07.08.2017 – Die "Unregelmäßigen Eröffnungen" nach 1. d4 sind in den letzten Jahren mehr und mehr in Mode gekommen. Nicholas Pert hat sich mit diesen ausführlich beschäftigt und stellt auf seiner DVD "A Black Repertoire against Offbeat Openings" Antworten vor. GM Dmitrij Kollars hat sich die DVD angeschaut.
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„A Black Repertoire against Offbeat Openings“ von Nicholas Pert
Die Trompovsky-Eröffnung läutete den vergangenen WM-Kampf ein und das Londoner System ist kürzlich zu einem Favoriten der Weltelite aufgestiegen. Immer regelmäßiger begeht die weiße Seite in den ersten Zügen unausgetretene Pfade und weicht so hartnäckigen Bollwerken wie der Nimzo-Indischen oder Berliner Verteidigung aus, umso häufiger wird der Nachziehende dadurch einem Wissensnachteil ausgesetzt.
Der britische Großmeister, Trainer und erfahrene Autor Nicholas Pert hat sich mit seiner Eröffnungs-DVD „A Black Repertoire against Offbeat Openings“ der Problematik und gleichzeitig einem Großprojekt angenommen: unter den Begriff der ungewöhnlichen Eröffnungen sortiert er fast alle wichtigen Nebenarme zu den geläufigsten Hauptzügen 1.e4 und 1.d4 gefolgt von 1.c4. Aus schwarzer Sicht werden dabei stetig wachsende Theoriekomplexe wie der Veresov-Angriff, das Londoner-System oder die Reti-Eröffnung betrachtet und über eine Laufzeit von 5h 20 min ein für jeden aktiven Turnierspieler relevantes Eröffnungswerk geschaffen.
Der Inhalt, der sowohl Fortsetzungen nach 1.d4 d5 als auch 1.d4 Sf6 berücksichtigt, teilt sich folgendermaßen auf:
1. Introduction
2. Trompovsky Main Line 1.d4 Sf6 2.Bg5 Se4 3.Bf4
3. Trompovsky Side Lines 1.d4 Sf6 2.Bg5 Se4 33.h4/Bh4
4. Pseudo-Trompovsky 1.d4 d5 2.Lg5 f6 3.Lh4/f4/d2
5. London Main Lines 1.d4 d5 2.Lf4 Nf6 3.e3 c5 4.c3 Nc6 5.Nf3 Qb6
6. London Side Lines 1.d4 d5 2.Lf4 Nf6 3.e3 c5 4.dxc5/Nc3
Pert, der mit dem Gewinn der U18-Jugendweltmeisterschaft früh den Markstein seiner Karriere einschlug und sich seitdem kontinuierlich dem Elowert 2600 annähert, beantwortetet eine weite Palette unterschiedlicher Eröffnungssysteme mit einem nicht weniger bunten Mix origineller Repertoire-Ideen.
Der Autor balanciert seine Empfehlungen je nach den Eigenschaften des Stellungstyps geschickt zwischen unorthodox-aggressivem und klassischem Ansatz. Die objektive Sichtweise kommt dabei nie abhanden und alle angegebenen Varianten halten dem Test neuester Engines Stand.
Ruhig, flüssig und in gut verständlicher englischer Sprache vorgetragen, verfügt das Video-Repertoire zudem über eine leicht nachvollziehbare Struktur. Pert gibt am Anfang jedes Clips eine Übersicht über die gegnerischen Optionen und arbeitet sich dann zu den kritischen Möglichkeiten im jeweiligen Abspiel vor. Sein Vortragsstil zielt besonders auf die praktische Anwendbarkeit seiner Ideen ab - wichtige Stellungen, die erinnert werden sollten, kennzeichnet er mit Hinweisen.
Die Vorschläge werden stets mit mehreren Schlüsselvarianten unterstützt und so bewaffnet sich der Zuhörer im Laufe der Lektionen mit einen vielfältigen Arsenal taktischer und strategischer Motive. Durch eine Testsektion mit zehn Aufgaben sowie einer Partiedatenbank mit 96 unkommentierten Großmeisterpartien kann das Verständnis der häufig unkonventionellen Strukturen erweitert werden.
Inhaltlich startet der Ausflug durch die „Offbeat Openings“ effektvoll: In der einleitenden Lektion zur Hauptvariante der Trompovsky-Eröffnung nach 1.d4 Sf6 2.Lg5 Se4 3.Lf4 wartet das Schwarz-Repertoire mit der Antwort 3...Sc6!? auf, was bisher an nur 10. Stelle der Beliebtheitsskala angesiedelt ist und vom einfallsreichen GM Daniel Naroditsky präferiert wird.
Was machen Sie, wenn Sie mit Schwarz eine Spezialeröffnung wie 1.b4, 1.f4, das Londoner System, Trompowsky, den Torre-Angriff etc. vorgesetzt bekommen? GM Pert gibt Ihnen für all diese Fälle mind. einen klaren und attraktiven Spielplan an die Hand.
Es entstehen wilde Stellungen, in denen die schwarzen Springer häufig über das Brett wandern, die weiße Figurenentwicklung aber ebenfalls ins Stocken gerät. Das aus meiner Sicht kritische 4.f3 wird mit dem Rückzug ...Sf6 beantwortet, womit Schwarz korrekt auf das populärere Gambit 4...e5?! verzichtet. Die Empfehlung basiert auf einer spiegelbildlichen Figurenentwicklung in den Varianten nach 5.e4 d5! bzw. 5.d5 e5!:
Schwarz kann seinen Läufer in beiden Fällen mit ...Lf5, ...e6 bzw ...Lc5, ...d6 vor die Bauernkette entwickeln und schließt die Eröffnung ohne Sorgen ab.
Auch nach 3.h4 h6 4.Lf4 folgt Pert der Idee 4...Sc6!? und betrachtet hier 5.f3 Sf6 5.d5 als Hauptvariante. In dieser Version ist der Gegenschlag 5...e5 wegen 5.d5 weniger attraktiv, denn das Springermanöver ...Se7 nebst ...Sg6 gibt dem vorgestoßenen h-Bauern hier eine unmittelbare Zielscheibe. Daher konzentriert sich der Autor auf die unternehmungslustigen Springerausfälle 5...Sh5!? und ...Sb4!?, von denen der Letztere am aussichtsreichsten erscheint. Zwar verstößt Schwarz laut Pert gegen „sämtliche Prinzipien des Schachs“, allerdings garantieren die schwarzfeldrigen Schwächen am weißen Königsflügel zusammen mit den planmäßigen Hebeln ...c7-c6 und ...e7-e6 gutes Gegenspiel.
Unkonventionell geht es weiter: Gegen den sogenannten „Pseudo-Trompovsky“ 1.d4 d5 2.Lg5 wird das zunächst provokant wirkende 2...f6 analysiert, die nachfolgenden Varianten überzeugen jedoch vom aggressiven Konzept des Schwarzen, welches entweder die schnelle Zentrumsbesetzung mit ...e7-e5 oder eine Flügelexpansion durch ...g7-g5 und ...h7-h5 vorsieht. Im folgenden Diagramm entlädt die Kombination beider Ideen eine kraftvolle Sequenz.
8...e5! (Nicht 8...g4? 9.hxg4 hxg4 10.Lxc7!) 9.dxe5 g4! 10.Sd4 Scxd4 11.exd4 g3! Und sein energisches Spiel bringt Schwarz bereits eine bedrohliche Initiative ein.
Der Torre-Angriff trifft genau wie die die Colle-Zuckertort-Eröffnung auf einen bewährten Aufbau nach dem Vorbild der Damenindischen Verteidigung - Schwarz sollte in beiden Fällen seine Eröffnungsprobleme lösen können. Besonders gegen den Torre-Angriff wird auf interessante Weise mit der Zugfolge gespielt: Nachdem mit 1.d4 Sf6 2.Sf3 e6 3.Lg5 c5 4.c3 d5 5.e3 eine hundertfach erreichte Tabija der Variante entstanden ist, verschafft sich Schwarz durch den frühen Einschub 5...h6 mehr Flexibilität gegenüber den Hauptfortsetzungen 5...Sc6 und 5...Sd7. Die Entwicklung des schwarzen Springers passt sich hier der weißen Antwort an.
Klare Konzepte werden gegen den Veresov-Angriff demonstriert, einer Eröffnung im aufsteigenden Beliebtheitstrend dank kreativer Vertreter wie Nakamura, Jobava und zuletzt Naiditsch. Mithilfe des Hauptzuges 3...Sbd7 fällt es dem Nachziehenden dennoch überraschend leicht, angenehmes Spiel zu erlangen; meist ist die Kontrollübernahme von einem einzelnen Fehltritt des Gegners entfernt.
Eine wichtige Stellung des Abspiels, in der es naheliegend erscheint, mit 6.Sf3?! die Entwicklung voranzutreiben. Tatsächlich aber erzielt das thematische Bauernopfer ...c4! 7.Dd2 b5! schon beträchtlichen Vorteil. Schwarz droht, mit ...b5-b4 und ...Sf6-e4 wichtigen Raum zu erobern, während die Gambitannahme 8.Sxb5? nach Se4 nebst 9...Db6!-+ zu Materialverlusten führt.
Dem dubiosen Blackmar-Diemer-Gambit kann auf mehreren Wegen zuverlässig begegnet werden, doch Pert votiert auch an dieser Stelle für eine pragmatische Lösung mittels 3...e5!?: Schwarz erzielt mindestens Ausgleich und umgeht dabei das lauernde Spezialwissen des Kontrahenten nach der scharfen Hauptfortsetzung 3...Sf6 4.f3.
Minuspunkte der DVD finden sich mitunter im Detail: Der Vielzahl untersuchter Systeme geschuldet, blendet der Autor an einigen Stellen wichtige Nuancen aus.
Etwa im Variantengeflecht nach 1.d4 Sf6 2.Sf3 e6 3.e3 c5 4.Ld3 c5, das über mehrere Zugumstellungen zu erreichen ist, wird anstelle des – zugegeben recht harmlosen – Colle-Aufbau mit 5.c3 lediglich das Colle-Zuckertort-System mit 5.b3 analysiert. Auch Kramniks Favorit 5.0-0!? samt der kritischen Fortsetzung ...c4 5.Le2 lässt eine Lücke ins Repertoire klaffen und sollte durch Eigenanalyse gefüllt werden. Ein aktuelles Warnsignal zum versteckten Gift der zurückhaltenden Spielweise liefert der stürmische Kurzsieg des Ex-Weltmeisters über den Top-Großmeister und -Theoretiker Anish Giri beim Norway Chess 2017.
Der auffälligste Schönheitsfleck von Perts Arbeit zeigt sich im Londoner System, wo die wichtige Zugfolge 1.d4 d5 2.Lf4 Sf6 3.e3 c5 4.c3 Sc6 5.Sd2 übergangen wird, zuletzt von GM Nikola Sedlak in seinem Referenzwerk „Winning with the Modern London System“ empfohlen. Die Hauptidee im Vergleich zur Hauptvariante mit 5.Sf3 ist es, die Fortsetzung ...Db6 6.Db3 c4 7.Dc2 zu antizipieren, denn hier fehlt Schwarz die taktische Riposte 7...Lf5 - 8.Dxf5 gewinnt schlicht eine Figur.
Eine zuverlässige Antwort, gestützt auf die Fortsetzung 5...cxd4 6.exd4 Lf5, findet sich übrigens in der monografischen Vorgängerarbeit „Beating 1.d4 Sidelines“ von Boris Avrukh.
Etwas zu oberflächlich fällt auch das Kapitel zur Reti-Eröffnung aus, wo die ausführliche und aufschlussreiche Betrachtung des Königsindischen Aufbaus mit 6.e4 kaum Platz für die moderne Herangehensweise mit 4.c4 lässt, Ausgangspunkt zahlreicher Begegnungen im Kreis der absoluten Spitze.
Die abschließend besprochenen Aufschlagarten 1.b4, 1.b3, 1.f4 und 1.g4, welche dem Titel-gebenden Begriff „Offbeat Openings“ am nächsten kommen und auf Klublevel besondere Beliebtheit finden, werden durch Zentrumsbesetzung zusammen mit schneller Figurenentwicklung so sicher gekontert wie entkräftet.
Insgesamt präsentiert sich Nicholas Perts Streifzug durch die Nebenzweige der Eröffnungstheorie als reichhaltiger Ideenfundus und stabiles Gerüst eines schlagkräftigen Schwarz-Repertoires. Der Grundgedanke der DVD, sich dem Wissensvorsprung von Weißspielern in ihren Spezialsystemen entgegenzustemmen, wird damit wirkungsvoll umgesetzt. Zwar müssen ambitionierte Turnierschachspieler, an die sich der englische Großmeister vorrangig richtet, für eine lückenlose Übersicht etwas Ergänzungsarbeit leisten, dennoch lädt „A Black Repertoire against Offbeat Openings“ zu einer empfehlenswerten Entdeckungstour in ungewohntem Gebiet ein.
Dmitrij KollarsDmitrij Kollars, Jahrgang 1999, wurde in Bremen geboren und spielt derzeit für den Hamburger Schachklub in der Bundesliga. 2017 erzielte er seine dritte GM-Norm und wurde damit der aktuell jüngste deutsche Großmeister.
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