Kramnik bricht sein Schweigen zum Krieg

von Martin Breutigam
06.03.2023 – Während sich eine Reihe von russischen Schachmeistern und -meisterinnen öffentlich für einen Stopp des russischen Angriffskriegs ausgesprochen haben, ist von anderen kaum etwas zu hören gewesen. Zum Beispiel von Vladimir Kramnik, dem 14. Weltmeister (2000 bis 2007). Martin Breutigam, Autor und Internationaler Meister, hat wegen des langen Schweigens mal nachgefragt bei Kramnik – und eine ausführliche Antwort erhalten. | Foto: Guido Kohlen

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Nach langer Zeit mailte ich Vladimir Kramnik zwei Fragen, mit der Bitte um ein Statement für meine wöchentliche Zeitungskolumne im Berliner „Tagesspiegel“. Im Gegensatz zu manchen russischen Großmeisterkollegen, die schon frühzeitig und teils sehr mutig den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilten, hat sich der seit langem in der Schweiz lebende Kramnik mit öffentlichen Erklärungen bislang zurückgehalten. Zu meiner Überraschung folgte schon am nächsten Tag eine ausführliche Antwort. Kramnik verband sie allerdings mit einer Bedingung: Ich dürfe seine Worte gerne veröffentlichen – „aber nur in voller Länge“. Ich schrieb zurück, dafür sei meine Kolumne viel zu klein sei. Nach kurzem Hin und Her einigten wir uns, seine Sichtweise ungekürzt auf dieser Seite zu veröffentlichen.

Gewiss, bei einigen Passagen würde man gerne sofort nachhaken oder widersprechen, aber es ist eben kein Interview und auch keine Diskussion mit Rede und Gegenrede, sondern das persönliche Statement eines prominenten Mannes mit halb russischen und halb ukrainischen Wurzeln.

Hier meine beiden ursprünglichen Fragen und Kramniks Antworten.

Frage 1: Welche (Schach-)Projekte oder Pläne verfolgst du momentan?

Kramnik: Ich mache viele Dinge, unter anderem nehme ich einen neuen Kurs auf Chessable auf, habe gerade die pädagogische Schachanwendung für Kinder (hauptsächlich, aber nicht nur) Chess Legends veröffentlicht, die jeder im Web herunterladen kann, und andere Dinge. Ich plane, in diesem Jahr am Dortmunder No-Castle-Schachturnier teilzunehmen.

Frage 2: Wenn ich nichts übersehen habe, hast du noch keine öffentliche Stellungnahme zum russischen Krieg gegen die Ukraine abgegeben. Im Gegensatz zu etlichen deiner Kollegen. Warum hast du noch keine Haltung dazu formuliert?

Kramnik: Ich nutze keine sozialen Netzwerke, ich bin es nicht gewohnt, mich öffentlich zu äußern, und in der Tat bist du der erste Journalist, der mir diese Frage gestellt hat.

Wenn du meine Gedanken dazu wissen willst, kann ich sie hier beschreiben. Ich bin gegen ALLE Kriege A PRIORI, ohne Ausnahme, aber ich sehe nicht viel Sinn darin, diese offensichtliche Idee öffentlich zu machen. Es sei denn, man sucht nach öffentlichem Applaus.

Leider ist festzustellen, dass sehr wenige Politiker oder öffentliche Personen – im Gegensatz zu ihren Worten – in Wirklichkeit ECHTE Anstrengungen unternehmen, dies irgendwie zu STOPPEN. Im Gegenteil, oft gießen diese Äußerungen meiner Meinung nach nur Öl ins Feuer und provozieren noch mehr Konfrontation und Hass unter den Menschen ...

Es gibt heutzutage viel Demagogie und „richtige Worte“ in den Medien, aber ich ziehe es vor, stattdessen zu versuchen, einigen Menschen zu helfen, die in diesen schwierigen Zeiten Hilfe benötigen, egal welcher Nationalität sie sind. Und ich hoffe, dass endlich alle anfangen zu diskutieren, was praktisch getan werden kann, um Wege zu finden, den Krieg zu stoppen.

Ich habe den starken Verdacht, dass viele öffentliche „Aktivisten“ (natürlich, verstehe mich nicht falsch, es gibt genug aufrichtige Menschen, aber immer noch eine Minderheit) diese dramatische Situation nur für ihren eigenen Stolz ausnutzen (hauptsächlich, um sich auf der „richtigen Seite“ zu fühlen und von der Öffentlichkeit gemocht zu werden), denn nur wenige von ihnen gehen über Worte hinaus. Oder sie denken über die möglichen Folgen ihrer Vorschläge nach, die sie aus ihrer „moralisch gerechtfertigten Wut“ heraus gemacht haben.

Noch etwas lässt mich so denken, ich habe von den meisten von ihnen früher keine Bedenken gehört über Hunderttausende von Opfern während der letzten großen Kriege wie im Irak, Syrien, um nur einige zu nennen. Und einige hatten diese Kriege sogar öffentlich unterstützt. Sorry, aber ich glaube nicht an „selektiven Humanismus“ ...

Ich bin halb russischer, halb ukrainischer Abstammung, habe Verwandte und Freunde in beiden Ländern, denen ich versuche zu helfen, soweit ich es mir leisten kann, und das ist für mich etwas sehr Persönliches. Ich glaube, die eigentliche Aufgabe besteht jetzt darin, sich darauf zu konzentrieren, Wege zur Beendigung dieses Krieges zu finden, anstatt eine „Hexenjagd“ zu veranstalten. Und ich glaube nicht eine Sekunde daran, dass es keine Möglichkeit gibt, ihn zu beenden. Wie eine alte Weisheit besagt, findet derjenige, der wirklich will, Wege, ansonsten sucht er nach Ausreden ...

Ich habe keine Lust, an einer Veranstaltung teilzunehmen, die sich schon längst zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten entwickelt hat, wie ich finde. Viele Leute haben bereits öffentlichen Beifall für ihre Äußerungen erhalten, aber das hat die Situation nicht besser gemacht. Die Konfrontation geht immer noch weiter und verschärft sich leider noch. Mit den möglichen Folgen wie einem globalen Dritten Weltkrieg, auf den wir langsam aber sicher unter diesem Chor von selbsternannten „Kämpfern für das Gute“ zusteuern. Wozu also all die zahlreichen Erklärungen? Um ein schönes Selbstbild zu schaffen? Um sich als guter Mensch zu fühlen? Ich lasse alle, die sich dafür interessieren, dieses Spiel spielen, das ist nicht mein Ding, sorry.

Ich werde meine Meinung zu dieser tragischen Situation sagen, WENN ich mich dazu entschließe, aber erst, nachdem diese leere Eitelkeitsmesse und Hexenjagd, die mich zugegebenermaßen ziemlich wütend macht, ein Ende hat. Das ist meine zentrale humane Position.

Und diejenigen, die aus irgendeinem unbekannten Grund beschlossen haben, sich das Recht einzuräumen, über jeden zu urteilen und ihn zu verurteilen, der es wagt, sich vom Chor der leeren Reden fernzuhalten, können weiterhin ihre „moralische Überlegenheit“ genießen, aber ich behalte mir das Recht vor, das zu tun und zu sagen, was mit meinen inneren menschlichen Werten übereinstimmt.

Ich glaube nicht, dass aus den oben genannten Gründen und aufgrund grundlegender menschlicher und demokratischer Prinzipien (die meiner Meinung nach immer noch in jeder Situation gültig sind) irgendjemand das moralische oder andere Recht hat, mir oder irgendjemandem eine Verpflichtung aufzuerlegen, etwas zu sagen, wann und was er möchte.

Im Moment ziehe ich es vor, so viel zu TUN, wie ich kann, und lasse „Schwätzer“, die stolz auf sich sind, reden.

Ich wollte niemanden speziell beleidigen, aber ich hoffe, dass mein Standpunkt jetzt klar ist.

Mit freundlichen Grüßen

Vladimir

 


Das Interview im englischen Original:

Question 1: What (chess) projects or plans are you pursuing at the moment?

Kramnik: I am doing many things, among others recording a new course on chessable, just released the educational chess application for children (mainly but not only) Chess Legends, which everyone can download from the web, other things. Plan to participate in the Dortmund no castle chess tournament this year.

Question 2: If I haven't missed it, you have not yet taken a public position on the Russian war against Ukraine. In contrast to some of your colleagues. Why haven't you formulated a position yet?

Kramnik: I do not use social networks, I am not used to making public statements in general, and in fact you are the first journalist to ask me this question.

If you want to know my thoughts on this, I can describe them here.

I am against ALL wars A PRIORI, without exception, but I do not see much point in publicly expressing this obvious idea. Except to seek public applause.

Unfortunately I can see that, contrary to the words, in reality very few politicians or public figures make REAL efforts to STOP it somehow. On the contrary, in my opinion, these statements often just add fuel to the fire, provoking even more confrontation and hatred between people...

There is a lot of demagogy and "right words" in the media these days, but I prefer to try to help some people who need help in these difficult times, no matter what nationality they are. And hope that everyone will finally start discussing what can be DONE practically to find ways to stop the war.

I strongly suspect that many (of course, don't get me wrong, there are enough sincere people, but still a minority) public "activists" are actually just using this dramatic situation for their own self-pride (mainly to feel on the "right side" and to be liked by the public), because few of them go further than words. Or think deeply about the possible consequences of their proposals made out of their "morally justified anger".

Another thing that makes me think this way is that somehow I haven't heard most of them before expressing concern about the hundreds of thousands of victims during recent major wars such as Iraq, Syria, to name just a few. And some had even publicly supported these wars. Sorry, but I don't believe in "selective humanism"...

I am of half Russian and half Ukrainian origin, have relatives and friends in both countries, whom I try to help as much as I can, and this is very personal for me. I believe that the real agenda now is to concentrate on finding ways to stop this war, rather than "witch-hunting". And I don't believe for a second that there is no way to do that. As the old saying goes, if you really want something, you find ways, otherwise you try to find excuses...

I have no desire to take part in what has long since become, in my opinion, a vanity fair. Many people have already been publicly applauded for their statements, but that hasn't improved the situation. The confrontation is still going on, and unfortunately it is getting worse. With the possible consequences of a global WW3 we are slowly but surely heading towards under this chorus of self-proclaimed "fighters for good". So what is the point of all these declarations? To create a nice self-image? To feel like a good person? I leave it to all those interested to play this game, not my cup of tea, sorry.

I will express my views on this tragic situation WHEN I decide to do so, but only after this empty vanity fair and witch hunt, which I must admit makes me quite angry, has ended. That is my main human position.

And those who, for some unknown reason, have decided to give themselves the right to judge and condemn anyone who dares to stay out of the chorus of empty speeches, may continue to enjoy their "moral superiority", but I reserve for myself the right to do and say what is in accordance with my inner human values.

I do not believe, for the reasons mentioned above, and because of basic human and democratic principles (which I believe are still valid in any situation), that anyone has the moral or any other right to IMPOSE an obligation on me or anyone else to say something when and what they prefer.

For now, I will continue to DO something, as much as I can, and let the "talkers" talk, and be proud of themselves.

I did not mean to offend anyone in particular, but I hope my position is now clear.

Best regards

Vladimir

 


Martin Breutigam schreibt als Journalist und Kolumnist für verschiedene Tageszeitungen, u.a. für die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Tagesspiegel“. Der Internationale Meister hat mehrere Schachbücher veröffentlicht, z.B. „Todesküsse am Brett“, „Himmlische Züge“ und „Genies in Schwarzweiß“ (Verlag Die Werkstatt). Bei Chessbase erschienen u.a. seine Taktik-Trilogie („Kombinieren lernen“, „Muster der Meister“, „Die Techniken im Opferangriff“) sowie einige Eröffnungs-DVDs aus der Reihe „Ein modernes Repertoire“ (u.a. „Reti-Eröffnung“, „Slawische Verteidigung“, „Sizilianische Verteidigung“).