Jahrestreffen der CH&LS in Belfort

von Herbert Bastian
06.09.2023 – Die frühere Ken Whyld Association hat sich inzwischen in Chess History and Literature Society umbenannt. Ihre Mitglieder treffen sich regelmäßig zum Austausch, jüngst in Belfort, einem magischen Ort für Bibliophile und Schachhistoriker. Die Stadtbibliothek verwaltet nämlich die 27.000 Bände umfassende Schach-Bibliothek des berühmten Sammlers Dr. Jean Mennerat (1917–2007). | Foto: Von links nach rechts: Clémence Tariol (Kuratorin) und eine Mitarbeiterin, Dr. Hans Ellinger (Deutschland), Henri Serruys (Belgien), Dr. Jurgen Stigter (Niederlande), Jean-Olivier Leconte (Frankreich). ©Herbert Bastian

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Jahrestreffen der CH&LS in Belfort

Am 2. September trafen sich Mitglieder der Chess History and Literature Society (Früher Ken Whyld Association, KWA) zu ihrem Jahrestreffen im französischen Belfort, einem der magischen Orte für Schachhistoriker. Die Stadtbibliothek von Belfort verwaltet den Nachlass von Dr. Jean Mennerat (1917–2007), dem bedeutendsten französischen Sammler von Schachliteratur. Im Laufe seines Lebens hat Mennerat ca. 27.000 Bücher und ca. 1.000 Zeitschriften zum königlichen Spiel zusammengetragen, die nun in Belfort für die Nachwelt aufbewahrt werden.

Prof. Dr. Frank Hoffmeister. ©Herbert Bastian

Nach einer kurzen Begrüßung in der Stadtbibliothek durch Prof. Dr. Frank Hoffmeister (*1969), der den Niederländer Bob van de Velde im letzten Jahr als Präsident der CH&LS abgelöst hat, stellte die Kuratorin Clémence Tariol die Sammlung Mennerat in einer Powerpoint-Präsentation vor. Mennerat begann 1936 mit dem Sammeln. Die dominante Sprache der Werke ist Englisch mit etwa 6.000 Titeln, gefolgt von etwa 4.100 deutschsprachigen Werken. Es überrascht, dass „nur“ je 8% der Werke in Französisch, Spanisch, Holländisch und Slawisch vorliegen. Auch seltenere Sprachen wie Schwedisch, Hebräisch, Maori und Esperanto sind vertreten. Die eigentliche Sammlung befindet sich an einem anderen Ort und konnte nicht besucht werden. Die Mitglieder konnten jedoch eine Auswahl einiger besonders wertvoller Stücke aus der Sammlung begutachten.

Ein Blick in das seltene Buch von Gianutio (1597). ©Herbert Bastian

Nach Clémence Tariol berichtete Dr. Harald Balló (*1955) in einem leidenschaftlichen und sehr persönlichen Vortrag über seine lange Freundschaft mit Jean Mennerat und die sie verbindenden, über die Leidenschaft für Schachbücher hinausgehenden Elemente. Beide sind in Wiesbaden aufgewachsen, waren mit einer Französin verheiratet und hatten je vier Kinder. Außerdem lebte Tassilo von Heydebrand und der Lasa lange in Wiesbaden, der das aus ca. 1780 stammende Chapais-Manuskript 1854 oder 1855  erworben hatte und der Nachwelt darüber berichtete. Jean Mennerat war es, der es als Erster ca. 1990 in Kórnik wiederentdeckt hat, und gemeinsam mit Harald Balló machte er es 2002 auf der Lasa-Konferenz in Kórnik bekannt. Harald Balló verbreitete die Kunde darüber auf seiner lesenswerten Webseite, wo ich ca. 2008 zum ersten Mal davon erfuhr.

Dr. Harald Balló und Dr. Jean Mennerat 2001 in Paris. (©Harald Balló)

Mennerat war ein sehr vielseitiger Mensch, der im Zweiten Weltkrieg in der französischen Résistance gegen die Nazis gekämpft hat. Von Beruf war er Arzt. Seine Hobbys sind in seinem Ex Libris verewigt, wie Harald Balló erläuterte.

Das Ex Libris von Jean Mennerat.

Der Äskulapstab mit der Schlange zeigt den Beruf an, das Schachbrett das dominierende Hobby. Daneben schlug Mennerats Herz für die Fliegerei, und die Pilze und das Schneckenhaus verraten den Gourmet (Feinschmecker).

Nach Abwicklung einiger technischer Punkte wie Jahresbericht (Hoffmeister), Webseite (Leconte), Finanzen (Serruys) und die Datenbank ToBiblion (Skjoldager/Hoffmeister) ging es in die Mittagspause mit einem bestens organisierten, gemeinsamen Mahl.

Der nächste Höhepunkt ließ nicht lange auf sich warten. Henrik Lindberg, Assistenzprofessor für Wirtschaftsgeschichte in Stockholm, berichtete in einem äußerst interessanten Vortrag über die Lebensgeschichte des Schweden Folke Røgard (1899–1973), Anwalt und FIDE-Präsident von 1949–1970. Wer sich für die Schachgeschichte in der Zeit des Kalten Krieges interessiert, der darf sich schon jetzt auf das hoffentlich baldige Erscheinen von Henriks Buch freuen, wie der Titel des Vortrags verrät: Folke Røgard: organizer of modern world chess in the shadow oft he cold war. Røgard war eine bekannte Persönlichkeit und machte unter anderem Schlagzeilen als Anwalt der berühmten schwedischen Schauspielerin Ingrid Bergman (1915–1982), die 1942 an der Seite von Humphrey Bogart (1899–1957), übrigens auch ein Schachenthusiast, im Film Casablanca zu sehen war. Er brachte den FIDE-Weltmeisterschaftszyklus auf die Beine, als das erste Interzonenturnier nach Saltsjöbaden in Schweden ging (1948). Über seine guten Kontakte zu beiden Seiten gelang es auch immer wieder, die Sowjetunion und die USA zusammenzubringen, so z.B. durch die Vorbereitung des bilateralen Matches von 1955.

Mir wurde danach die Ehre zuteil, über den Stand der Forschungen zum Chapais-Manuskript zu berichten, Mennerats wichtigster Beitrag zur Schachgeschichte. Die schachhistorische Bedeutung des Werkes ist mittlerweile gut verstanden und wird in meinem bald erscheinenden Buch dazu beschrieben werden. Chapais hat den für die Endspieltheorie äußerst wichtigen Begriff der Opposition geprägt und als Erster in einer ganzen Reihe von Beispielen die (von mir so genannte) multifunktionale Königsbewegung genutzt, die erst durch die berühmte Réti-Studie von 1921 bekannt allgemein wurde. Chapais hat als Erster das Endspiel König und zwei Springer gegen König und Bauer untersucht, was Alexej Troizki (*1866–=1942) später als Vorlage diente,  und wahrscheinlich mit André Danican Philidor (*1726–=1795) über das Endspiel König, Turm und Läufer gegen König und Turm kommuniziert. Meine Untersuchungen verschiedenster Art haben eine Vielzahl von Hinweisen darauf gebraucht, dass Chapais ein Pseudonym sein könnte und in Wirklichkeit der berühmte französische Mathematiker Gaspard Monge (*1746–=1818) sich dahinter verbirgt. Wenn es auch keinen 100%igen Beweis gibt, ist die Last der Indizien meines Erachtens erdrückend.

Das Chapais-Manuskript in Kórnik (Polen). ©Herbert Bastian, 2018

Ein spannender Tag in der Stadtbibliothek endete mit einem Vortrag von Dr. Jurgen Stigter über klassische Werke zu den damals verbreiteten Spielen. Jurgen zeigte am Beispiel des Damespiels, dass man aus dem Inhalt der Bücher nicht immer zuverlässige Rückschlüsse auf die Verbreitung des Spiels ziehen kann, denn das nachweislich beliebte Damespiel fand in manchen Werken keine Erwähnung.

Im nächsten Jahr steht das 100-jährige Jubiläum der FIDE an, die am 20. Juli 1924 in Paris auf Betreiben des Franzosen Pierre Vincent (*1878–=1956) gegründet wurde, der damals Mitglied des Nationalen Olympischen Komitees in Frankreich war. Wegen der zeitgleich stattfindenden Sommerolympiade wurde die Schacholympiade für das kommende Jahr nach Budapest verlegt. Vermutlich wird die CH&LS der FIDE für ihre nächste Jahrestagung in 2024 nach Budapest folgen, sicher auch ein attraktiver Austragungsort.

Eine Zusammenarbeit mit der FIDE konnte mit Willi Icklicki (*1955) vereinbart werden. Willi ist Belgier, er lebt in Israel. Als Vorsitzender des Komitees für Schachgeschichte der FIDE ist er zuständig für die Vorbereitung und Gestaltung des historischen Teils des FIDE-Jubiläums.

Gruppenphoto der Tagung der CH&LS am 2.9.2023 in Belfort. Ganz rechts Willi Icklicki. Zweiter von links ist Dr. Jurgen Stigter aus Amsterdam, der eine ähnlich bedeutende Sammlung von Schachliteratur besitzt wie Lothar Schmid (*1928–=2013) in Bamberg. Rechts neben ihm George Bertola, der Chefredakteur von Europe Échecs.


Bastian war 24 Jahre lang Präsident des Saarländischen Schachverbandes und von 2011 bis 2017 Präsident des Deutschen Schachbundes. Inzwischen ist er Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes. Von 2014 bis 2018 war Herbert Bastian zudem Vizepräsident des Weltschachbundes. Seine jüngsten Aktivitäten richten sich auf die Schachgeschichte, insbesondere in Frankreich.