Robert Hübner: Schlußbetrachtung zum Weltmeisterschaftskampf Carlsen-Caruana

von Dr. Robert Hübner
09.12.2018 – Verlauf und Ergebnisse des Weltmeisterschaftskampfes zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana haben zu einer kontroversen Diskussion geführt. Robert Hübner liefert eine analytische Schlussbetrachtung des WM-Matches anhand einiger Schlüsselmomente. Hier ist seine Schlussbetrachtung.

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Schlußbetrachtung zum Weltmeisterschaftskampf Carlsen-Caruana, London 2018

Dies ist der erste Wettkampf um die Weltmeisterschaft im Schach, in dem alle Partien unentschieden ausgingen. Verwunderlich ist diese Erscheinung nicht; die Ausgangsstellung ist im Gleichgewicht, und wenn zwei gleich starke Gegner aufeinandertreffen, ist remis das zu erwartende Ergebnis. Je stärker die Spieler sind, desto weniger Fehler begehen sie; und je weniger Fehler die an einer Partie beteiligten Spieler begehen, desto wahrscheinlicher wird der unentschiedene Ausgang.

Der erste Weltmeisterschaftskampf, in dem die Anzahl der Remispartien beachtliche Ausmaße annahm, war der zwischen Lasker und Schlechter, Wien und Berlin 1910 (+1 -1 =8). Bereits Emanuel Lasker beklagt sich. „Schon seit vielen Jahren geht ein Zug durch das Spiel der Meister, der nach Ausschaltung jeder mehr empfundenen als klar erfaßten Strategie drängt. Jetzt scheint diese Bewegung sich ihrer Erfüllung zu nähern. Die Gleichheit der Kräfte wird von den Modernen auf keinem Punkte des Schachbretts unnütz aufgegeben, und es ist nicht bloß schwierig, das Remis zu vermeiden, es ist bereits mühselig, Ungleichheiten in der Stellung hervorzubringen und sie auf diese Weise zu verwickeln. Läßt der moderne Meister die Verwicklung auch nicht ohne weiteres zu, so beherrscht er sie doch. Man ermesse daran, was es bedeutet, einen solchen Meister par force zu schlagen.“ (B.Z. am Mittag, 29. Januar 1910)

Im Wettkampf Aljechin-Capablanca, Buenos Aires 1927, gab es in den Spielen 13-28 nur eine einzige Entscheidungspartie. Die längsten Remisserien wies der Kampf zwischen Karpov und Kasparov im Jahre 1984 auf; von Partie 10 bis Partie 26 (17) und von Partie 33 bis Partie 46 (14). In den späteren Zweikämpfen um die Weltmeisterschaft zwischen denselben Partnern gab es jedoch solche Sequenzen nicht mehr. Man darf die Bedeutung der Erscheinung nicht zu hoch veranschlagen.

Besonders bei starken Spielern bestimmt die Eröffnungsgestaltung in nicht geringem Umfang das weitere Gesicht der Partie. Man ist im allgemeinen der Meinung, daß der Anziehende mehr Möglichkeiten hat, die Partie in eine bestimmte Richtung zu lenken als Schwarz. Carlsen gelang es aber mit den weißen Steinen nicht, den geringsten Eindruck zu hinterlassen; nirgendwo erhielt er Gewinnaussichten, und in der 6. Partie geriet er in große Schwierigkeiten.

Caruana unternahm als Anziehender ernsthafte Anstrengungen, den Gegner unter Druck zu setzen. Die Rossolimo-Variante der Sizilianischen Verteidigung (1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5), die er in seinen ersten drei Weißpartien wählte, erwies sich dafür als ungeeignet. In den letzten drei Partien griff er zu einem recht wenig gespielten System in der Sweschnikow-Variante (1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cd4: 4.Sd4: Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Sd5 Sd5: 8.ed5:), das zu sehr spannungsreichen Stellungen führt. Weiß erhält das Übergewicht am Damenflügel, und der Bauer auf d5 engt das Spiel des Schwarzen ein; dafür kann der Nachziehende mit f7-f5 zu einer guten Kontrolle des Zentrums kommen und am Königsflügel auf Angriff spielen. Weiß muß nervenstark sein, denn die Initiative des Schwarzen am Königsflügel sieht recht gefährlich aus. Es nützt dem Weißen nichts, am Damenflügel auf Gewinn zu stehen, wenn er auf der anderen Seite mattgesetzt wird.

Aus diesen drei Partien sollen die wichtigsten Entscheidungsmomente herausgegriffen werden.

(Anm. der Redaktion: Die Varianten können durch Eingabe der Züge in den Diagramme nachgespielt werden.)

1) 8. Partie, Caruana-Carlsen, Stellung nach 23...Ld6 (Stellungsbild)

 

Mit 24.Dh5 konnte Weiß durch den Angriff auf den Bauern g5 verhindern, daß die Dame des Schwarzen ins Spiel kommt. Nach 24...Lg6 25.Dh3 kann Schwarz nicht zu einer koordinierten Aufstellung seiner Figuren gelangen. Es folgen einige Beispielvarianten:

I 25...Te8 26.Sd7, und Weiß gewinnt.

II 25...De7 26.Tfe1 Df7 27.Te6 Lf5 28.Dh6 Le6: 29.de6: De7 30.Td6:, und Weiß gewinnt.

III 25...Lf5 26.g4 Lg6 27.Tfe1, und die Drohung Te1-e6xg6+ hat entscheidende Kraft.

IV 25...Tf7 26.Sc4 Lf5 27.Dh5 (Hier führt 27.g4 Lc2 28.Td2 Lb3 nicht zum Ziel.) 27...Lg6 28.Df3 Lf5 29.Tde1 Tc8 30.g4 (30.Dh5 Lg6 31.Dg4 Lf5 32.Te8+ kann mit 32...Lf8 abgewehrt werden, weil der Damenturm des Schwarzen vom Läufer gedeckt ist) 30...fg3: 31.hg3: Lg6 32.Dg4 mit entscheidendem Angriff.

An Stelle von 24.Dh5 zog Weiß 24.h3; jetzt konnte Schwarz seine Damenstellung mit 24...De8 verbessern und Ausgleich erzielen.

2a) 10. Partie, Caruana-Carlsen, Stellung nach 18...De8 (Stellungsbild)

 

Weiß zog 19.Ta3. Zwar übt der Turm auf der dritten Reihe Verteidigungsfunktionen aus, doch ist er bisweilen auf a3 Angriffen ausgesetzt; auch ist ein direkter konkreter Nutzen des Zuges nicht ersichtlich. Es war wirksamer, um das Feld e4 zu kämpfen und den Vorstoß e5-e4 zu verhindern oder zu erschweren. Dazu gab es zwei Möglichkeiten:

I 19.Te1. Jetzt scheitert 19...e4 an 20.Lh5 g6 21.Te4:. Nach 19...Dg6 20.Ld3 oder 19...Sb6: 20.Sb6: Ta7 21.Lg4 Lg4: 22.Dg4: hat Weiß das bequemere Spiel. Auf 19...Sf6 kann er mit 20.Lc7 Dd7 21.Sb6 (21.Ld6: Ld6: 22.Sb6 Dd8 23.Sa8: e4 überläßt dem Schwarzen einen gefährlichen Angriff.) 21...Dc7: 22.Sa8: Material gewinnen; nach 22...Dc5 23.Dd3 hat er Vorteil.

II 19.Lc7 Dg6 20.Te1 kommt ebenfalls in Betracht.

2b) Nach 19.Ta3 folgte 19...Dg6 20.Lc7 e4 21.Kh1 b5 22.Sb6 Sb6: 23.Lb6: (Stellungsbild)

 

Hier geschah der unerwartete Zug 23...Dg5. Nach 23...b4 24.Tb3 Lf6 25.Tb4: Lc3 26.Ta4 Lf5 mit den starken Drohungen 27...f3 und 27...e3 hat Schwarz das bessere Spiel, während nach dem Partiezug die Fortsetzung 24.Lb5: Untersuchung verdient. Wenn der Angriff des Schwarzen nicht durchdringt, steht Weiß auf Gewinn. Zwei Beispielvarianten nach 24...Tf6 25.Te1 sollen gegeben werden:

A) 25...Lf5 26.f3 e3 27.a6 Th6 28.Te2 Dh5 29.Dg1 Lh4 30.g4 fg3: 31.Tae3:, und Weiß steht auf Gewinn.

B) 25...Tg6 26.g3 Lf5 27.Dd2 e3 28.Le3: fe3: 29.Tae3: Lf8 30.a6. Weiß hat die bessere Stellung.

Nach dem Partiezug 24.g3 kam Schwarz mit der Fortsetzung 24...b4 25.Tb3 Lh3 26.Tg1 f3 27.Lf1 Lf1: 28.Df1: Dd5: in Vorteil.

3) 12.Partie, Caruana-Carlsen, Stellung nach 20...0-0 (Stellungsbild)

 

Weiß spielte 21.Th2, um auf 21...Tac8 mit 22.0-0-0 fortzusetzen, aber dieser Plan gefällt mir nicht. Durch die Verletzbarkeit seiner Königsstellung beraubt sich Weiß der Möglichkeit, eine Initiative am Damenflügel zu entfalten; Schwarz erhält die bessere Stellung. Besser ist meines Erachtens 21.0-0 (oder zunächst 21.Tc1); Weiß mag etwas bequemer stehen.

Die schwierigen strategischen Probleme, die dieses Abspiel beiden Spielern aufgab, bildeten eine willkommene Abwechslung zu dem ansonsten etwas trockenen Inhalt des Wettkampfes. Mir scheint, daß die Stellungsstrukturen, die entstanden, Caruana nicht besonders gut lagen; obwohl er sich vor der Anwendung gründlich mit ihnen auseinandergesetzt haben muß, geriet er in den Partien 10 und 12 in unbequeme Stellungen, und bei einer anderen Wettkampflage hätte Carlsen in der letzten Partie aus der Schlußstellung heraus gewiß Gewinnversuche unternommen.

Die erste Partie des Zweikampfes fiel aus dem Rahmen; im übrigen erarbeiteten sich beide Partner ungefähr gleich viele Gewinnaussichten im Verlauf der Partien, und der unentschiedene Ausgang entspricht den beiderseitigen Leistungen.

***

Als Anhängsel gab es einige Schnellpartien. Sie stellen eine ganz andere Art des Spiels dar als Partien mit voller Bedenkzeit; Tagesform und zufällige Konzentrationseinbrüche spielen eine weit größere Rolle. Es scheint, daß Caruana am Ende der Veranstaltung in ein Loch schlechter Form hineinglitt; dies deutete sich schon in der 12. Partie des Wettkampfes an.

1. Schnellpartie, Carlsen-Caruana, Stellung nach 19.Tcd1 (Stellungsbild)

 

Nach 19...Sb7 ist die Stellung ungefähr im Gleichgewicht. Der Turm auf d8 ist gedeckt; ebenso hat das Feld c5 eine zusätzliche Deckung bekommen. Schwarz wird Zeit finden, seinen König ins Zentrum zu bringen.

Schwarz zog jedoch 19...Sb5?, und nach 20.Sc5 Tb2: 21.Se6: fe6: 22.Lc4: dürfte er verloren sein; 22...Kf7 scheitert an 23.Lb5: nebst 24.Lg5.

2. Schnellpartie, Caruana-Carlsen, Stellung nach 20...Df5 (Stellungsbild)

 

Bei ruhiger Spielweise mit 21.0-0 hat Weiß einen leichten, aber dauerhaften Vorteil. Caruanas Zug 21.c5 deutet auf Nervosität; nach 21...0-0 hat Weiß keinen Vorteil mehr. Das konsequente 22.c6 erschwerte seine Lage weiter, denn nach 22...bc6: 23.dc6: Tfc8 scheitert 24.Sd5 an 24...De4. Der Partiezug 24.Dc4 dürfte noch ungefähr zum Ausgleich genügen, wenn Weiß auf 24...Ld8 nicht mit 25.Sd5(?) e4 26.c7? (26.Ld4) 26...Lc7: 27.Sc7: Se5 28.Sd5? (Viel zäher ist 28.Dd5 Tab8 29.0-0 Tc7: 30.Dd6:.) fortgesetzt hätte. Nach 28...Kh7 gab er auf.

Ein rascher Zusammenbruch.

Meines Erachtens müßte ein repräsentativer Weltmeisterschaftskampf eine größere Anzahl Partien aufweisen als ein Dutzend. Darauf ist aber wohl nicht zu hoffen in einer Zeit, in der alles und jedes immer schneller ablaufen soll.

 


Robert Hübner, Großmeister, gehörte in den 1970er bis 1990er Jahren zu den besten Schachspielern der Welt und spielte mehrfach um die Weltmeisterschaft mit. Der promovierte Altphilologe ist Autor zahlreicher Aufsätze und einer Reihe von Büchern.

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