27.11.2016 – Ist das Schach in den USA wirklich im Aufwind? Die USA haben bei der Olympiade in Baku 2016 Gold geholt, drei US-Spieler sind in den Top Ten und Karjakin und Carlsen spielen in New York um die Weltmeisterschaft, aber gibt es zwischen New York und Los Angeles wirklich einen neuen Schachboom? Vanessa West wirft einen Blick auf Medien und Schachszene der USA. Mehr...
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Schachbretter auf der Uferpromenade in Santa Monica in Südkalifornien (Foto: Oscar Alex Flores)
Eine VIP-Lounge mit offener Wodka-Bar, ein atemberaubender Blick auf den Hafen New Yorks und virtuelle Realität für Zuschauer am heimischen Computer - was kann das sein?
Erlebnisse eines Zuschauers bei einem Schachwettkampf.
Aber wer die Schachwelt nicht kennt, der kann sich das nicht vorstellen und die gestellte Frage nicht beantworten. Schach als Zuschauersport durchläuft einen rasanten Wandel. Doch ist die Mainstream-Kultur in Amerika dafür bereit?
2012 veröffentlichte das Atlantic Magazine unter dem Titel "How America Forgot about Chess" einen Artikel, der nachdenklich stimmt. Der Text beginnt mit einer überraschenden Anekdote, die zeigt, wie überwältigend das Interesse der Amerikaner an Bobby Fischers WM-Match 1972 war:
"Wütende Zuschauer forderten die TV-Verantwortlichen wiederholt dazu auf, nicht mehr vom Treffen des Nationalen Demokratischen Komitees in Washington zu berichten, denn sie wollten stattdessen eine Partie des Weltmeisterschaftkampfs weiter Zug-für-Zug verfolgen.
Mitten in einem Wahlkampf, der schließlich zur Wiederwahl Nixons führte, wollte das amerikanische Publikum lieber die stundenlangen Partien zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky sehen."
- Santiago Wills
Nach diesem Rückblick ins Jahr 1972 behauptet Wills jedoch, dass Schach seit dem Fischer-Match "seine kulturelle Bedeutung verloren hat," und beruft sich dabei auf einen dramatischen Rückgang der Berichterstattung in den Mainstream-Medien:
"1972 veröffentlichte die New York Times, die von allen großen Zeitungen am meisten über Schach berichtete, in ihrer landesweiten Ausgabe 241 Artikel, die sich ausdrücklich mit dem Spiel beschäftigten.
1995, in dem Jahr, in dem Garry Kasparov, der wohl beste Schachspieler aller Zeiten, gegen den indischen Großmeister Viswanathan Anand im 107. Stockwerk des World Trade Centers zum Kampf um die Weltmeisterschaft antrat, war diese Zahl auf 148 Artikel pro Jahr gesunken.
Die Zahl fiel auf nur 28 Artikel im Jahr 2011, dem Jahr, in dem Hikaru Nakamura, ein amerikanischer Großmeister und zur Zeit der siebtbeste Spieler der Welt, das Tata Steel Turnier gewann, eines der angesehendsten europäischen Turniere."
Hat sich die Situation in den vier Jahren seit Erscheinen des Artikels von Santiago Wills verbessert?
Das kommt auf den Standpunkt an. Einerseits hat das amerikanische Schach in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht.
● Drei der zehn besten Spieler der Welt kommen zur Zeit aus den USA, so viel wie in keinem anderen Land. Dazu gehört auch Fabiano Caruana, die klare Nummer zwei der Welt, der in der Live-Weltrangliste nur 20 Punkte hinter Magnus Carlsen rangiert.
● Caruana hat zusammen mit vier anderen Spitzenspielern der USA, nämlich Sinquefield Cup Gewinner Wesley So, dem vierfachen U.S.-Meister Hikaru Nakamura, dem Sieger des Biel Masters Sam Shankland und dem jungen Großmeister Ray Robson bei der Olympiade Baku 2016 Gold für die USA geholt.
● Jeffrey Xiong, ein 15-jähriger US-Amerikaner, wurde 2016 Juniorenweltmeister.
● Es gibt mehr Spitzenturniere als je zuvor. Der vom Milliardär Rex Sinquefield unterstützte Saint Louis Chess Club organisiert die U.S.-Meisterschaften, Einladungsturniere, bei denen man GM- und IM-Normen machen kann, sowie den Sinquefield Cup, ein Spitzenturnier, an dem die besten Spieler der Welt teilnehmen.
● Mit Hilfe der Kasparov Chess Foundation und der US Chess School sind zahlreiche herausragende junge Talente wie GM Xiong, GM Sam Sevian, der designierte GM Ruifeng Li und IM Awonder Liang herangewachsen.
● New York City hat den Zuschlag erhalten, den mit Spannung erwarteten Weltmeisterschaftskampf zwischen Magnus Carlsen, dem Spieler mit der höchsten Elo-Zahl aller Zeiten, und Sergey Karjakin, dem jüngsten Großmeister aller Zeiten, auszurichten.
New York, NY - 12. November 2016: Das Bild zeigt die Plakate vor dem Fulton Market Building, wo der WM-Kampf zwischen Carlsen und Karjakin stattfindet. (Foto: Jason Kempin/Getty Images für Agon Limited)
In vielerlei Hinsicht erlebt das amerikanische Schach gerade ein goldenes Zeitalter:
"Großmeister, die aus den USA stammen und jünger sind als je zuvor, eine blühende Schulschachlandschaft und jetzt wechselt Fabiano Caruana auch noch zum US-Schachverband. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ging es uns nie so gut."
- Chris Wainscott, "A New Golden Age for American Chess", Chess Life Magazine, Juli 2015
Aber hat das Publikum in den USA das auch gemerkt?
Auf den ersten Blick hat Schach in der Mainstream-Kultur einen ziemlich festen Platz. Disney hat vor kurzem Queen of Katwe gezeigt, einen Spielfilm, der sich mit einer aufstrebenden Schachspielerin aus Uganda beschäftigt.
Freie Schachpartien scheinen immer beliebter zu werden. Zum Beispiel bietet Facebook eine Möglichkeit an, Schach mit Hilfe der Messaging-Funktion zu spielen (in der Nachricht an den Wunschgegner "@fbchess play" eingeben).
Lebensgroße Schachfiguren auf dem Harvard Square in Boston, MA. (Foto: Marlenie Cardenas)
Und welches andere Brettspiel wird mit riesigen Figuren in Parkanlagen und am Strand gespielt und lagert stets griffbereit in den Regalen angesagter Innenstadtcafés?
Die Popkultur ist voller Verweise auf das Spiel als Symbol für Intelligenz und strategisches Denken. Viele dieser Darstellungen enthalten allerdings Ungenauigkeiten und zeigen eine fundamentale Unkenntnis des Spiels.
In Captain America: Civil War, einem 250 Millionen teuren Marvel-Film, ist das Schachbrett in einer ganzen Reihe von Szenen falsch aufgebaut.
H3, das Feld vor dem am weitesten entfernt stehenden weißen Bauern, ist in diesem Screenshot ein schwarzes Feld. Es sollte jedoch ein weißes Feld sein. Das Brett steht verkehrt.
Schachspiele schaffen es zwar in Multi-Millionen Actionfilme aus Hollywood, aber wenn man genauer hinschaut, dann scheint das tatsächliche Interesse der Mainstream-Kultur am Schach bestenfalls lauwarm zu sein.
So war das Einspielergebnis von Queen of Katwe trotz sehr positiver Kritiken zum Start am Ende enttäuschend.
Was Spitzenspieler, den Wettkampf und die Feinheiten des Spiels betrifft, so ist das Interesse des Mainstreams oft zwiespältig oder gar nicht vorhanden.
Vor zwei Monaten, als die USA das erste Mal seit vierzig Jahren bei der Schacholympiade die Goldmedaille gewonnen hat, berichtete fast kein einziges Mainstream-Medium darüber. Die New York Times, eines der wenigen Printmedien, die es dennoch taten, konzentrierten sich dabei vor allem darauf, dass Caruana und So "importierte Talente" sind.
Der Artikel "U.S. Wins Gold at Chess Olympiad With Help of Imported Talent" betont, dass Caruana und So kurz vor der Olympiade zum US-Schachverband gewechselt sind, aber erwähnt nicht, dass Caruana seine ersten Schritte im Schach in den USA gemacht hat, oder dass So 2012 in die USA kam, um an der Webster University in St. Louis, MO, zu studieren.
Hikaru Nakamura, Sam Shankland und Ray Robson, die ihr schachliches Können in den USA entwickelt haben, werden in dem Artikel kaum erwähnt.
Und als der in den USA geborene Jeffrey Xiong, der mit 15 Jahren noch verblüffend jung ist, die Juniorenweltmeisterschaft gewann, als einziger US-Spieler in den letzten 19 Jahren, schienen Mainstream-Medien keine Notiz zu nehmen.
Und Medien scheinen sehr gerne über Schach zu schreiben, wenn es um Konflikte und Streit geht. So wurden Themen wie Agons Streit um das Urheberrecht an Schachpartien oder der Boykott der Weltmeisterschaft im Iran ausführlich behandelt.
Nazi Paikidze, die amtierende US-Meisterin, die die Kampagne "Stop Women’s Oppression at the World Chess Championship by Challenging FIDE’s Decision" angestoßen hatte, begrüßte die umfassende Berichterstattung über ihr Anliegen zunächst. Doch dann war sie zunehmend enttäuscht, weil manche Medien permanent nach Konflikten suchten. Paikidze veröffentlichte dann einen scharfen Tweet, in dem sie HeatStreet, eine Kommentar- und Meinungsseite, einen Artikel über sie wieder zurückzuziehen.
Zum Glück bietet die Weltmeisterschaft die Möglichkeit, Schach in die Mainstream-Medien zu bringen - aus den richtigen Gründen.
Anders als bei ihrer knappen Berichterstattung über die Schacholympiade hat die New York Times kontinuierlich Artikel über die Weltmeisterschaft veröffentlicht: eine viel beachtete Vorschau auf den Wettkampf, ein Porträt Sergey Karjakins, eine Rezension des Dokumentarfilms Magnus, dazu Artikel, wie Zuschauer vor Ort das Match erleben und das Spiellokal im VIP-Stil.
Dass die Weltmeisterschaft in New York stattfindet, bereitet die Bühne für weitere große Schritte vor. Agon Limited, das Unternehmen, das die Weltmeisterschaft organisiert, hat große Anstrengungen unternommen, um das Zuschauererlebnis bei der Weltmeisterschaft zu modernisieren, sowohl vor Ort als auch online.
Vor Ort zahlen die Zuschauee bis zu $1200 für denZugang zum VIP-Bereich, inklusive einer Chance, die Partien live mit Prominenz aus Hollywood und Schachwelt zu verfolgen, einer offenen Wodka-Bar, Häppchen und einen atemberaubenden Blick über den Hafen von New York.
Online sorgt Agon für ein 3D IMAX Erlebnis und bietet einen 360 Grad Panoramablick des Spielsaals sowie ein Virtual Reality Video.
"Seien Sie näher am Geschehen als je zuvor. Erleben Sie den Weltmeisterschaftskampf als hätten Sie nicht nur einen, sondern alle besten Plätze im Saal."
- Die offizielle Webseite von World Chess Official
In einer weiteren Schritt in Richtung auf ein modernes Publikum hat die World Chess Webseite während des Kandidatenturniers eine "LOL" (Laugh Out Loud) Seite erstellt, auf denen Profile mit Karikaturen der besten Spieler der Welt zu sehen waren.
Warum all dieser Aufwand, um einen Schachwettkampf modern zu gestalten?
"Die Entscheidung, den Wettkampf hier in New York stattfinden zu lassen, und nicht in, sagen wir, Chennai oder Sotschi, hatte offensichtliche Gründe: wenn man es hier schafft, schafft man es überall. Wenn die Organisatoren ein interessantes, gut organisiertes und erfolgreiches (in Bezug auf Kartenverkauf und Berichterstattung in den Medien) Match im Big Apple auf die Beine stellen können, dann, so die Vermutung, ist das gut, um in der Zukunft Schachwettkämpfe dieses Kalibers in anderen großen Metropoloen ausrichten zu können. Große Sponsoren und Medienpartner könnten folgen, ganz zu schweigen von Scharen von Fans."
Der Plan scheint zu funktionieren. Der Wettkampf zieht im Epizentrum amerikanischer Kultur zieht zahlreiche Fans an.
"In New York sorgten Zuschauer, die bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in langen Schlangen warteten, um die Schachweltmeisterschaft verfolgen zu können, für ein volles Haus."
- Dylan Quercia, "D, But Still for Draw in World Chess Championship"
Auch online scheint der Wettkampf ähnlich erfolgreich zu sein:
"...mit etwa einer halben Million Zugriffen auf die offizielle Webseite nyc2016.fide.com allein in den ersten 48 Stunden ("Unsere Partnerseiten nicht mitgezählt," ergänzt Agons Kommunikationschef Murray-Watson) scheint in dem Pay-per-View Modell, das die Organisatoren favorisieren, die Zukunft des Spitzenschachs zu liegen…"
Aber bleibt dieses Interesse auf die drei Wochen des Weltmeisterschaftskampfes beschränkt oder kann das Spitzenschach auf diesen Erfolgen aufbauen?
In "How America Forgot about Chess" meint der Autor, dass ein Grund für das mangelnde Interesse Amerikas am Schach der "Mangel an interessanten Geschichten und charismatischen Spielern" sein könnte.
Aber auch das ändert sich. Es gibt viele Gründe, warum Amerikas Mainstreampublikum den Weltmeister und den Herausforderer zugänglicher finden könnten als Spieler früherer Generationen.
Magnus Carlsen bei der Eröffnung des WM-Kampfs, Plaza Hotel, New York City, November 2016
Carlsen und Karjakin sind beide Mitte Zwanzig. Tatsächlich war der Altersdurchschnitt bei Weltmeisterschaftskämpfen noch nie so niedrig. So veröffentlichte die New York Times ein Porträt Karjakins unter dem Titel "A Baby-Faced Chess Grandmaster Meets His Match".
Beide Spieler passen gut zur heutigen Fitness-Kultur und legen Wert auf Sport. Am ersten Ruhetag spielte Carlsen Basketball in einem Park in New York und Karjakin trainiert mit der Tennisspielerin Anna Chakvetadze, die in den U.S.-Open einmal im Halbfinale stand.
Außerdem sind Carlsen und Karjakin beide charismatisch und lachen und lächeln viel während der Pressekonferenzen nach den Partien.
Alles in allem scheinen Agons Hoffnungen, durch das Match neue Zuschauer für das Schach zu gewinnen, gut begründet zu sein. Schon bald wird das Publikum Gelegenheit haben, die beiden Rivalen noch besser kennenzulernen.
Magnus - Der Mozart des Schachs, ein Dokumentarfilm über Carlsens Leben und die Schachwelt, feierte im Frühjahr beim Tribeca Film Festival in Manhattan erfolgreich Premiere.
Und Karjakin ist im Februar wieder in New York, um das Kinderhelfswerk der Vereinten Nationen mit einer Simultanveranstaltung zu unterstützen.
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