Robert Hübner: Vom Unentschieden

von Dr. Robert Hübner
01.12.2021 – Nach den Remispartien zum Auftakt der Schachweltmeisterschaft zwischen Magnus Carlsen und Ian Nepomniachtchi zeigten sich einige Schachfreunde und Journalisten enttäuscht. Sie hatten schon Entscheidungen erwartet. Robert Hübner hat sich für den Schachkalender 2022 Gedanken über das Unentschieden gemacht, wundert sich, dass es so unerwünscht ist und macht Vorschläge für ein differenzierteres Messsystem. | Foto: Frank Hoppe (Schachbund).

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Die folgende Glosse von Dr. Robert Hübner erschien im aktuellen Schachkalender 2022, von Arno Nickel und seiner Edition Marco herausgegeben. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

Vom Unentschieden

In letzter Zeit wurde eine bemerkenswerte Zugfolge populär: 1.e4 e5 2.Ke2 Ke7 3.Ke1 Ke8 4.Ke2 Ke7 5.Ke1 Ke8 6.Ke2 Ke7 remis. Zunächst vermutete ich, daß die Spieler die Partie nach 3...Ke8 beginnen wollten, um die Befürworter des Schachspielens ohne Rochade zu stützen; aber offenbar waren sie von einem Krampf ergriffen und konnten ihren Bewegungsablauf nicht mehr ändern.

Die Erarbeitung dieses Werkstücks rief unterschiedliche Kommentare hervor. Einige waren von der Tiefe des bewiesenen Humors begeistert, besonders natürlich die Erzeuger der Meisterpartie selbst. Andere waren von der Kürze und der Ereignislosigkeit des Spiels enttäuscht.

Natürlich würde Schach etwas schal, wenn alle Partien so verliefen. Das ist aber nicht der Fall, und es besteht kein Grund zur Aufregung. Der an den Inhalten des Kampfschachs Interessierte findet genug Studienmaterial aus alter und neuer Zeit in der Schachgeschichte. Wer sich an solchen Erzeugnissen ärgert, ist offenbar nur auf den künstlichen emotionellen Reiz erpicht, den die Betrachtung eines Kampfes hervorrufen kann; das Schachspielen ist jedoch kein Stierkampf.

Es scheint bei vielen eine allgemeine Abneigung gegen das Ergebnis „remis“ zu herrschen. Das ist mir ganz unverständlich. Schon längst hat man vermutet, daß Schach ein Gleichgewichtsspiel ist. Das heißt: Die Ausgangsstellung führt bei beiderseits bestem Spiel zum Unentschieden. Weder kann Weiß durch die raschere Entfaltung seiner Kräfte den Sieg erzwingen, noch kann Schwarz den Gegner durch Zugzwang zwangsläufig bezwingen. Auch wenn dies noch nicht mathematisch bewiesen ist, so ist der empirische Befund doch klar genug. Die Arbeit mit den schachspielenden Maschinen zeigt es: Die Remisquote bei den Spitzenturnieren des Fernschachs liegt nur knapp unter hundert Prozent.[1]

Dennoch hat man schon in frühester Zeit damit begonnen, den Remisschluß im Turnierschach zu bekämpfen. Beim Turnier von Paris 1900 wurden die Partien, die unentschieden ausgegangen waren, mit vertauschten Farben wiederholt. Endete auch das zweite Spiel in remis, bekam jeder einen halben Punkt, bei entschiedenem Ausgang erhielt der Gewinner eine Eins in der Tabelle, der Verlierer eine Null. Die erste Partie verschwand – was das Ergebnis betrifft – aus den Annalen. Anders verfuhr man in den beiden Turnieren von Monte Carlo 1901 und 1902. Kam ein Unentschieden zustande, so wurde beiden Gegnern ¼ Punkt zugesprochen, und sie spielten noch einmal. Gab es in der zweiten Partie einen Sieger, so erschien in seiner Tabelle ein ¾ Punkt, beim Verlierer ¼, und bei einem zweiten Remis wurde beiden im ganzen je ein halber Punkt zugeteilt.

Verständlicherweise haben sich diese Versuche nicht durchgesetzt. In Paris 1900 mußte der für seinen scharfen Angriffsstil bekannte Meister James Mason sieben Partien wiederholen (von 16),[2] und in Monte Carlo 1901 leistete Simon Alapin acht Mal doppelte Arbeit (13 Runden).[3] Heutzutage müßten manche Spieler bei einem Turnier sämtliche Partien wiederholen; die Veranstaltung zöge sich unverhältnismäßig in die Länge.

Man hat also zu anderen Vorkehrungen gegriffen. So ist man bisweilen dazu übergegangen, einen Sieg und einen Verlust höher zu bewerten als zwei Unentschieden.[4]

Dies ist natürlich dem Wesen des Spiels ganz fremd. Wieso sind zwei unter vielem Schweiß zustande gekommene, in stundenlanger konzentrierter Arbeit erkämpfte Remisen weniger wert als ein Paar von Spielen, in dem man erst selbst, dann der Gegner nach 15 Zügen eine Figur einstellte?

Dem Vorgehen gegen das Ergebnis „unentschieden“ eignet ein merkwürdiger innerer Widerspruch. Die Gegner dieses Resultats haben offenbar weniger Interesse an dem schachlichen Gehalt; sie ärgert der Mangel an differenzierender Meßbarkeit für den Wettkampfbetrieb. Wäre diese Sucht zum Zählen von Ergebnissen jedoch nicht gegeben, sänke die Zahl der Remispartien von selbst, denn man könnte beim Spielen jederzeit neugierige Forschungsarbeit durchführen, ohne von der Gefahr einer Null in der Tabelle erschüttert zu werden. Großmeister Fritz Sämisch (1896-1975) hatte sich von der Furcht des Verlierens im Alter völlig freigemacht und richtete sein Streben während der Partie ganz auf die Erkenntnis des schachlichen Inhalts seiner Stellungen. Vielleicht tat er dabei des Guten etwas zu viel, denn wenn man in jedem Spiel bald nach der Eröffnung die Zeit überschreitet, bleibt der Erkenntnisgewinn begrenzt.

Wenn man aber den Wettbewerb für das wichtigste Element beim Spielen hält, dann muß man auch dem Spieler die Gestaltung der Partie zur Gänze überlassen. Er allein kann entscheiden, welches Vorgehen das beste Resultat verspricht. Ich weiß nicht, wie viele Partien ich bei hohem Fieber oder starker Unpäßlichkeit gespielt habe; es ist eine beträchtliche Anzahl. Selbstverständlich sah ich in diesen Fällen einen raschen Remisschluß nicht nur für meine Gesundheit, sondern auch für das Aussehen meiner Turniertabelle als beste Lösung an.

Bei Mannschaftskämpfen greift man plötzlich wieder zu anderen Bewertungskriterien. Wie oft wurde mir in ihnen der Befehl erteilt, spannungsgeladene Stellungen remis zu geben! Daran hat nie jemand Anstoß genommen.

Immerhin kann ich von einer Ausnahme berichten. Bei der Studentenolympiade in Graz 1972 fühlte ich mich sehr erschöpft, nachdem ich viele Runden lang ununterbrochen zum Einsatz gekommen war. Ich bat also um einen freien Tag, zumal spielhungrige Ersatzspieler darauf brannten, sich zu bewähren. Der Mannschaftsführer, Harald Lieb, lehnte dies jedoch kategorisch ab. Ich kann eine derartige Haltung nur schwer verstehen. Welche Erfolgsaussicht hat es, einen Spieler ans Brett zu zwingen, der nicht spielen will?

Ich wurde aufgestellt und erhielt den strikten Befehl, so schnell wie möglich ein Unentschieden anzustreben. Ich bot also nach meinem Eröffnungszug 1.Sf3 remis an, denn es war mir bekannt, wie schnell man eine Partie verderben kann, wenn man mißgestimmt, unwillig und unkonzentriert am Brett sitzt. Der Gegner willigte ein, und wir vereinbarten, noch einige Züge auszuführen. Ich tat meinen Protest gegen das Vorgehen meines Mannschaftsführers kund, indem ich Züge ersann, die denen der eingangs geschilderten Partie an Qualität in nichts nachstanden, und mein humorvoller Gegner tat es mir nach.

Das hatte ungeahnte Folgen, denn das Schiedsrichterkollegium behauptete, es sei durch diese Zugfolge beleidigt worden, auch wenn kein Regelverstoß vorlag. Man verlangte eine Entschuldigung von mir. Ich hatte natürlich niemanden kränken wollen. Eine Demutsbezeugung gegenüber den Schiedsrichtern wäre Sache des Mannschaftsführers gewesen. Er leistete sie jedoch nicht, so daß er mit einer Null bestraft wurde.

Die Schöpfung der Partie liegt ausschließlich in der Verantwortung des Spielers, nachdem er sich am Brett niedergelassen hat; andere können ihm nicht vorschreiben, wie er zu spielen hat. Dies wurde genugsam bezeugt. Wer nichts als Kurzremisen spielt, verschwindet von selbst aus dem Spielbetrieb; dazu bedarf es keiner besonderen Maßnahmen.

Dennoch versucht man immer wieder, die Spieler am schnellen Remisschluß zu hindern. Beliebt sind Regeln, die das Anbieten des Unentschiedens verbieten, bevor eine gewisse Anzahl von Zügen gespielt ist, oder es überhaupt untersagen. Das führt zu solchen Partien, wie wir sie am Anfang des Artikelchens gesehen haben. Ferner werden die Datenbanken und die Köpfe mit endlosen Zugreihen sinnlosester Art gefüllt, da tote Remisstellungen den Regeln gemäß irgendwie hingezogen werden müssen.

Wem das Unentschieden in der Tabelle ein so großer Dorn im Auge ist, der sollte besser versuchen, das Gleichgewichtspotenzial des Schachs zu verringern. Es ist naheliegend, eine Bewertungsdifferenzierung durchzuführen, indem man den alten Beraubungssieg wieder belebt. Bei einer Endstellung König und Springer gegen König erhält der Spieler, der seiner Figur das Überleben zu sichern verstand, dafür eine Gutschrift, sagen wir sechs Zehntel, während dem Gegner nur vier Zehntel in die Tabelle eingetragen werden. Gelingt es jemandem, pattzusetzen (etwa in den Endspielen König und Bauer gegen König), wird er mit sieben Zehntel belohnt. Es ist ganz erstaunlich, daß man in dieser Richtung noch keine ernsthaften Versuche gemacht hat, obwohl die Idee schon lange in den Köpfen spukt und man sonst vor keiner Unsinnigkeit zurückschreckt.

Eine andere Möglichkeit, die Häufigkeit der Gleichgewichtsstellungen einzuschränken, kann man durch eine Anleihe beim Chinesischen Schach verfolgen. Dort ist es verboten, einfache Zugwiederholungen durchzuführen und Dauerschach zu geben.[5] Viele der heute üblichen Standardpartien würden durch die Aufnahme dieser Regel aus der Praxis verschwinden, zum Beispiel 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.0-0 Se4: 5.d4 Sd6 6.de5: Sb5: 7.a4 Sbd4 8.Sd4: Sd4: 9.Dd4: d5 10.ed6: Dd6: 11.De4+ De6 12.Dd4 Dd6 13.De4+ usw. Es muß allerdings bedenklich stimmen, daß im Chinesischen Schach ebenso oft remisiert wird wie bei uns.

Es ist also vielleicht günstiger für die Remisgegner, sich das Japanische Schach zum Vorbild zu nehmen, bei dem die Steine des Gegners, die man geschlagen hat, auf der eigenen Seite eingesetzt werden können. In diesem Spiel ist Remisschluß tatsächlich äußerst selten; es ist nicht zu sehen, wie ein stabiles Gleichgewicht zustande kommen kann.

Natürlich würde man durch Regeländerungen dieser Art die Tradition des Schachs aufheben und ein neues Spiel schaffen. Die häufigen Versuche dazu bedeuten das Eingeständnis, daß unser Schach durch den Einsatz der spielenden Maschinen seine Anziehungskraft als herausfordernde Aufgabe zur Problemlösung gänzlich eingebüßt hat.

Schach ist nichts Natürliches; sein Regelwerk ist vom Menschen erdacht. Aber doch sehe ich in der Abgabe der Lösungsanstrengungen an die Rechner eine Analogie zur Zerstörung des Lebendigen und Natürlichen durch den übermäßigen Einsatz von Technik und Kraft, mit der die Menschen im Begriff zu stehen scheinen, ihre Lebensgrundlagen aufzuheben.

 

[1]              Für das Damespiel ist der Nachweis angeblich geliefert, jedenfalls auf dem Brett mit 64 Feldern ohne Rückwärtsschlagen: Jonathan Schaeffer et alii, Checkers Is Solved, Science 317, 1518 (2007).

[2]              Das Ergebnis der Zweitpartien lautete +2 -4 =1.

[3]              Das Ergebnis der Wiederholungspartien lautete bei ihm +2 -0 =6.

[4]              Zuletzt in Biel 2021: Ein Gewinn wurde mit 4-0, ein Remis mit 1½:1½ berechnet.

[5]              Das diesbezügliche Regelwerk ist äußerst verwickelt; ich habe es nie begriffen.

 

Arno Nickels jährlich erscheinender Schachkalender ist nicht nur ein Kalender mit vielen nützlichen Informationen und Listen. Das Büchlein enthält auch eine Vielzahl von interessanten Artikeln zu Personen oder Ereignissen der Schachgeschichte und Schachgegenwart.

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Der Schachkalender 2022 bei der Edition Marco...

 

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Robert Hübner, Großmeister, gehörte in den 1970er bis 1990er Jahren zu den besten Schachspielern der Welt und spielte mehrfach um die Weltmeisterschaft mit. Der promovierte Altphilologe ist Autor zahlreicher Aufsätze und einer Reihe von Büchern.

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