Schach und Politik in Berlin

von Martin Wagener
25.06.2019 – Vorletztes Wochenende fand in der "Taipeh-Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland" eine prächtige Schachveranstaltung statt. In einem Vortrag erörterten Prof. Dr. Martin Wagener und Stefan Kindermann die Verbindungen von Schach und Politik. Dazu gab es Simultanvorstellungen mit der deutschen Schachprominenz. | Fotos: Taipeh-Vertretung in Berlin

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Taiwan setzt neue Maßstäbe im Schach

Taiwan gehört in Asien nicht zu den großen Schach-Nationen. In der Region dominieren eindeutig Spieler Chinas und Indiens. In Berlin wurden diese Machtverhältnisse nun kürzlich für einen kleinen Moment verschoben. Vom 14. bis zum 16. Juni 2019 hatte die Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland zu einem Schachwochenende geladen, das in dieser Form sicherlich neue Maßstäbe gesetzt hat. Die Veranstaltung ging über drei Tage. Und es konnte reichlich Schachprominenz für das Ereignis gewonnen werden. Vertreten waren GM Stefan Kindermann, GM Jan Gustafsson, IM Elisabeth Pähtz und WIM Fiona Sieber. Die Veranstalter durften insgesamt etwa 300 Gäste begrüßen.                       

Die Schach-Terminologie bietet sich geradezu an, um die ungleichen Machtverhältnisse in der Taiwanstraße zu beschreiben. Peking hat die Initiative, reichlich Tempo voraus und versucht sich am Mattangriff. Taipeh hat dagegen Probleme, Gegenspiel zu erreichen. Der Repräsentant der Vertretung, Prof. Dr. Jhy-Wey Shieh, hat dies wie folgt ausgedrückt: „Vermutlich haben wir uns für eine Art Philidor-Verteidigung entschieden, um unsere Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten. Sie ist solide spielbar, begrenzt aber auch die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Die Initiative liegt weiterhin bei China. Noch ist offen, wie diese lange Schachpartie enden wird. Die Politik Taiwans ist darauf gerichtet, ein Matt zu verhindern.“

Die Beziehungen zwischen Peking und Taipeh können als kontinuierlich angespannt bezeichnet werden. China betrachtet Taiwan als „abtrünnige Provinz“ und erkennt es damit nicht als Staat an. Die Bundesregierung folgt dieser Einordnung und betreibt daher eine „Ein-China-Politik“. Aus diesem Grund heißt die Repräsentanz des Landes „Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland“, die de facto die Botschaft ist. Fast alle Mitarbeiter stammen aus dem Außenministerium Taiwans. Der Leiter der Vertretung – de facto der Botschafter – muss sich wegen der „Ein-China-Politik“ folgerichtig „Repräsentant“ nennen. Taiwan wird derzeit von China regional wie international massiv unter Druck gesetzt. Dazu gehören militärische Drohungen, die diplomatische Isolierung des Inselstaates sowie umfassende Bestrebungen, das Land regional wie international in multilateralen Kontexten auszugrenzen.

Das Schachwochenende begann am Freitag mit einem gemeinsamen Vortrag von GM Stefan Kindermann und Prof. Dr. Martin Wagener zum Thema „Zwischen Intuition und Ratio: Was können Analytiker in Wirtschaft und Politik vom Schach lernen?“

Professor Dr. Martin Wagener

Stefan Kindermann hat zu diesem Thema bereits mit Robert K. von Weizsäcker das Buch „Der Königsplan. Strategien für Ihren Erfolg“ verfasst. Im Vortrag konzentrierte er sich u.a. auf das Thema der künstlichen Intelligenz, die strategisch-strukturelle Planungen und Prozesse immer mehr beeinflusse. Dabei stellte er die Frage, welchen Wert ihr Gesellschaften vorgeben sollten. Dazu biete das Schach eine mächtige Metapher.

Bernhard Riess und Stefan Kindermann

Zwar gebe es viele wichtige Faktoren wie z.B. Material, Raum, Zeit und Harmonie der Figuren, die bei der Bewertung einer Position bedeutsam sind, doch sie alle seien einem zentralen Wert untergeordnet, nämlich dem Schicksal des Königs als oberstem „Königswert“. Analog werde es ganz entscheidend sein, die wirklich wichtigen menschlichen „Königswerte“ zu klären und über sie Konsens zu gewinnen. Diese Werte seien der Leitfaden für Ethik und Ziele, die der Mensch der künstlichen Intelligenz vorgeben müsse. Gelinge dies nicht, so könnte sie zum neuen Herrscher werden, der die Menschheit eines Tages vielleicht als überflüssig erachte. Oder die künstliche Intelligenz könnte zur schrecklichen Waffe in den Händen eines totalitären Regimes werden, wie es sich in manchen Staaten tatsächlich schon abzeichne. Gelinge es dagegen, sie in die richtigen Bahnen zu lenken, gelte das Gegenteil: Sie könnte zum mächtigsten Werkzeug werden, über das die Menschheit jemals verfügte und es ihr ermöglichen, scheinbar hochkomplizierte Probleme zu lösen und das Leben auf diesem Planeten ein großes Stück voranzubringen

Zu den weiteren Grundlagen von Entscheidungsprozessen führte Stefan Kindermann aus, dass der wichtigste menschliche Trumpf über rein rational geprägte Jahrhunderte hinweg sträflich vernachlässigt worden sei. Erst heute würden wir wissen, dass die lange als „Esoterik“ abgetane menschliche Intuition bei sämtlichen Planungen, Entscheidungen und auch kreativen Lösungen die absolut zentrale Rolle spiele. In Wahrheit sei es das herausragende Bauchgefühl, das den Unterschied ausmache und auch die Qualität einer guten Führungskraft bestimme. Doch sei die Intuition keinesfalls unfehlbar. Das Bauchgefühl unterliege klaren Einschränkungen bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten und sei Verzerrungen durch Gier oder Angst ausgesetzt. Erst in der rechten Kombination mit der Ratio entfaltet es seine volle Kraft. Schachmeister haben seit 1500 Jahren ihren Umgang mit ihrer Intuition entwickelt und perfektioniert. Dabei hätten sie gelernt, sehr genau auf ihr spontanes Bauchgefühl zu achten, es systematisch weiter zu entwickeln und es mit logisch strukturiertem Denken zu verbinden. Nur so würden ihnen optimale Entscheidungen in einem unvorstellbaren Ozean von Möglichkeiten, auch unter Zeitdruck und Stress, gelingen. Kindermann forderte eine systematische Beschäftigung der Gesellschaft mit diesem im digitalen Zeitalter überlebenswichtigen Bereich, um das volle Potential der Intuition zu nutzen.

Anschließend widmete sich Martin Wagener der zweiten Seite des Themas. Politiker würden das Schachspiel regelmäßig nutzen, um sich als Strategen zu inszenieren. Dies werde immer wieder durch Fotos dokumentiert. Journalisten würden wiederum Karikaturen nutzen, um eine bestimmte Politik als strategisch oder als nicht strategisch einzuordnen. Schach werde zudem bis heute von Regierungen instrumentalisiert. Der Kampf um die Weltmeisterschaft zwischen Boris Spasski und Robert Fischer 1972 in Reykjavik – somit zwischen den beiden Supermächten des Kalten Krieges, der Sowjetunion und den USA – sei dafür ein besonders auffälliges Beispiel gewesen. Aber auch in der Gegenwart könnten zahlreiche Fälle benannt werden: der mutmaßliche Einfluss der russische Regierung auf die Wahl von FIDE-Präsident Arkadi Dworkowitsch 2018; der Machtwettbewerb zwischen Indien und China, der in einer sanften Form auch um die führenden Plätze in der Schachweltrangliste stattfinde; die Verehrung für Tigran Petrosjan in Armenien, der den Status eines Nationalhelden habe; die gesellschaftlich integrierende Kraft Magnus Carlsens in Norwegen. Im Frühjahr dieses Jahres habe ein kleines Schachtunier auf den im südlichen Atlantik gelegenen Falklandinseln für eine kurze diplomatische Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und Argentinien gesorgt.

Martin Wagener vertrat die Ansicht, dass die Politik natürlich vom Schach lernen könne. Diese Aussage beruht auf einer simplen Annahme: Denk- und Entscheidungsprozessen im Schach und in der Politik liegen ähnliche Muster zugrunde. Dies gelte etwa bei Kosten-/Nutzen-Abwägungen, den Folgen nach einer falschen Lageeinschätzung oder einer zu starken defensiven bzw. offensiven Vorgehensweise. Abstrakt gesprochen gehe es darum, über das Schachspiel neue Denkmuster zu erlernen, die dann helfen könnten, die Entscheidungsfindung in der Politik zu optimieren. Dies setze natürlich eine gewisse Offenheit der Beteiligten voraus. Schachspieler würden zwei Fähigkeiten permanent trainieren: In langen Turnierpartien profitierten sie von ihrer Ratio, in zeitlich beschränkten Wettkämpfen wie etwa Blitzpartien seien sie dagegen sehr stark auf ihre Intuition angewiesen. Dies entspreche jenen Fähigkeiten, über die im Idealfall auch in der Auswertung tätige Nachrichtendienstler verfügen. Martin Wagener regte daher abschließend an, Schachspieler im Elo-Bereich zwischen 2000 und 2300 (die Zahl ließe sich auch absenken oder erhöhen) gezielt anzusprechen, um sie für die Arbeit in einem Nachrichtendienst zu werben. Dieser könnte dadurch neue Mitarbeiter mit herausragenden kognitiven und vor allem kombinatorischen Fähigkeiten gewinnen. Großbritannien habe dies in der Vergangenheit sehr erfolgreich getan. Hugh Alexander war ab 1940 in der Zentrale der britischen Codeknacker, Bletchley Park, beschäftigt. Dort wirkte er an der Entschlüsselung des Codes der Enigma-Maschine mit. Alexander war 1938 Schachmeister in Großbritannien geworden.

Nach dem Vortrag kam es zu einer Blindpartie zwischen GM Kindermann (2494 Elo) sowie den taiwanischen Spielern Ching-Wei Yang (2163 Elo) und Po-Yen Min (2005 Elo), die in der aktuellen Rangliste ihres Landes die Plätze 2 und 4 belegen. Sie waren extra für das Schachwochenende angereist. Die Spielbedingungen sind für beide Seiten vorab gezielt erschwert worden. Während Stefan Kindermann jeder Blick auf das Schachbrett verwehrt wurde, mussten die taiwanischen Spieler abwechselnd ziehen, und sie durften sich nur alle drei Züge absprechen. Beide hatten zudem sichtbar mit dem Jetlag zu kämpfen. Stefan Kindermann gewann am Ende souverän. Dies lag sicher auch daran, dass er nach 1. e4 c5 sofort in jene Eröffnung überging, die er sich zuvor intensiv erarbeitet und mittels DVD bei ChessBase veröffentlich hatte: „Siegen gegen Sizilianisch – die pfiffige Python“. Manchmal kann es durchaus von Vorteil sein, ein Produkt nur in deutscher Sprache zu publizieren!

Stefan Kindermann beim Blindspiel

Siegen gegen Sizilianisch - die pfiffige Python

Diese DVD präsentiert einen ungewöhnlichen und noch kaum erforschten Ansatz: Weiß baut sich mit 1.e4 c5 2.d3 Sc6 3.f4 auf und entwickelt in der Folge seinen Läufer nach e2. Dies entspricht im Grunde einem „Super-Holländer“ mit vertauschten Farben und zwei

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Am nächsten Tag eröffnete GM Jan Gustafsson den Reigen der Simultanpartien.

Begrüßung von Jan Gustafsson

Prof. Dr. Jhy-Wey Shieh machte wie bei den folgenden Durchgängen den Eröffnungszug.

Jan Gustafsson

Alle Simultanspieler traten gegen jeweils 30 Simultangegner an. Die drei Vertreter der deutschen Schachelite beeindruckten mit ihrem Können und erzielten durchweg vorzügliche Ergebnisse: GM Jan Gustafsson (2645 Elo) holte 25,5 aus 30 Punkten, IM Elisabeth Pähtz (2473 Elo) 26,5 aus 30 Punkten und WIM Fiona Sieber (2250 Elo) sogar 27,5 aus 30 Punkten.

Elisabeth Pähtz

Die Simultanveranstaltungen dauerten jeweils vier bis fünf Stunden.

Fiona Sieber

Besonders bemerkenswert waren die Ergebnisse der Gäste aus Taiwan. Insgesamt haben die drei Simultanspieler 10,5 Punkte abgegeben. Von diesen konnten sich die Schachspieler Ching-Wei Yang, Po-Yen Min und ihr Trainer Chung-Yu Lin 6 Punkte und damit gut 57 Prozent sichern.

 

 

 

 

 

Partieauswahl des Simultans mit Jan Gustafsson

 

Die Veranstaltung hätte ohne das große Engagement der taiwanischen Vertretung nicht gelingen können. Prof. Dr. Jhy-Wey Shieh war nicht nur wieder einmal ein vorzüglicher Gastgeber, sondern er erklärte seinen Gästen auch die Bedeutung des Schachspiels in der deutschen Literatur, indem er u.a auf „Die Schachnovelle“ von Stefan Zweig und das „Schach von Wuthenow“ von Theodor Fontane einging. Während des Schachwochenendes zeigte er zudem erneut seine hohen Qualitäten als Conférencier. Die mit Abstand größte Organisationsleistung hat zweifellos Maria Chiang erbracht, die sich in den drei Tagen in Berlin zudem als souveräne Moderatorin erwies.

Große Unterstützung erhielten die Gastgeber aus der deutschen Schachwelt. ChessBase wies mehrfach auf das Ereignis hin. Werbung erschien zudem auf „Steffans-Schachseiten.de“ und anderen Internetportalen sowie in den Fachmagazinen „Rochade“ und „Schachmagazin 64“. Der Berliner Schachverband half tatkräftig mit. Präsident Carsten Schmidt hielt ein Grußwort und brachte sich auch vor Ort an den drei Tagen sehr engagiert in die Veranstaltung ein. Unterstützt wurde die Durchführung der Simultanpartien von Bernhard Riess (FIDE-Schiedsrichter), Christian Kuhn (FIDE-Schiedsrichter und Vizepräsident des Berliner Schachverbandes) und Lothar Oettel (Internationaler Schiedsrichter), die in souveräner Manier dazu beitrugen, dass während der zahlreichen Partien alles gemäß den Regeln verlief.

Carsten Schmidt mit Elisabeth Pähtz

Ungewöhnlich für ein solches Schachwochenende war sicherlich das umfassende Rahmenprogramm. Zum Auftakt spielte das eigens aus Taiwan eingeflogene und aus 12 Musikern bestehende Ultrasonic Sax Ensemble, das vier taiwanische Evergreens zu Gehör brachte („Erbe der Vorfahren“, „Der Flaschensammler“, „Liebe für das Land und die Schönheit“, „Ohne Fleiß kein Preis“).

Gleich gibt es Musik

Mittagessen, Kaffee, Kuchen und Getränke waren ganztätig für Schachspieler wie Kiebitze kostenlos zu haben. Nach jeder Simultanveranstaltung gab es zur Freude der Anwesenden eine Tombola, in der verschiedene elektronische Geräte aus taiwanischer Produktion – darunter mehrere Notebooks – verlost wurden. Simultangegner, die einen oder einen halben Punkt geholt haben, erhielten Extra-Preise.

Gruppenbild mit Damen

Das Fazit fiel nicht nur deshalb bei allen Teilnehmern eindeutig aus: Die Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland hat eine vorzügliche Schachveranstaltung auf die Beine gestellt. So wunderte es auch nicht, dass Prof. Dr. Jhy-Wey Shieh gleich mehrfach gefragt worden ist, wann es zu einer Fortsetzung kommt.

 


Prof. Dr. Martin Wagener lehrt Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und Berlin.

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