Kaffeehauszüge in Zeiten des Umbruchs

von Michael Ehn
24.11.2023 – Schon bald nach dem frühen Tod von Carl Schlechter entstand der Wunsch, ihm zu Ehren ein Gedenkturnier zu veranstalten. 1923 trafen sich einige bedeutende Schachmeister im Café Universale und spielten es aus. Michael Ehn lädt zu einer Zeitreise ins Wien der frühen 20er Jahre ein. | Foto: Das Haus mit dem ehemaligen Café Universale | Fotos: Archiv Michael Ehn

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Savielly Tartakowers Sieg beim Carl Schlechter – Gedenkturnier Wien 1923

Pünktlich am Donnerstag, dem 15. November 1923 um 17 Uhr, begann im Café Universale im 7. Wiener Gemeindebezirk, Burggasse 28[1], ein vom Österreichischen Schachverband veranstaltetes internationales Meisterturnier. Nach den Begrüßungsansprachen – Josef Hanacik für den gastgebenden Arbeiterschachklub, Josef Krejcik als Vorsitzender des Österreichischen Schachverbandes und Paul Heuäcker für den Berliner Schachverband – wurde die Auslosung vorgenommen und der Rest des Nachmittags mit anregender Unterhaltung verbracht, bevor am nächsten Tag zur selben Zeit die erste Runde gestartet wurde. Es war das dritte internationale Meisterturnier nach dem Ersten Weltkrieg, das in Wien ausgetragen wurde[2] und in mehrerlei Hinsicht eine Premiere.

Schon bald nach dem frühen Tod des bedeutendsten Spielers, den Wien je hervorgebracht hat - Carl Schlechter (1874-1918) - wurden in Wiener Schachkreisen Stimmen laut, ihm zu Ehren ein Gedenkturnier zu veranstalten, denn Schlechter hatte nicht nur mehrere bedeutende internationale Turniere gewonnen und zwanzig Jahre lang zu den besten Spielern der Welt gezählt, er war auch vor Capablanca der erste und einzige Gegner, den Emanuel Lasker nicht zu überwinden vermochte. In den schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg und der galoppierenden Inflation war natürlich die Finanzierung eines derartigen Turniers die erste und größte Hürde.

Carl Schlechter

Der Österreichische Schachverband (gegründet 1920) mit Josef Krejcik an der Spitze hatte es mit einiger Mühe geschafft, regelmäßig nationale Turniere und die Vereinsmeisterschaft auszutragen, aber ein internationales Meisterturnier? Zu viele verschiedene ideologische Gruppierungen und Interessen prallten im jungen Verband aufeinander: Dem großen Arbeiterschachklub stand der Deutsche Schachverein (mit Arierparagraphen) und diesem wiederum die Hakoah (der jüdische Schachklub) gegenüber, auf der anderen Seite vertraten bürgerliche Klubs wie Hietzing, Landstrasse oder der SK Schlechter eigene Interessen.

Doch Krejcik blieb hartnäckig. Er argumentierte, dass nur in Wettkämpfen mit erstklassigen Meistern sich die Spielstärke der übrigen Wiener Spieler heben könne.

Josef Krejcik als Vorsitzender des Österreichischen Schachverbandes

Dienten die Vereinswettkämpfe und Vereinsturniere vor allem dazu, die Schachkunst in weitere Kreise zu tragen, so sollten internationale Meisterturniere den Besten aus diesen Veranstaltungen Gelegenheit geben, sich weiter zu vervollkommnen und würdige Gegner der Großmeister zu werden. Er legte den Funktionären eine plausible Finanzierungsmöglichkeit vor: Alle Wiener Vereine sollten je nach Größe und Teilnahme an der Vereinsmeisterschaft gestaffelte Beträge („Nenngelder“) zur Finanzierung des Turniers beisteuern.

Interessanterweise stieß diese Idee auf keine großen Widerstände, und so konnte man zusätzlich mit Hilfe einiger kleinerer privater Mäzene, den Einnahmen aus einer Simultanvorstellung Rudolf Spielmanns und den Eintrittsgeldern zum Turnier das Unmögliche möglich machen. Doch trotz aller Opferbereitschaft der Vereine und Gönner wäre das Turnier nicht zustande gekommen, wenn nicht auch gleichzeitig die Berufsmeister viel Idealismus gezeigt hätten und an einem Turnier teilnahmen, das ihnen nicht allzu viel Entschädigung versprach.

Die Preise waren: 1. Preis 3,000.000 Kronen 2. Preis 2,500.000 Kronen 3. Preis 2,000.000 Kronen 4. Preis 1,000.000 Kronen 5. Preis 500.000 Kronen. Der gesamte Preisfonds betrug also umgerechnet nicht einmal 3000 Euro.[3]

Aber der Österreichische Schachverband hatte es trotz vieler Gegensätze geschafft, geschlossen aufzutreten, das Turnier aus eigenen Mitteln zu bestreiten, zudem war das Gelingen des Turniers weitgehend seiner Initiative zu verdanken.[4] Die nächste Premiere war, dass das Turnier in mehrerlei Hinsicht ausgewogen besetzt sein sollte. Hier gelang dem Verband sein Meisterstück, quasi die Quadratur des Kreises:

1) Das Teilnehmerfeld wurde zunächst nach Spielstärke in drei Gruppen gegliedert. Die erste Gruppe umfasste die Großmeister Grünfeld, Réti, Spielmann und Tartakower. Die zweite Gruppe die internationalen Meister Becker, Opočenský, Steiner und Takács, die dritte Gruppe schließlich die nationalen Meister Fischer, Gruber, Patay und S. R. Wolf.

Richard Reti

Rudolf Spielmann

2) Sodann war das Teilnehmerfeld regional gut aufgeteilt. Österreich-Ungarn feierte seine Wiederauferstehung auf dem Schachbrett, denn Steiner, Takács und Patay kamen aus Ungarn, Opočenský aus der Tschechischen Republik und der Rest aus Wien, wobei nur Grünfeld, Spielmann, Becker, Fischer und Gruber echte Wiener waren.

3) Fast die Hälfte der Teilnehmer kannte Schlechter persönlich oder saß ihm als Gegner am Brett gegenüber: Grünfeld, Réti, Spielmann, Tartakower und S.R. Wolf.

4) Der wohl heikelste Punkt, die Verteilung der Spieler innerhalb des Verbandes. Sie sollten die wichtigsten Klubs adäquat repräsentieren. Der Deutsche Schachverein entsandte Albert Becker und Theodor Gruber, der Arbeiterschachklub Felix Fischer, die Hakoah ihren Spitzenmann Sándor Takács und der Landstrasser Schachbund Siegfried Reginald Wolf.

Das Turnier verlief spannend, es wurde eine große Anzahl exzellenter Partien gespielt und es verlief auch klaglos und ohne jeglichen Misston, ein Hauptverdienst des Turnierleiters Josef Hanacik, der von Theodor Gerbec (Deutscher Schachverein Wien) tatkräftig unterstützt wurde. Eine weitere Neuerung war, dass es erstmals keine Hängepartien gab. Alle Partien mussten in einer Periode von sechs Stunden absolviert werden.

Internationales Carl Schlechter – Gedenkturnier Wien 16. 11. – 4. 12. 1923

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Savielly Tartakower

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Richard Réti

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3.

Rudolf Spielmann

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4./5.

Ernst Grünfeld

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4./5.

Lajos Steiner (HUN)

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6.

Albert Becker

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½

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7.

Karel Opočenský (ČSR)

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Sándor Takács (Hun)

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9./10.

Felix Fischer

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9./10.

Siegfried R. Wolf

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11.

Gyula Patay (HUN)

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12.

Theodor Gruber

½

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½

—

[Österreichische Schachrundschau 1923, 39]

Das Schlechter-Memorial fiel nicht nur in ein Zeitalter politischer und ökonomischer, sondern auch schachlicher Umbrüche. Zur klassischen Moderne gesellte sich die Hypermoderne, und so sah man neben den bewährten Spanischen Partien und Damengambits auch viele neuartige, bis dahin kaum bekannte Eröffnungssysteme. Réti spielte die Réti-Eröffnung und mit Schwarz Königsindisch, das noch in den Kinderschuhen steckte, Grünfeld spielte Grünfeld-Indisch und gegen Grünfeld-Indisch, die Aljechin-Verteidigung und Tartakower „naturgemäß“ oft aus der Zeit gefallene Eröffnungen wie das Königsgambit.

Der Sieger, Savielly Tartakower (1887-1956), war gefürchtet für seine originellen Eröffnungen, er wählte solche, die kaum bekannt waren oder die geradezu als schlecht galten, ganz nach seinem Motto: „Solange eine Eröffnung als schlecht gilt, kann sie auch gespielt werden.“

Savielly Tartakower

Da die Spielweise der Hypermodernen seinem Stil sehr nahe kam, wurde er zum ersten Autor der neuen Richtung und gab ihr auch den Namen. Obwohl dieser Kosmopolit in Wiens russischen Emigrantenkreisen ausschließlich als Dichter bekannt war, bleibt Savielly Tartakower für die Schachwelt der ungekrönte Weltmeister des Schachjournalismus. In Dutzenden von Tageszeitungen und Schachmagazinen in aller Welt erschienen seine Artikel, denen er eine persönliche intellektuelle Note zu geben wusste.[5] Als Literat war Tartakower von erstaunlicher Produktivität. Nicht nur, dass er Lyrik in deutscher, französischer und russischer Sprache verfasste, er schrieb auch mehr als ein Dutzend Schachbücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, und die voll von sprühendem, pointenreichem Witz und Sarkasmen, den sogenannten „Tartakowerismen“, sind.[6]

1919 wurde ihm zunächst die ukrainische, dann die polnische Staatsbürgerschaft verliehen, doch er lebte und arbeitete von 1904 bis 1924 in Wien und war literarisch weiterhin für Wiener Verlage tätig. Ende 1924 übersiedelte der eingefleischte Junggeselle wegen der sich verschlechternden Lebensbedingungen dauerhaft nach Paris, hinterließ aber den Wienern mit der „Hypermodernen Schachpartie“ (Wien 1924) ein richtungweisendes Werk des neuen Schachs.

Und noch eine Premiere: Für Tartakower war es der erste große Turniererfolg, obwohl er, seit er in Wien lebte, unzählige kleinere und größere Turniere gespielt hatte. Tartakower war seit seiner Jugend ein waghalsiger Spieler und nichts war ihm fremder als übergroße Vorsicht. Beim Durchspielen seiner Partien kann man feststellen, wie unerschrocken und vorurteilslos er die Eröffnungen behandelte. Das Vertrauen zu seiner Kraft, auf die Kunst seiner Mittel- und Endspielführung half ihm, egal ob er gut oder schlecht stand, sich in jeder Partie zu behaupten. Er war der festen Meinung, wie er selbst oft betonte, dass er erst dann verloren habe, wenn er mattgesetzt worden sei. Seinen Sieg in Wien kommentierte er mit unübertrefflicher Selbstironie:

„Als Mittel zum Zweck wählte Tartakower nur äußerst solide und korrekte Eröffnungen (so zum Beispiel das Königsgambit gegen Grünfeld und Réti), behutsames Lavieren im Mittelspiel (vergleiche sein Läuferopfer gegen Fischer) und zielbewusste Endspielstrategie, wodurch er die meisten seiner Gegner (zum Beispiel Steiner) besiegte.

Lajos Steiner

Dass er dabei manche so ziemlich gleichstehende Partie (so insbesondere gegen S. R. Wolf) durch unerhörtes Glück noch zu gewinnen und nur dadurch seinen unverdient hohen Stand zu erreichen vermochte, darf man seinen Konkurrenten aufs Wort glauben.“ (Tartakower 1923a, 307)

Besonders seine Partie gegen den theoriegewaltigen Ernst Grünfeld aus der vierten Runde war eine psychologische Glanzleistung:

Ernst Grünfeld 1924

„Aus diesem Grund erlaubte sich der schlaue Großmeister Tartakower im Wiener Turnier 1923, der die Stärke seines gewaltigen Gegners wohl erkannt hatte, in der Eröffnung eine kleine Unregelmäßigkeit. Meister Grünfeld, ob dieser Kühnheit einigermaßen erstaunt, konnte sich nicht enthalten, einer im Schachleben Wiens bekannten Persönlichkeit[7] die Bemerkung zuzuflüstern: ‚Einen Kaffeehauszug hat er gemacht!‘ Tartakower darüber befragt, erklärte etwas zynisch: ‚Was soll ich sonst spielen gegen ihn?‘ Und er behielt recht, indem er diese Partie dem etwas aus dem Konzept gebrachten Gegner abnahm.“ (Müller 1924, 8)

Partien

mit den Kommentaren aus zeitgenössischen Schachzeitschriften.

Tartakower, Savielly – Grünfeld, Ernst

Wien 22. 11. 1923 (4)

1.e4 e5 2.f4 Eine altrenommierte und meiner Ansicht nach sehr solide Fortsetzung, zu der ich durch den in Kagans Neuesten Schachnachrichten vor kurzem erschienenen Artikel Spielmanns: ‚Vom Krankenlager des Königsgambits‘ angeregt wurde. Der Artikel ist außerordentlich plastisch und lehrreich, nur hätte sein Titel zweckmäßiger ‚Vom Triumphlager des Königsgambits‘ lauten sollen, da seine Ausführungen eher zugunsten dieser Eröffnung sprechen. 2 … d5 3.d4 In der irrigen Annahme, etwas ganz Neues gespielt zu haben, da, wie der Führer der Schwarzen sofort konstatierte, dieser Zug bereits in einer Korrespondenzpartie S.R. Wolf – Becker vorgekommen sein soll. 3… exd4 4.Dxd4 Die Fortsetzung 4.e5 c5 5.Sf3 Sc6 6.c3 usw. ist weniger klar und entspricht daher nicht meinem Spieltypus. 4… Sf6 5.exd5 Ein böser Hereinfall wäre 5.e5 Se4 6.Sc3 Lc5 7.Dxd5 Lf2+ nebst Sxc3+ mit Damengewinn. 5… Dxd5 Nun folgt einige Züge lang ein interessantes Entgegenstemmen der beiderseitigen Damen. 6.Sf3 Sc6 7.De3+ Jetzt hätte Weiß nach etwa 7.Dxd5 Sxd5 8.Lb5 Ld7 bzw. 8.Lc4 Sdb4 9.Sa3 Sa5 usw. mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, da alle schwarzen Figuren wirksam ins Gefecht eingreifen können. 7... De4 Die Verwicklungen nach etwa 7... Le6 8.Sc3 (in Betracht kommt auch 8.Ld2 Lc5 9.De2) 8… Lb4 9.Ld2 Lxc3 10.Lxc3 usw. wären für Schwarz nicht ganz geheuer. 8.Sc3 Lb4 9.Ld3 Dxe3+ 10.Lxe3 Sd5 11.Ld2 Sxc3 12.bxc3 Lc5 Nun haben sich die beiderseitigen Pläne geklärt: Schwarz hat auf Verschlechterung der gegnerischen Bauernstellung, Weiß aber auf die freiere Figurenentfaltung hingearbeitet. 13.0–0–0 0–0 14.f5 Trotz des frühzeitigen Damentausches gelingt es dem Weißen, die feindlichen Streitkräfte lahmzulegen und einen heftigen Königsangriff einzuleiten. 14… Ld7 15.Lf4 Tac8 Auf 15… Lb6 oder auch 15… Se7 würde der Textvorstoß 16.f6 (mit der Drohung Lxh7+ nebst Txd7) noch mehr an Energie gewinnen.

Diagramm

6.f6 Auf 16.g4 (um den Ld7 möglichst eingeschnürt zu halten) würde sich Schwarz durch die Umgruppierung 16… Tfd8 17.Le4 Sa5 18.Se5 Le8 usw. einigermaßen befreien können. Weiß entschließt sich daher mit Hochdruck zu arbeiten. 16… Le6 17.Sg5 h6 Schwarz wehrt sich nach Kräften. Auf 17… g6 könnte 18.Sxe6 fxe6 19.Lc4 Txf6 20.Lg5 mit Qualitätsgewinn für Weiß folgen, und auch 17… Lxa2 wäre wegen 18.Lxh7+ Kh8 19.fxg7+ Kxg7 20.Kb2 (besser als 20.Lf5 La3+ 21.Kd2 Tcd8+) 20… Le6 21.Le4 usw. weniger ersprießlich. 18.fxg7 Kxg7 19.Se4 Viel nachhaltiger als etwa 19.Sxe6+ fxe6 20.Lg3 (20.Tf1? Txf4 nebst Le3+) 20… Le3+ 21.Kb2 Lf4 mit großer Vereinfachung der Kräfte. 19... La3+ Eine scharfe Wendung wäre 19… Le7 20.Sg3! Lg5 21.Sh5+ Kh8 22.Lxg5 hxg5 23.h4! Lxg4 24.hxg5 und gewinnt). 20.Kb1 Se7 Nun droht Schwarz zum Gegenspiel zu gelangen. 21.Sg3! Mit 21.Le5+ f6 würde Weiß nichts erreichen. In Betracht kamen hier auch die Vorbereitungszüge 21.c4 sowie 21.Thf1. Zum Beispiel: 21.Thf1 Sd5 (besser 21… Sg6) 22.Ld2 c5 23.c4 Tc6 24.Ka1! usw. Das Textmanöver stellt jedoch die präziseste Ausnützung des weißen Stellungsvorteils dar, da es unmittelbar Sh5+ droht und auch f5 verhindert. 21... Lg4 22.Tdf1 Ld6 Am besten. Auf 22… Sg6 würde 23.h3 Sxf4 24.hxg4! rasch entscheiden. 23.h3 Lxf4 24.Txf4 Le6 25.Sh5+ Kh8 26.Thf1 Das Qualitätsopfer nach 26.Tf6 Sg8 27.Thf1 Sxf6 28.Txf6 Tfd8 wäre kaum korrekt. Der Textzug verstärkt den weißen Mattdruck ganz bedeutend. 26… Sd5? Mit 26… c5 hätte Schwarz wohl den Ausgleich hergestellt. Zum Beispiel nach der plausiblen Folge 27.Th4 c4 28.Le4 Sg6! stünden beide Teile ungefähr gleich. 27.Th4 Sxc3+ 28.Kb2 Sd5 29.Sf6 In Zeitnot beschließt Weiß, sich mit einem kleinen Vorteil zu begnügen, da sämtliche Verwicklungen nach etwa 29.c4 Sb4 30.Lb1 f5 (zum Beispiel 31.Sf4 Tf6 32.Sxe6 Txe6 33.Lxf5 Tf8 usw.) schwer zu übersehen waren.

Diagramm

9... Kg7?? Geboten war selbstredend 29... Sxf6, und da der Führer der weißen Steine bekanntlich kein methodischer Endspieler ist, so ist es fraglich ob er dann seinen kleinen Vorteil (den schönen Freibauer h3, während die schwarze Bauernmasse am Damenflügel sehr ungelenkig ist) zum Gewinn ausnützen könnte. Allerdings plante er nach 29… Sxf6 30.Txh6+ Kg7 31.Thxf6 Th8 32.T6f4 mit beibehaltenem Stellungsdruck. 30.Sxd5 Lxd5 31.Tg4+ Kh8 32.Tf6 Aufgegeben.

(Gekürzte Anmerkungen von Tartakower in: Österreichische Schachrundschau 1924, 69-72)

Zum Nachspielen:

Tartakower gelang auch das beste Endspiel des Turniers:

Tartakower, Savielly - Steiner, Lajos

Wien 4. 12. 1923 (11)

Diagramm

20.Tad1! Die Drohung Ld5 ist nicht mehr zu parieren. Schwarz findet die beste Antwort. 20… Se5 21.Ld5 Sg4! 22.Lxe4 Sxe3 23.fxe3 Lc5 24.Kg2! Wichtiger als die Behauptung des Mehrbauern ist eine gute Stellung. Auf 24.Txf8+ Txf8 25.Td3 käme 25… Te8 26.Lxb7 Txe3 27.Txe3 Lxe3+ und das Spiel endet unentschieden. 24… Txd1 Auf 24… Txf1 gewinnt 25.Txd8+ Tf8 26.Txf8+ nebst Lxb7. 25.Txd1 Lxe3 26.Td7 Lb6 Falls 26... Tf2+ 27.Kh3 g5, so 28.Th7+ Kg8 29.Txc7 Txb2 30.Lxb7! usw. 27.Kh3! Kg8 28.Ld5+ Kh7 29.Lf7! h5! Steiner erkennt die Größe der Gefahr: Einschnürung durch Kg4 und Kh5. Auf 29… g6 folgt 30.Le8+ Kg8 31.Lxg6 Tf2 32.b4!, auf 29… g5 kommt siegbringend 30.Kg4 Kg7 31.Lc4+ Kg6 32.Ld3+ Kf6 33.Th7. 30.g4! Bewundernswert, wie Weiß das Endspiel behandelt. Der Lf7 darf seinen beherrschenden Posten nicht verlassen, sonst wird der schwarze Turm frei. 30… hxg4+ 31.Kxg4 Kh6 32.Kf5 c6 Anders kann er nicht das Geringste unternehmen. Falls 32… g6+, so 33.Kf6, Td3 drohend. 33.Txb7 Td8 34.h4 Td2 35.b4 Tf2+ 36.Ke6 Tf6+ Auf den Bc3 kann Schwarz nicht losgehen; falls 36... Tc2, so 37.Tb8 Kh7 38.h5 Txc3 39.Lg6+ Kh6 40.Kf5 und Schwarz kann das Matt nicht decken. 37.Ke7 Lf2 38.h5 Tf3 39.c4 Lh4+ 40.Kf8 Ta3 41.c5 a5 Es drohte 42.Tc7. Auf 41… Lf6 folgt wie in der Partie. 42.b5 cxb5 43.Txb5 a4 Sonst käme 44.Lb3 (drohend c5-c6) 44… a4 45.Ta5. 44.Tb4 Lf6 45.Tg4! Lg5 Es droht 46.Tg6+ Kh7 47.Lg8+ Kh8 48.h6 usw.

Diagramm

6.Txg5! Entscheidend. Die beiden Freibauern des Weißen gewinnen das Rennen ohne Mühe. 46... Kxg5 47.Kxg7 Kf5 48.c6 Tg3+ 49.Lg6+ 1-0. Dr. Tartakower hat im Großmeisterstil gespielt!

(Anmerkungen Lajos Steiner in Lachaga 1968, 74)

Zum Nachspielen:

Der erste Schönheitspreis von 5 Dollar wurde Richard Réti (1889-1929) für seine Partie gegen Theodor Gruber zuerkannt, und das für einen echten hypermodernen Aufbau!

Réti, Richard - Gruber, Theodor

Wien 4. 12. 1923, (11)

1.Sf3 Sf6 2.c4 d6 3.g3 Lf5 4.Lg2 c6 5.b3 Weiß vermeidet 5.0-0, da dann nach 5… Dc8 6.h3 nicht geschehen konnte. 5... Dc8 6.h3 Zwar kann Weiß nun vorläufig nicht rochieren. Doch ist dies kein so großes Übel, da Schwarz seine Dame und Damenläufer doch nicht dauernd, unverstellt durch andere Steine, auf der Diagonale c8-h3 halten kann. 6... e5 Dieser Zug verleiht der Partie prinzipielles Interesse. Während ältere Meister es für eine Stärke hielten, einen Bauern im Zentrum zu haben, bin ich der Ansicht, dass der Bauer e5 der wunde Punkt der schwarzen Stellung ist. Er gibt dem Weißen die Angriffsmöglichkeiten c4-c5, d2-d4 und f2-f4, gegen die sich Schwarz nun dauernd verteidigen muss. 7.Lb2 Sa6 Gegen c4-c5 gerichtet. Der Springer geht nicht nach d7, um die weiße Rochade noch nicht zu ermöglichen. Übrigens hat der Springer auf a6 keine ungünstige Stellung, zumal er über c7 oder c5 nach e6 geführt werden kann. 8.Sc3 h6 dieser Zug ist eine notwendige Folge der Bauernstellung e5. Auf die natürliche Fortsetzung der Entwicklung durch 8… Le7 würde Weiß nämlich 9.d4 erwidern. Der Abtausch 9… exd4 wäre schon wegen des rückständigen Bauern d6 offenbar für Weiß günstig. Auf 9… e4 käme Weiß aber durch 10.Sh4 in Vorteil. Daher die Notwendigkeit von 8… h6. 9.d3 Le7 10.Dd2 Sc7 Wahrscheinlich fürchtet Schwarz auf sofortige Rochade einen weißen Angriff mit g3-g4 usw. und führt deshalb erst seinen Springer zu Hilfe. 11.Sd1 0–0 12.Se3 Lh7 Wieder eine Folge des schwarzen Zentrumsbauern e5 ist es, dass Schwarz die weiße Rochade nicht länger verhindern kann. Auf 12… Ld7 würde nämlich 13.c5 folgen und auf die darauf positionell einzig gute Antwort 13… e4 würde Weiß durch 14.exd6 Lxd6 15.dxe4 Sxe4 16.Dd4 gewinnen. Steht aber der Läufer statt auf d7 auf h7, so ergibt diese Wendung keinen Vorteil für Weiß, da Schwarz 16.Dd4 mit 16… Se6 beantworten kann. 13.0–0 Sd7 Einerseits gegen eventuelles c4-c5 gerichtet, andererseits um f7-f5 spielen zu können. 14.Sh2 Die letzte Angriffsmöglichkeit, die der Bauer e5 bietet, wird nun ausgenützt, nämlich die Linienöffnung durch f2-f4. 14... Se6 15.f4 exf4 Am besten war Defensive durch f7-f6. Dies ließe aber die Inferiorität der schwarzen Partieanlage zugeben. 16.gxf4 f5 Hat den Nachteil, dass der Lh7 eingesperrt wird. Aber sonst gäbe es offenbar andere Nachteile. 17.Kh1 Sf6 Vorsichtiger war 17… Lf6, worauf Weiß mit 18.d4 antworten wollte. Schwarz steht dann schlecht ohne jede Gegenchance. Mit dem Textzug hofft er durch die Drohung Sh5 Gegenspiel zu erlangen. 18.Tg1 Sh5 Auf 18... Sxf4 beabsichtigte Weiß 19.Sd5 S4xd5! 20.cxd5 c5! 21.Lf3 Kh8 22.Tg2 und Schwarz kommt nicht mehr dazu, den weißen Druck gegen g7 abzuschütteln. 19.Lf3 Shxf4

Diagramm

20.Sd5! Sxd5 Auf 20... cxd5 folgt 21.Dxf4 Sxf4? (sonst kommt Weiß durch Eroberung des Feldes d5 auch in Vorteil) 22.Txg7+ Kh8 23.Txe7+ Tf6! 24.Lxf6+ Kg8 25.Tg7+ Kf8 26.Txh7 usw. 21.cxd5 Lg5 Figurenverlust ist nicht zu vermeiden. Auf 21... Sg5 folgt 22.h4. Auf 21… cxd5 folgt 22.Lxd5 Lf6 23.De3! (nicht 23.Dxh6? Lxb2 24.Lxe6+ Kh8) und gewinnt.

Diagramm

22.dxe6+! Allerliebst. Auf 22… Lxd2 folgt 23.Txg7 nebst Matt. Jetzt hat Schwarz bei schlechter Stellung eine glatte Figur weniger, sodass alles Weitere ohne Belang ist. (T) 22… Dxe6 23.Dc3 Weiß lässt sich Muße statt etwa durch 23.Txg5 usw. sofort grob zu werden. (T) 23... Lf6 24.Dd2 Kh8 25.Tg2 Tf7 26.Tag1 Le5 27.d4 1–0

(gekürzte Anmerkungen von Richard Réti und Savielly Tartakower in: Wiener Schach-Zeitung 1924, 12-13)

Zum Nachspielen:

Auch an der schönsten Remispartie des Turniers war Réti beteiligt:

„Eine phantastische Remispartie, in der sich der Kombinatoriker Réti als ein großer Eröffnungskünstler und der Eröffnungskünstler Grünfeld als ein großer Kombinatoriker entpuppt.“ (Tartakower 1924, 5)

Grünfeld, Ernst - Réti, Richard

Wien, 23. 11. 1923 (5)

1.d4 Sf6 2.Sf3 g6 3.c4 Lg7 4.Sc3 0–0 5.e4 d6 6.h3 c5 7.d5 e6 8.dxe6 fxe6 9.e5? In feiner Weise zeigt Schwarz die Unzulänglichkeit dieses Zuges auf und erlangt klaren Vorteil. Mit 9.Le3 Sc6 10.Ld3 e5 11.0-0 Sd4 12.Sd2 hätte Weiß noch eine gute Partie. (G) 9… dxe5 10.Dxd8 Txd8 11.Sxe5 Sd5! 12.Sxd5 Nach 12.cxd5 Lxe5 13.dxe6 Lxe6 steht Schwarz ebenfalls weit überlegen. (R) 12… exd5 13.Sf3 Sc6 Schwarz konnte auch mit 13… Te8+ 14.Kd1 d4 in einfacher Weise klaren Positionsvorteil erlangen. Er zieht es jedoch vor, auf Angriff zu spielen. (R) 14.Ld2 Te8+ 15.Kd1 Lf5 Nicht das Beste. Auch 15… Lxb2 16.Tb1 Lg7 17.cxd5 nebst Lc4 würde dem Weißen eine Gelegenheit zum Entschlüpfen bieten. Richtig war 15… Le6 und erst auf 16.Sg5 Lf5. (G) Am einfachsten und schärfsten war aber 15… dxc4! 16.Lxc4+ Le6, worauf der schwarze Druck greifbare Formen gewinnt, z.B. 17.Lxe6+ Txe6 18.Tb1 Sd4 19.Sxd4 Lxd4 20.f3 Td8 usw. (T) 16.cxd5! Lxb2 17.dxc6 Lxa1 18.cxb7 Tad8 Der Freibauer b7 ist nun so stark, dass die Partie auch bei 18… Tab8 19.La6 nicht mehr zu gewinnen ist: 19… Le4 20.Te1! oder 19… Te6 20.Lf4. (G) 19.Lc4+ Kg7 20.Te1 Le4 Als Schwarz 18… Tad8 zog, hatte er nur 21.Sg5 Lxb7 22.Se6+ Txe6 nebst Lxg2 in Betracht gezogen. Grünfeld spielt aber viel feiner. (R)

Diagramm

21.Txe4! Txe4 22.Sg5 Wunderschön. Wenn nun 22… Txc4, so 23.Se6+ Kf6 24.Sxd8 Le5 25.Sc6 Ld6 26.a3! und Weiß kommt gar noch in Vorteil. Grünfeld hat das alles prachtvoll kombiniert. (T) 22… Tee8 23.Se6+ Kf6 Nicht 23… Txe6 24.Lxe6 Lc3? wegen 25.b8D! und gewinnt. (G) 24.Sxd8 Txd8 25.Kc2 Le5 26.f4 Lb8 27.Le2! Um den Bauern von f3 aus zu decken, womit das Remis gesichert ist. (RR) 27… Ke6 28.Lf3 Td4 29.Le3 Ta4 30.Kb3 Tb4+ 31.Kc3 Ta4 32.Kb3 Tb4+ 33.Kc3 Ta4 34.Kb3 Tb4+ 35.Kc3 ½–½

(Anmerkungen von Grünfeld, Réti und Tartakower in Lachaga 1968, 38-39)

Zum Nachspielen:

Mit einem turbulenten Sieg in der Schlussrunde katapultierte sich Rudolf Spielmann (1883-1942), der ansonsten etwas enttäuschte, noch in die Preisränge.

Spielmann, Rudolf –Takács, Sándor

Wien 4. 12. 1923 (11)

1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.c4 Sb6 4.d4 d6 5.exd6 exd6 6.Ld3 Sc6 7.Se2 Sb4 8.0–0 Sxd3 9.Dxd3 Le7 10.Sbc3 0–0 11.f4 c6 12.f5 Sd7 13.Lf4 Sf6 14.Sg3 d5 15.c5 Danach befreit Schwarz sein Spiel durch einige kräftige Züge vollständig. 15.b3 bot mehr Möglichkeiten. (R) 15... b6 16.Sa4 Auf 16.b4 folgt vorteilhaft 16… a5, drohend La6. (R) 16… bxc5 17.Sxc5 Lxc5 18.dxc5 Se4! 19.Dd4 Falsch wäre 19.Sxe4 wegen 19… Lxf5. (R) 19... Sxg3 20.Lxg3 f6 21.Tae1 Te8 22.h3 Ein Luftloch als Vorbereitung der folgenden Angriffskombination. (R) 22… La6 23.Tf3 Txe1+ 24.Lxe1 Dd7 25.Lc3 Te8 26.Tg3! Kf8 Das Einzige! Man beachte die für Weiß vorteilhaften Wendungen: 26… Kh8 27.Dxf6! oder 26… Kf7 27.Txg7+! oder endlich 26... Dxf5 27.Dxf6 Dxf6 28.Lxf6 g6 29.Ta3 usw. (R) Falls aber 26… Te5, so ist 27.Dh4! richtig: 27… Txf5 28.Lxf6 Tf1+ 29.Kh2 g6 30.Lc3! mit der Drohung Dd4. (B) 27.Dh4 Dxf5 Auf 27… h6 entscheidet 28.Lxf6! gxf6 29.Dxh6+. (R) 28.Tf3 Te4! 29.Dg3 De6 30.Db8+ Bei 29… Dd7 oder 29… Dc8 entscheidet wieder das Läuferopfer auf f6, z.B. 29… Dc8 30.Lxf6 gxf6 31.Txf6+ Ke8 32.Dd6! Te7 33.Df4 Kd7 34.Tf8! Dc7 35.Df5+ usw. (B) 30... Dc8 31.Dd6+ Der Rückgewinn des Bauern durch 31.Dxa7 Te7! wäre nicht günstig für Weiß. (R) 31… Kg8 Auf 31… Te7 würde Weiß hübsch gewinnen mit 32.Lxf6 gxf6 33.Txf6+ Ke8 und wie vorhin 34.Df4. (R) 32.Lxf6

Diagramm

32… Te6? Bisher hat sich Schwarz ganz ausgezeichnet verteidigt. Aber nun wird er ängstlich, nach 32... gxf6 33.Dxf6 Db8 hat Weiß nichts Besseres als Remis durch ewiges Schach. (R) 33.Dg3 Dd7 34.Lxg7! Tg6 Falls 34... Dxg7 35.Db8+. (B) 35.Db8+ Spielmann übersieht hier die sofort entscheidende elegante Fortsetzung 35.Lh6! De8 36.De5! bzw. 35… Dc8 36.Df4. (R) 35... Lc8 36.Ld4 De8 Es drohte 37.De5. (B) 37.Te3? Übersieht erneut eine versteckte Taktik. Das Manöver 37.Df4 De7 38.Te3 nebst De5 gewann sofort. (E)

Diagramm

37… Te6? Auch Schwarz übersieht die Rettung in letzter Sekunde mittels 37… Txg2+! 38.Kh1 (38.Kxg2? Lxh3+) 38… Df8 39.Tg3+ Txg3 40.Dxg3+ mit Remis. (E) 38.Dxa7 Df7 39.Tg3+ Tg6 40.Db8 Txg3 41.Dxc8+! Führt rascher zum Ziel als 41.Dxg3+ Dg6. (B) 41… Df8 42.De6+ Df7 43.Dc8+ Df8 44.De6+ Df7 45.Dc8+ Df8 Die Zugwiederholung erfolgte wegen der Zeitkontrolle beim 45. Zug. Damals galt als Remisregel die dreimalige Wiederholung eines Zugspaares und nicht wie heute die dreimalige Wiederholung einer Stellung. (B) 46.Dxc6 Tg5 47.Lf6 Th5? Verliert den Turm. Aber die Partie war auch sonst verloren, denn der d-Bauer fällt. (RR) 48.De6+ Df7 49.Dc8+ 1-0. Auf 49… Df8 folgt 50.Dg4+. (B)

(Anmerkungen von Réti und Becker in Lachaga 1968., 68-70 und Ehn)

Zum Nachspielen:

Auch Ernst Grünfeld (1893-1962), dessen Leistungskurve 1923 steil nach oben gezeigt hatte (Siege in Margate und Frankfurt, Dritter in Mährisch Ostrau, jeweils ohne Niederlage!), enttäuschte etwas, allerdings gelangen ihm einige prächtige Partien.

Grünfeld, Ernst - Steiner, Lajos

Wien 30. 11. 1923 (9)

1.d4 Sf6 2.Sf3 g6 3.c4 Lg7 4.Sc3 d5 Meine Verteidigung, die sich steigender Beliebtheit erfreut, Sie wird neuerdings unter anderen auch von Aljechin, Réti, Dr. Tartakower angewendet. 5.e3 0–0 6.Db3 Viel stärker als 6.cxd5, was gewöhnlich gespielt wird. Schwarz ist jetzt genötigt, sein Zentrum zu stützen, da er es mit Figuren nicht mehr decken kann. Nach 6… c6 ist nun mit Umstellung eine Stellung aus dem Damengambit erreicht. 6… c6 7.Ld2 dxc4 Ein Fehler wäre hier auch 7… Se4? 8.cxd5 Sxc3 9.dxc6! mit Bauerngewinn. Die Aufgabe der Mitte ist nicht empfehlenswert. Weiß erlangt danach die überlegene Stellung. Die einzig richtige Verteidigung, die gute Gegenaussichten bietet, ist hier 7… e6! nebst Sbd7, De7 und Anstrebung von e5! Die Einengung von Schwarz ist nur eine momentane! 8.Lxc4 Sbd7 9.0–0 Sb6 10.Le2 Le6 11.Dc2 Lf5 Auf 11... Sc4 könnte Weiß mit 12.Lc1 zunächst seinen Läufer konservieren und dann mit b2-b3 den Springer zurücktreiben. Der Textzug will dem Anziehenden einen schwachen Bauern auf d4 schaffen, der sich aber in Wirklichkeit als sehr stark erweist. 12.e4 Lg4 13.Le3 Sfd7 Etwas besser war wohl 13... Lxf3 14.gxf3 (14.Lxf3 Sc4), womit sich Schwarz wenigstens einige Gegenaussichten am feindlichen Königsflügel verschaffen würde. Nach dem Textzug wird Schwarz vollständig zerniert. 14.Tad1 De8 15.h3 Lxf3 16.Lxf3 Tc8 17.Db3 c5

Diagramm

18.d5! Verfehlt wäre es, mit 18… dxc5 Sxc5 19.Lxc5 Txc5 20.Da3 auf Bauerngewinn zu spielen, da nach 20… Dc8 21.Dxa7 Dc7 mit der Drohung Ta8, Lxc3 und auf 22.Da3 Sc4 Weiß seinen ganzen Vorteil verloren hätte. 18… Dd8 19.a4! c4 20.Da3 Nicht 20.Db4 wegen 20… Le5. 20… Se5 21.Le2 Dd6 Jetzt ist für Schwarz keine befriedigende Fortsetzung mehr zu sehen. Auch 21… Sd3 22.Lxd3 cxd3 23.Lxb6 Dxb6 24.Txd3 Lxc3 25.Txc3 mit einem gesunden Mehrbauern ist nicht gerade ersprießlich für Schwarz. 22.Dxd6 exd6 23.a5 Sbd7 Oder 23... Sa8 24.Sb5 Tcd8 25.Lxa7. 24.Sb5 a6 25.Sxd6 Tc7 26.f4 Sd3 27.Lxd3 Dies in Verbindung mit dem nächsten Zug führt am schnellsten zum Ziel. Der fianchettierte Läufer auf g7 wird von der Mitwirkung ausgeschlossen! Schwächer wäre 27.Sxc4 Sxb2 28.Sxb2 Lxb2. 27… cxd3 28.e5! Td8 29.Txd3 Lxe5

Diagramm

30.Sxf7! Am einfachsten! Auch 30.fxe5 Sxe5 31.Lb6 würde genügen. 30… Kxf7 31.fxe5+ Ke8 32.Lg5 Tdc8 33.d6 Tc5 Falls 33… Sxe5, so 34.Te1. 34.Lf4 g5 35.Lg3 Sf8 36.e6 1–0

(Gekürzte Anmerkungen von Ernst Grünfeld in: Neue Wiener Schach-Zeitung 1923, 312-313)

Der jüngste Teilnehmer, der 19-jährige Ungar Lajos Steiner (1903-1975) aus der bekannten Schachfamilie Steiner (Vater Bernát, Bruder Endre, Cousin Herman) hingegen beeindruckte mit seinen kompromisslosen Partien und lag lange Zeit in Führung. Allerdings machte er gegen die Großmeister nur einen halben Punkt aus vier Partien, während er den Rest des Feldes mit 6,5 aus 7 abfertigte.

Zum Nachspielen:

Steiner, Lajos – Becker, Albert

Wien 3. 12. 1923 (10)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.d3 d6 6.c3 Le7 7.Sbd2 0–0 8.Sf1 b5 9.Lc2 d5 10.Ld2 Le6 Hier nicht so gut wie gegen das übliche 10.De2. Mit 10… Te8 11.Sg3 Lf8 steht Schwarz gut (Tartakower – Réti, New York 1924). 11.Sg3 dxe4 12.dxe4 Lc4 13.b3 Ld3 14.Lg5 Lxc2 15.Dxc2 Sd7 16.h4 Mit der Beseitigung des feindlichen Angriffsläufers hat Schwarz Zeit verloren. Weiß bläst bereits zum Sturm. 16… f6 17.Le3 Lc5 18.Dd3 Lxe3 19.Dxe3 Bei 19.Dd5+ Tf7 20.Dxc6 Lf4 21.Se2 befreit sich Schwarz mit 21… Dc8 nebst Ta8-b8-b6. 19… De7 20.Td1 Tfd8 21.Sf5 Da3! Mit 21… Dc5 hätten sich die Spiele ausgeglichen. 22.h5 Weiß lässt seinen Damenflügel im Stich und setzt alles auf eine Karte. 22… Sf8 23.0–0 Se6 24.S3h4 Dxa2 Gewagt, doch kann der Angriff des Weißen bei richtiger Verteidigung pariert werden. 25.Dg3 Dxb3

Diagramm

6.Sxg7! Txd1? Schwarz übersieht, dass vier Züge später der Turm wieder verloren geht. Offenbar schlecht wäre auch 26… Sxg7? 27.Sf5 Df7 28.Sh6+. Dagegen hätte 26… Sg5 den Angriff schließlich abgeschlagen. Steiner plante hierauf 27.Txd8+ Txd8 28.f4 exf4 29.Dxf4 Td1? 30.Se8 und Weiß gewinnt. Schwarz zieht aber stärker 29… Dxc3!, z.B. 30.Tc1 De5 oder 30.Dxc7 Dd4+ 31.Kh1 Sxe4 usw. 27.Sxe6+ Kf7 28.Dg7+ Kxe6 Nicht 28… Ke8? 29.Df8+ Kd7 30.Sc5 matt. 29.Dg4+ Kf7 30.Txd1 Tg8 Schwarz steht auf Verlust. Falls 30… De6, so 31.Sf5 nebst Dg7+. 31.Dd7+ Se7 32.Sf5 Te8 33.Td3 Kf8 34.Tg3 Db1+ Es drohte z.B. 35.Sxe7 Txe7 36.Dd8+ Te8 37.Dxf6+ Df7 38.Dh6+ Ke7 39.Tg7 und gewinnt. Auf 34… Sxf5 folgt 35.Dxf5! Df7 36.h6 nebst Tg7. 35.Kh2 Dxe4 36.Sg7 Ein prächtiger Schluss wäre 36.Tg8+! nebst Matt gewesen. Aber auch so: 1–0

(Kommentar Albert Becker in Lachaga 1968, 65-66)

Zum Nachspielen:

Literatur

Deutsche Schachzeitung 1923

Lachaga, Milciades A. (1968): Karl Schlechter. Seine Schachlaufbahn Sein Match 1910 um die Weltmeisterschaft und das 1. Gedenkturnier Wien 1923. Buenos Aires

Magyar Sakkvilág 1924

Müller, Hans (1924): Grünfeld. In: Neues Wiener Journal 24. 11. 1924, 8

Österreichische Schachrundschau 1923, 1924

Palitzsch, Friedrich (1923): Das Schlechter-Gedenkturnier zu Wien. In: Deutsche Schachzeitung 1923, 265-266

Tartakower, Savielly G. (1923a): Das Karl-Schlechter-Gedenkturnier des Oesterreichischen Schachverbandes in Wien. Dr. Savielly Tartakower – Sieger. In: Neue Wiener Schach-Zeitung 1923, 305-317

Tartakower, Savielly (1923b): Karl Schlechter-Gedenkturnier des Österreichischen Schachverbandes zu Wien vom 15. November bis 5. December 1923. (Rosige Betrachtungen eines hohen Preisträgers.) In: Österreichische Schachrundschau 1923, 36-39

Tartakower, Savielly (1924): Das Karl Schlechter-Memorialturnier des Österreichischen Schachverbandes in Wien vom 15. November bis 5. December 1923. Ein Rückblick. In: Magyar Sakkvilág 1924, 3-7

Thanhofer, Hans (1924): Das Karl Schlechter-Gedenkturnier. In: Österreichische Schachrundschau 1924, 1-20

Wiener Schachzeitung 1923, 1924

 

[1] Das riesige Café war damals der Sitz des Wiener Arbeiterschachklubs, ab 1925 des österreichischen Arbeiter-Schachbundes. Heute ist das Café unter dem Namen „The Lizard Pub & Billiards“ ein beliebter Treffpunkt für Billard- und Dart-Fans mit 9 großen Billardtischen und einem Extraraum für Darts.

[2] Das Wiener Turnier 1921, das Fritz Sämisch gewann, wurde vom Wiener Schachklub organisiert und finanziert, während für das Wiener Turnier 1922 der junge österreichische Staat alle Kosten trug (Sieger Akiba Rubinstein).

[3] Erst 1925 wurde in Österreich die Schillingwährung eingeführt, die eine Rückkehr zu halbwegs normalen Wirtschaftsverhältnissen mit sich brachte.

[4] Es blieb auch das erste und letzte internationale Turnier, das von einem einheitlichen österreichischen Schachverband organisiert wurde. Schon 1924 trat der Arbeiterschachklub aus dem Verband aus und gründete einen eigenen Arbeiterschachbund.

[5] So kam seine Schachspalte in der Wiener „Illustrierten Rundschau“ ab August 1920 jahrelang ohne eine einzige Partie aus.

[6] Zur Illustration einige dieser Sentenzen, die mittlerweile Allgemeingut geworden sind: „Der vorletzte Fehler gewinnt.“ „Letzte Wahrheiten sind oft erste Lügen.“ „Der Taktiker muss wissen, was er zu tun hat, wenn es etwas zu tun gibt; der Stratege muss wissen, was er zu tun hat, wenn es nichts zu tun gibt.“ „Die Drohung ist stärker als ihre Ausführung.“ „Es ist stets besser, die Figuren des Gegners zu opfern.“ „Durch Aufgeben hat noch niemand eine Partie gewonnen.“

[7] Hier ist der Autor Hans Müller selbst gemeint.


Geboren 1960 in Wien. Studium der Linguistik und Soziologie. Schachhistoriker und -journalist. Zahlreiche Fachpublikationen, Vorträge und Ausstellungen zum Thema Schach und Geschichte mit dem Schwerpunkt österreichische Schachgeschichte. Betreibt die aus dem Wiener Schachverlag hervorgegangene Buchhandlung Schach und Spiele in Wien. Besitzt eine der weltweit größten Sammlungen von Schachliteratur.