Ein tiefer Fall
Im Jahre 1978, ich hatte die dreißig bereits überschritten, lockte mich ein internationales Schachturnier nach Nikšić – eine wunderschön gelegene Stadt in Monte Negro. Altbekannte, illustre Schachkollegen wiederzusehen, darauf freute ich mich besonders.
Die Anreise war gut organisiert. Am Flughafen in Tivat wurden wir von einer Delegation erwartet und in die bereitgestellten, für sozialistische Zeiten exklusiven Autos, verfrachtet. Es war ein langer Mercedes-Konvoi, der sich in Richtung Nikšić in Bewegung setzte. Uhlmann und ich saßen im letzten Wagen allein im Fond, am Steuer der serbokroatische Chauffeur.
Der Weg zum Zielort führte uns hoch hinauf in eine bergige und kurvenreiche Landschaft. Damals noch ein Abenteuer, denn die Straßen waren weder ausgebaut noch abgesichert.
Einmal Pechvogel – immer Pechvogel? Der Konvoi war schon außer Sichtweite, als ein Lastwagen auf der Gegenseite ein riskantes Überholmanöver vollzog. Oh je, oh weh, wir beide, Uhlmann und ich, zitterten vor Angst auf den Rücksitzen. Dann ging alles in Sekundenschnelle. Der Chauffeur reagierte mutig und riss, um dem Zusammenprall zu entkommen, blitzschnell das Steuer herum. Aber die Straße war zu schmal, der Abgrund zu nah. Das Auto und wir machten einige Salti Mortali und landeten tief unten in der Schlucht -auf dem Autodach.
Vollkommen umnebelt fragte ich Wolfgang auf Serbokroatisch: "Kako si, Wolfgang?"
Offensichtlich war zumindest mir nichts passiert. Alle Gliedmaßen waren nach kurzem Test noch in Schuss. Neben mir ein entwarnendes Brummen, denn Wolfgang hatte auch ohne die Sprache zu verstehen, begriffen, worum es ging. Schließlich kam auch vom Chauffeur ein Lebenszeichen: „Glückspilze sind wir!“ Wir waren uns alle einig, dass dieser Sturz auch anders hätte enden können. Im Stillen schickte jeder für sich seine Danksagung gen Himmel oder sonst wo hin. Nun mussten wir nur noch aus dem Auto klettern.
Die Chauffeure der letzten beiden Wagen hatten irgendwann wohl bemerkt, dass unser Auto fehlte. Sie waren daraufhin umgekehrt und empfingen uns oben auf der Straße mit lautem und glücklichem Hallo. Anschließend wurde unser Mercedes, der wie wir nur mit ein paar kleinen Schrammen genauso unversehrt den freien Fall überstanden hatte, aus der Schlucht gezogen. Welch ein Wunder, er war sogar noch fahrtüchtig. So fuhren wir bis zur nächsten Ortschaft, wo uns die Schachkollegen aus den anderen Wagen in einem kleinen Bistro schon sehnsüchtig erwarteten. Auch sie waren heilfroh, uns lebend wiederzusehen. Zeit, mit Kaffee und Sliwowitz auf das glücklich überstandene Abenteuer anzustoßen. Danach fühlten wir uns wie neu geboren.
War es Zufall, Vorsehung oder Glück, dass Wolfgang und ich bei dem international stark besetzten Turnier auch in der Tabelle fast nebeneinander landeten? Im Turnier wurde hart gekämpft, ohne Pardon. So musste ich auch eine Niederlage in der Partie mit Wolfgang einstecken. (Anm. d. Redaktion: Die Partie endete remis. Siehe Kommentare.) Aber was machte das schon, wenn man noch am Leben war!
Wolfgang und ich konnten noch viele Jahre lang über den gemeinsamen freien Fall, bei dem die Schachgöttin Caissa uns beschützte, herzlich lachen. Doch kein Schutz währt ewig und der Zahn der Zeit nagt an uns allen.
Wir hatten so viele gemeinsame Erlebnisse und eine gute Zeit. Lieber Wolfgang, ich danke dir dafür!