschaft und spielten uns genial die Bälle zu.

Bestimmt war Tony kein einfacher Charakter. So stelle ich mir fast 20 Jahre nach seinem Tod die Frage, ob ihm überhaupt jemand so nahe stand, um ein Urteil über ihn fällen zu können. Sein Sekundant Bernard Cafferty? William Harthstone? Michael Stean? Malcolm Pein? Vielleicht seine geschiedene Frau, die frühere tschechische Meisterin Jana Malypetrová und spätere Jana Bellin?

Tony hinterließ mit Schwarz wunderbare "piece of arts" in seiner Drachenvariante. Hätte er bei Malcolm Pein seine letzten Tage verbringen können? Hat er im Schach nur die sportlichen Aspekte gesehen?

Wie und wer warst Du, lieber Tony, wirklich? Malcolm Pein versichert in seinen Memoiren, dass sein Schachidol "sweet at sleep died, without suffering". Er starb in seinem Geburtsort, seiner ewigen Lieblingsstadt Birmingham!

Was sind 46 Jahre? Heute mit 64, könntest Du, lieber Tony noch immer mit einem kleinen Köfferchen von Open zu Open reisen. Vielleicht könnten wir uns sogar gegenseitig unterstützen und zusammen analysieren. Der Sense-Mann kam für Dich jedenfalls zu früh.

Du fehlst mir, lieber Tony!

 

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Vlastimil Hort: Meine Schachgeschichten

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Ehemaliger Weltklasse-Spieler, WM-Kandidat, vielfacher Autor und bekannter TV Schachmoderator.

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