Schachunterricht hinter Gittern
Carl Portman ist Verantwortlicher des "Chess in Prison" Projekts des Englischen Schachverbands. Er hat sich selbst das Ziel gesetzt, Schach in jedem Gefängnis in England zu fördern. Er hat Schachclubs gegründet, Insassen dazu gebracht, über Schach zu reden und versucht immer wieder, Gefängnisdirektoren vom positiven Einfluss des Schachs zu überzeugen.
2015 hatten etwa 86.000 Gefängnisinsassen im Vereinigten Königreich — darunter 5.000 weibliche Strafgefangene — Zugang zum "Schach hinter Gittern"-Programm. Wenn Portman darüber spricht, zeigt er gerne Briefe von Gefängnisinsassen, in denen steht, wie sehr das Schach ihnen geholfen hat und wie es ihr Denken und manchmal auch ihre Gesundheit verbessert hat. In einem Interview mit Amruta Mokal für ChessBase India verriet Portman über seine Leidenschaft und sein Engagement für dieses Projekt.
Amruta Mokal (AM): Wie bist du auf die Idee gekommen, Schach im Gefängnis zu unterrichten?
Carl Portman (CP): Der Englische Schachverband suchte damals jemanden für diese Stelle. Nachdem ich John Healys Buch The Grass Arena gelesen hatte - mittlerweile ein Klassiker - war mein Interesse an Schach im Gefängnis und wie Schach das Leben ändern kann, geweckt. Healys Buch erzählt, wie jemand im Gefängnis das Schach entdeckt (oder das Schach ihn entdeckt?) und wie das Spiel sein Leben grundlegend und positiv verändert hat. Mein Buch enthält ein aufschlussreiches Interview mit John Healy.
AM: Weißt du noch, wann du das erste Mal Schachunterricht im Gefängnis gegeben hast?
CP: Das war im Gefängnis von Coldingley in Surrey, im Süden von England. Das ist schon ein paar Jahre her, aber ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Ich war noch nie zuvor in einem Gefängnis und dieser Besuch hinterließ tiefen Eindruck. _REPLACE_BY_ADV_2
Carl Portman beim Simultanspiel gegen Gefangene | Foto: Chess Behind Bars
AM: Wie hast du die Gefangenen dazu gebracht, Schach zu lernen?
CP: Das musste ich gar nicht! Viele der Gefangenen konnten Schach spielen und der Gefängnisdirektor hatte mich eingeladen. Die Gefangenen warteten gespannt darauf, spielen zu können, und das war eigentlich in jedem Gefängnis, das ich seitdem besucht habe, der Fall, auch in Frauengefängnissen. Die Gefangenen wissen, dass man die Zeit mit Schach großartig nutzt.
AM: In wie vielen Gefängnissen hast du schon Schach unterrichtet und wie vielen Gefangenen hast du Schach beigebracht?
CP: Ich nenne das lieber 'ermutigen'. Wenn ich ein Gefängnis besuche, dann mache ich in der Regel eine Frage-und-Antwort Session, spende Schachfiguren und Bretter und spiele Simultan gegen alle, die spielen wollen. Zeit für Einzeltraining hat man nicht, denn die Gefangenen dürfen nur eine begrenzte Zeit pro Tag außerhalb ihrer Zellen verbringen — deshalb arbeite ich mit Gruppen. Allerdings kenne ich meist ein paar Gefangene, die das Schach unterstützen und mir berichten, wie sich das Schachleben in ihrem Gefängnis entwickelt. Sie unterrichten andere Gefangene und ermuntern sie, in ihrer Einrichtung Schach zu spielen. Meistens sind dies Leute, die unauffällig sehr Gutes tun.
AM: Du hast beim Schachunterricht im Gefängnis sicherlich schon viele interessante Dinge erlebt. An was erinnerst du dich besonders gut?
CP: Ich glaube, ein Simultan gegen ziemlich gute Gegner, die zum Teil für sehr schwere Verbrechen wie Mord oder schwere Körperverletzung verurteilt wurden, schärft den Geist. Die Atmosphäre war angespannt. Aber als die Partien begonnen hatten, hat das Schach das Reden übernommen. Seltsamerweise bin ich nicht unglücklich, wenn ein Gefangener tatsächlich einmal gegen mich gewinnt. Erstens haben sie das verdient und zweitens kann man an ihrem Gesicht ablesen, wie sie sich fühlen, weil sie etwas erreicht haben. Das stärkt ihr Selbstwertgefühl und ihre soziale Stellung in der Gruppe. Einmal habe ich auch einen Brief von einem Gefangenen aus Amerika erhalten, der mir geschrieben hat, dass er sich nur durch das Schach mit seinem lange verschollenen Vater wieder versöhnen konnte. Das war sehr bewegend.
AM: Die meisten Leute glauben, wenn man Schach im Gefängnis unterrichtet und spielt, müsse man vorsichtig sein. Wie siehst du das?
CP: Ich würde sagen, allzu zart besaitet sollte man für diese Arbeit nicht sein. Man muss sich Trashtalk und ein paar wirklich nicht nette Kommentare anhören und sich mit Macho-Psychologie abgeben, aber im Allgemeinen haben die Gefangenen kein Interesse daran, den Schachunterricht zu torpedieren, denn in der Regel müssen sie auf einen solchen Besuch sehr lange warten. Außerdem wissen sie es zu schätzen, dass ich ehrenamtlich arbeite.
Überraschungen gibt es dennoch immer wieder. Tatsächlich kam es einmal direkt vor meinen Augen zu einem Gewaltausbruch — in einem Frauengefängnis — und ein paar der Gefangenen, gegen die ich spielen sollte, wurden zur Strafe auf ihre Zellen gebracht, weshalb ich am Ende nur gegen ein paar Gefangene gespielt habe.
Manchmal kommt es vor, dass ein Gefangener, der — um es einmal so zu nennen — 'schummelt' und die Figuren auf dem Brett umherzieht, während ich meine Runden drehe. Aber das kommt nur sehr selten vor. Man muss zeigen, dass man zwar Spaß haben will, aber dass es für beide Seiten kein Pardon gibt, wenn die Partie begonnen hat.
AM: Welche positiven Veränderungen hast du bei den Gefangenen nach einer Reihe von Schachstunden gesehen?
CP: Gefangene schreiben mir und berichten, wie Schach ihr Leben verändert, und auch ihre Gesundheit und ihre Einstellungen verbessert. Das ist gut, egal, wo man ist und was man macht. Sie spielen besser, aber wichtig sind auch die Freundschaften, die durch das Spiel entstehen. Manche Insassen haben allein durch das Schach neue Kumpel kennengelernt. Die positiven sozialen Aspekte des Schachs im Gefängnis sind wirklich bemerkenswert. Die harte Schule des Schachs, die uns allen beigebracht hat, dass man erst denken und dann ziehen soll, fällt bei Menschen, die oft genau das Gegenteil gemacht haben, auf fruchtbaren Boden.
AM: Gibt es etwas, das dich besonders berührt hat?
CP: Ja. In einem Gefängnis haben die Insassen in den Wochen vor meinem Besuch ein ganz besonderes Geschenk für mich gebastelt. Das ein Springer und die Insasssen haben ihn mir vor Beginn des Simultans mit offensichtlichem Stolz überreicht. Das hat mich sehr gerührt und dieser Springer nimmt bei mir immer noch einen Ehrenplatz ein. _REPLACE_BY_ADV_1
Ein Springer als Geschenk (klicken oder antippen führt zu einem größeren Bild) | Foto: Carl Portman
CP: Einmal habe ich auch gegen jemanden gespielt, der gegen mich im Simultan antreten wollte, und der seinen Kumpels bis kurz vorm ersten Zug erzählt hatte, dass er gut spielen könnte. Doch als ich an sein Brett kam, lief er knallrot an und musste zugeben, dass er gar kein Schach spielen kann. Er tat mir richtig Leid. Er war nicht arrogant, er wollte einfach dazugehören und wurde erst in letzter Minute ertappt. Danach musste er sich von seinen Kumpels Einiges anhören, aber ich habe ihm gesagt, wie er Schach lernen kann und ihm erzählt, dass ich wieder einmal zum Simultan kommen würde und wir dann eine Partie spielen können…Ich hoffe, dazu kommt es.
AM: Gab es Gefangene, die dich nach ihrer Entlassung kontaktiert haben?
CP: Ja. Das hat Freunden und Familie immer Sorgen bereitet — denn was passiert, wenn...? Generell halte ich den Kontakt zu Gefängnisinsassen nicht aufrecht, wenn sie aus dem Gefängnis entlassen wurden (schließlich unterrichte ich Schach im Gefängnis), aber der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass es manchmal sinnvoll ist, zu antworten — zum Beispiel, wenn jemand fragt, wie er herausfinden kann, ob ein Schachklub in der Nähe ist oder wie sie Fernschach spielen können. Das ist cool.
AM: Warum wolltest du ein Buch über dieses Thema schreiben?
CP: Weil ein dringender Bedarf danach bestand. Nach etlichen Besuchen im Gefängnis habe ich gesehen, welche positiven Eigenschaften das Schach für die Gefangenen hat. Ein Buch wie Chess Behind Bars gibt es zur Zeit nicht und das, was ich schreibe, gilt für Gefängnisse auf der ganzen Welt. Das Buch ist ein Vermächtnis — es gibt dem Schach etwas zurück. Ein freundlicher Kritiker hat geschrieben, dass 'Portman (…) die Gesellschaft der Kriminellen mit dem Besten an Menschlichkeit bekannt gemacht hat', und das lässt einen demütig werden.
AM: Kannst du dir vorstellen, Gefängnisse in Indien zu besuchen, um dort Schachunterricht zu geben?
CP: Das wäre absolut traumhaft. Wie gesagt, die Arbeit, die ich mache, und die Methoden, die ich in den Gefängnissen anwende, würde Gefangenen und Wachpersonal überall zugute kommen. In Anbetracht der Geschichte Indiens und des Schachs wäre das ein besonderer Besuch. Es muss enorm viele Schachspieler — und solche, die es werden wollen — geben, die in indischen Gefängnissen sitzen.
AM: Was hast du durch den Schachunterricht im Gefängnis gelernt?
CP: Das Wichtigste, was ich gelernt habe, war, dass man nicht über Leute urteilen soll. Jeder macht Fehler im Leben und ich würde es hassen, wenn man mich aufgrund des größten Fehlers, den ich je im Leben gemacht habe, beurteilt. Ich weiß mit Sicherheit, dass ein paar 'gute' Leute im Gefängnis sitzen (zum Beispiel saß Nelson Mandela auch im Gefängnis) und ein paar 'schlechte' Leute draußen herumlaufen. Schach verbindet uns, egal, wo wir herkommen und welche Lebensgeschichte wir haben. Caissa liebt uns alle.
AM: Du hast dir wirklich ein interessantes Thema ausgesucht und wir würden gerne wissen, was passiert ist, als du deine Erfahrungenen öffentlich gemacht hast.
CP: Schach hinter Gittern ist eine gute Nachricht und wir alle könnnen gute Nachrichten gebrauchen. Ich weiß, dass Schach in Gefängnissen in Mexiko, den USA, Großbritannien und zahlreichen anderen Ländern Unglaubliches bewirkt, und das sollten wir im Blick behalten.
Ich wünsche mir, dass mein Buch gelesen wir, damit nicht nur Gefangene, die in einer hoffnungslosen Umgebung alle Hoffnung verloren haben, Begleitung fürs Leben bekommen, sondern ich wünsche mir auch, dass die Gesellschaft begreift, welches Potenzial das Schach hat, und wie es das Leben zum Besseren verändern kann. Gefangene wissen, dass jede Zelle von einem Traum erfüllt ist.
Über den Autor von Chess Behind Bars:
Carl ist in Schachkreisen gut bekannt und verfügt als Organisator, Trainer, Spieler und im Umgang mit dem öffentlichen Bereich und der Arbeit mit Offiziellen oder politischen Abgeordneten über viel Erfahrung. Sein Ziel ist es, Schach allen Gefangenen in England als eine Bildungsmöglichkeit zugänglich zu machen und das Schachspielen in Gefängnissen zu fördern. Carl weiß, dass diese Aufgabe schwierig ist, vor allem in Anbetracht der herrschenden Atmosphäre, in der Gefängnisse geschlossen und Gelder gekürzt werden, aber er möchte wissen, was man auf diesem Gebiet noch erreichen kann.
Quelle: englishchess.org.uk
Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Fischer
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