Schach in der Geisterbahn

von Christoph Pragua
21.03.2018 – Die Meinungen über die Präsentation des Kandidatenturniers im Kühlhaus in Berlin sind geteilt. Auf Kasparov wirkt das Turnier aus der Ferne wie Schach im "Colosseum". Für Christoph Pragua, der das Kühlhaus persönlich besucht hat, ist es ein Schachturnier in der Geisterbahn. (Foto: André Schulz)

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Alles Schwarz

Die leere Klopapierrolle eiert von links nach rechts, bleibt schließlich in einer Lache liegen. Sie war gestern schon da, oder? Genau wie die merkwürdigen Flecken auf dem Boden? Der Berg von zerknüllten Papierhandtüchern im Vorraum ist jedenfalls nicht weniger geworden über Nacht. Heute ist die Klinke der Kabinentür abgefallen.

Wir benutzen gerade das Besucher-Klo beim Kandidatenturnier, das eine einzige stille Örtchen, das allen männlichen Besuchern und Journalisten im Erdgeschoß des „Kühlhauses“ zur Verfügung steht. Dieser „restroom“ - wie taktvoll kann das Englische sein – liegt verwunschen in der äußersten Gebäudeecke hinter schwarzen Tuchbahnen, man muss sich durchfragen und trifft bestimmt auf eine kleine Schlange von Schachfreunden, die bange vor der Tür auf´s Drankommen wartet.

Dann das viele Schwarz. Das Kühlhaus, gelegen in einer gesichtslosen Nebenstraße im Kreuzberger Nirgendwo zwischen S-Bahn-Gleisen ist ein in Ansätzen umgebautes Lagerhaus aus einem vergangenen Jahrhundert. Der Ehrgeiz der Veranstalter ist es offenbar gewesen, den äußerst rauen Charme eines solchen Industriedenkmals beizubehalten und jede Art von Komfort entschlossen zu verhindern. Durch genug Licht etwa, durch Sitzplätze, ein paar wenigstens, durch ein einladend gestaltetes Entree, durch ein wenig optische Gastfreundlichkeit. Der Turnierbesucher muss durch ein riesengroßes verrostetes Fabriktor und einen bedrückenden Hohlweg zur Hinterfront, dort klettert er über schwarz bespannte wackelige Pressspanstufen und drückt sich durch schwarze Vorhänge und die quietschende Eisentür. Links die Reste der offensichtlich hastig eingestellten Bauanstrengungen, eine Bütt voll Schutt, eine verschmierte Schaufel, ein Plastikeimer, merkwürdigerweise auch ein Supermarkteinkaufswagen, dann steht man in dem, was man gemeinhin Foyer nennt. Kinder würden die düstere Halle mit der niedrigen Decke für den Einstieg in die Geisterbahn halten, in Erlebnisparks irgendwo in Deutschland startet so die Tour durch Kerker und Verliese.

In eine Ecke hat man die Lasker-Gesellschaft ein paar Devotionalien rücken lassen, unter anderem ein überlebensgroßes Foto des einzigen deutschen Weltmeisters, der vor 150 Jahren geboren wurde. Nach allem, was die Forschung weiß, hätte sich Emanuel Lasker nicht freiwillig in diesen Schreckensbau begeben. Vor allem nicht zum Schachspielen.

Wolle-Petry-Freundschaftsbänder

Wer bezahlt hat, bekommt ein Armband, das ein wenig an Wolle-Petry-Freundschaftsbänder erinnert und mit seiner Farbe signalisiert, wer wohin darf und wohin nicht. Dies Utensil ist lebensnotwendig; ständig wird man darauf kontrolliert, dass man nicht verbotenes Terrain betritt. Zu den Zuschauerebenen im 2. oder 4. Stock führt ein enges, steiles Treppenhaus mit über fast 80 Stufen. Wer nicht gerade gut zu Fuß ist, überlegt es sich zweimal, den Ort seines Schachinteresses zu wechseln. (Es gibt einen Aufzug, doch der ist nur wenigen vorbehalten.) Deshalb bleibt er vielleicht einfach für ein paar Stunden auf der 2. Etage, drückt sich ans Geländer in der Mitte und versucht, von dort aus dem Dunkel einen Blick nach unten auf die Köpfe der Spieler auf Ebene 1 zu erhaschen; ein Opernglas wäre hilfreich.

Foto: André Schulz

Die Meister hocken in vier grell erleuchteten Einzelkojen und sind offenbar geübt darin, die vielen hundert Augenpaare zu ignorieren und zu vergessen, die ihnen von oben auf den Hinterkopf starren. Leider bringt die ungewohnte Perspektive auf Bretter und Figuren es für das Publikum mit sich, dass man vor lauter Reflexionen nur Teile der Stellungen erkennt, und natürlich kann man immer nur ein Brett zur Zeit sehen, ein gleichzeitiger Blick auf andere ist unmöglich. Vor allem muss man sich überhaupt erst einmal zwischen den eng an eng stehenden Schultern seiner Vorderleute durchmogeln. (Ist wirklich niemand auf die Idee gekommen, an der Wand des Publikumsbereichs noch ein paar in vier Diagramme geteilte Monitore aufzustellen, auf denen man den Partien auch einige Meter weg vom Geländer verfolgen kann? Im VIP-Bereich oben im 5. Stock findet man sie reichlich.)

Silence!

Zur Senkung des unvermeidbaren Geräuschpegels sind die – einheitlich tiefschwarz gewandeten - dienstbaren Geister angewiesen, den Gästen bei geringsten Geräuschen eine Art Papptafel mit der Aufschrift „Silence!“ vor die Nase zu halten; man kennt diese Geste aus Übertragungen der leichtathletischen Geher-Wettbewerbe, wenn sogenannte Gehrichter durch Hochhalten solcher Verwarnungstafeln sportliche Geh-Disziplin des Athleten anmahnen. Wer ein wenig Bewegung braucht und vielleicht ein Mineralwasser möchte, muss rauf in den 4. Stock und damit vorbei an den ernst blickenden jungen Männern, die auf jedem Treppenabsatz wachen und eine beeindruckende „street credibility“ ausstrahlen.

Foto: André Schulz

Das Pressezentrum ist ein mit Rigips-Platten abgetrennter Verschlag im 5. Stock direkt unterm Dachstuhl. Ein paar Campingstühle an Plastiktischen, leider ist die Beleuchtung notleidend. Eine einzelne Baustellenlampe schräg an der Ecke und ein paar altersschwache Stehlampen aus schwedischer Produktion zwingen die internationalen Berichterstatter zu toleranter Umgehensweise und zu flexiblen Reaktionen, wenn wieder ein 1,90-Kollege direkt im Licht steht und alle anderen im Schlagschatten hocken. Immerhin gibt’s Kamillentee.

Foto: André Schulz

Die Kandidaten, die den Herausforderer für Magnus Carlsen ermitteln, haben sich bereits zur Turniereröffnung ungewohnt deutlich über die Gesamtorganisation geäußert, vor allem über diejenigen Details, die sie unmittelbar betreffen, ihre Toiletten zum Beispiel. Sergej Karjakin: „Eigentlich gefällt mir hier gar nichts.“ Ein Satz, der bei den Organisatoren alle roten Lampen angehen lassen müsste, eigentlich. Wie können die Großmeister hier ihr Können in annehmbarer Umgebung auf´s Brett bringen, wie können sie dabei helfen, die prachtvolle Atmosphäre großer Turniere herzustellen, auf die sich alle gefreut haben? Und wie dankbar muss die Schachwelt im Gebäude und im Netz den acht Männern sein, die allen unzumutbaren Umständen zum Trotz ein sportlich so spannendes Turnier mit teils spektakulären Partien abliefern! Von „Berlin 2018“ wird man in dieser Hinsicht noch lange reden. In anderer Hinsicht wohl auch.

Wer diesen Veranstaltungsort für das Kandidatenturnier zu Schachweltmeisterschaft ausgesucht hat und damit angeblich Schach als „Premiumprodukt“ vermarktet, dem müssen – neben zu vermutenden finanziellen Zwängen bzw. Interessen – einige Dinge völlig egal gewesen sein: die professionelle Präsentation eines Sport- und Show-Ereignisses von Weltrang, das Wohlbefinden der Schachmeister, das intellektuelle Unterhaltungsinteresse des Publikums sowie die Belange des journalistischen Beobachter.
 
Aber anders kann man auch Eindruck zu schinden versuchen. Über die ganze Höhe und Breite der Kühlhaus-Straßenfront ist ein schwarzes Banner gespannt mit dem ehrgeizigen Motto auf Englisch: „Wer hier eintritt, dessen IQ könnte nachhaltig steigen. Schach schafft das beim Menschen.“ In Ordnung, der IQ. Aber fangt erstmal mit den Klos an.
  


Wahlrheinländer aus Hamburg. Nach 40 Jahren Hörfunk (im WDR) gönnt sich Christoph Pragua zum Beginn des Ruhestandes ein paar Schachreisen - und hat darüber auch etwas zu schreiben.

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