Vlastimil Hort: Leonid Stein

von Vlastimil Hort
23.05.2019 – Leonid Stein war ein fantastischer Spieler, allerdings vom Glück nicht verfolgt. Vlastimil Hort kannte ihn persönlich und berichtet von seinen Erlebnissen mit dem genialen Schnellspieler. | Foto: Alina l'Ami

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Leonid Stein, ein „Speedy Gonzales“ - wie die bekannte Figur aus dem amerikanischen Comic?

Meines Erachtens passt diese Titulierung besser auf den jungen Vishy Anand. Der indische Schach-Gigant war in seinen jungen Jahren dafür bekannt, dass er seine verzweifelten Gegner immer wieder in Zeitnot brachte. In einem Artikel von André Schulz konnte ich jedoch lesen, dass auch Leonid Stein für seine „schnelle Hand“ berühmt war. Der sehr begabte, unbekanntere ukrainische Meister zeigte seine Schnelligkeit und Spielstärke schon mit 10 Jahren. Im Unterschied zu seinen nachdenklicheren Gegnern verbrauchte er in einer Turnierpartie meist nur 20 Minuten!

Leonid Stein, Amsterdam 1964 | Foto: Dutch National Archive

Nein, auf Rosen war Leonid Stein keineswegs gebettet. Auch im Kuchen des Lebens waren für ihn keinerlei Rosinen versteckt, die er hätte rauspicken können. An einer Herzkrankheit leidend, wahrscheinlich ein Überbleibsel von Unterernährung während des Zweiten Weltkrieges, erschien er zu den meisten Turnieren oft ziemlich blass und erschöpft.

Wir trafen uns bei vielen Schachevents. Wobei wir uns zuerst in die Haare bekamen, dann aber freundschaftlich näher.

Meine nachfolgenden, authentischen Schachanekdoten zeigen seine menschenfreundliche und ehrliche Art im Umgang mit seinen Kollegen.

Richtig, richtig, aber umgekehrt

Keiner der ausländischen Spieler war im Grunde mit dem Ergebnis und den Turnier-Bedingungen zufrieden. Die neue, junge englische Generation formierte sich gerade, oder saß noch in den Schulbänken. Darüber hinaus war im Turnier alles sehr spärlich  - im Victoria Hotel gab es nur „Breakfast & Dinner“. Den Lunch ließen die Organisatoren ausfallen.

Leonid Stein sehnte sich unbändig nach einem modernen, westlichen Anzug und ich war einverstanden, ihm als Dolmetscher zu dienen. Wir gingen zum nächstbesten Herrenausstatter. In England haben sie alle durchgängig Qualität. Leonid stürmte gleich zum Regal mit den edlen Anzug-Kombinationen. Hose, Jackett und Weste. Die Weste hatte es ihm besonders angetan! Stolz wie ein Pfau präsentierte er sich in seinem neuen Outfit. Aber ach du Schreck, er hatte die Weste verkehrt herum angezogen, alle Knöpfe hinten und offen.  Der Verkäufer blieb ganz Gentlemen als er gebeten wurde, ihm beim Zuknöpfen zu helfen und wies ihn, ohne eine Miene zu verziehen, auf den Fehler hin. Ich musste mich allerdings fest in den Arm kneifen, um nicht lauthals loszulachen.

In dieser mehr lustigen als peinlichen Situation kam mir der Spruch von Bogoljubow „Richtig, richtig, aber umgekehrt“ in den Sinn. Es war eine von Bogoljubows Eigenarten, seine unglücklichen Gegner gleichzeitig zu loben und zu tadeln.

Leonid Stein kaufte schließlich den Anzug mit der Weste und spendierte mir zum Dank eine Tasse heißen englischen Tee. Während wir uns bei jedem Schluck des köstlichen Tees ein wenig mehr aufwärmten, erzählte er mir sein seltsames Erlebnis vom Bajkalsee aus dem Jahr 67:

„Eines Tages bekam ich eine Einladung zum Simultan aus dem tiefsten Sibirien. Warum nicht, sagte ich zu mir? Ein wenig später erhielt ich sogar noch einen Anruf. Es war die Sekretärin des Veranstalters. Sie hatte den Auftrag, die schon guten Konditionen noch zu verbessern, um mir ein Nein unmöglich zu machen. Jetzt war ich sehr neugierig. Der Veranstalter, so stellte sich heraus, der Direktor vom Holz-Kombinat, war zwar ein begeisterter Schachspieler, leider aber ein schlechter Verlierer. So wurde ich schon im Vorfeld gebeten, unbedingt darauf Rücksicht zu nehmen.

Als Sponsor war er sehr generös. Ich durfte bereits ein paar Tage früher zum „Tatort“ reisen. Während viele Geschenke und Bonifikationen auf meinen Kopf regneten, genoss ich das angenehme Ambiente sehr. So in Watte gepackt, war ich gerne damit einverstanden, meinen Sponsoren mit Samthandschuhen anzufassen. Es war schwer! Der Direktor hatte nämlich nur wenig Ahnung vom Schach und nach endlos langem Partieverlauf war ich erleichtert, seinen König endlich ins Netz vom ewigen Schach zu jagen. Unentschieden!

„Verdammt und zugenäht“, fluchte mein Gegner nach der Partie. “Ich habe schon mit Botwinnik, Karpov, Spassky und anderen berühmten Großmeistern gespielt. Immer nur remis! Wieso kann ich nicht endlich eine Partie gewinnen?“ Ich biss mir fest auf die Zähne, um bloß kein unbedachtes Wort rausschlüpfen zu lassen und nahm den nächstmöglichen Zug nach Moskau, um diese schrecklich zähe Partie schnellstens zu vergessen.“   

Kollegen

Das Interzonenturnier in Sousse 1967. Während des Turniers wurden von der FIDE neue Großmeister ernannt. Eduard Gufeld (UdSSR), Sekundant von Leonid Stein, war einer von den neuen Titelträgern.

Ich war Zeuge der folgenden Szene am Swimmingpool des Hotels. Gufeld, zwei Flaschen Krimsekt unter dem Arm und einige Dosen mit echtem russischem Kaviar in den Taschen, sah recht beschwipst, die Welt nur noch in rosaroten Farben. Er näherte sich leicht schwankend der nächstbesten Person am Pool. Es war Viktor Kortschnoi. „Viktor Lvovic, jetzt sind wir endlich Kollegen. Darf ich Sie zu einem kleinen Umtrunk einladen?“ Kortschnois niederschmetternde Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Wir zwei Kollegen? Niemals! Kollege können Sie Mato Damjanović nennen, nicht mich!“

Am nächsten freien Tag nahm ich mir ein Taxi und ließ mich zum Wochenendbasar fahren, wo es auch Kamele geben sollte. Die abgebrochene Partie Stein-Hort sah für Schwarz sehr verdächtig aus. Um mich abzulenken, ging ich zu den Kamelen und ließ mich auf eines von ihnen heraufheben. Sich an seinem Höcker festzuhalten, bringt Glück, dachte ich bei mir. Am nächsten Morgen verpasste Stein den Gewinn und verlor schließlich sogar das Remis-Endspiel. Hat er vielleicht zu lange und zu intensiv mit seinem neuen Kollegen Gufeld gefeiert? Oder war mir das Kamel besonders wohl gesonnen? Ich werde es nie mehr erfahren!

 

Schnelle Finger!

Leonid war vor allem ein Spieler. Wäre er früher geboren, hätte Dostojewski ihn möglicherweise zur Hauptfigur seines Romans „Der Spieler“ gemacht. Stein kannte sich in fast allen Spielen bestens aus. Zu einer Bridge-Runde war er auch während der Schachturniere immer bereit. Sein Zigarettenkonsum stieg dann aber ins Unermessliche.

Leonid Stein | Karikatur: Otakar Mašek

Viele, kleine Turniere hat er gewonnen. Eines davon auch in Zagreb 1972. Nach der Preisverleihung wollte er unbedingt seinen Sieg mit uns feiern. Er hatte uns, Mato Damjanović, Dražen Marović und mich, in ein kleines, für gutes Essen berühmtes, Restaurant eingeladen. Zum krönenden Abschluss wollten wir nach dem Essen eine Runde Bridge spielen.

 

Unterwegs erzählte ich, aus welchen Gründen auch immer davon, wie gefährlich es auf dem Balkan sei, das Geld im Hotelzimmer liegen zu lassen. Und noch mitten in meinem Vorschlag, alle Wertsachen am besten im Hotelsafe zu deponieren, fasste sich Leonid aufgeregt an den Kopf, verdrehte die Augen: „Ohje, ohje, hoffentlich ist es noch nicht zu spät!“ Drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in Windeseile in Richtung Hotel.
Wir warteten und warteten im Restaurant …vergebens. Hatte uns der Turniersieger und Gastgeber etwa vergessen?

Wie sich später herausstellte, genügten der offensichtlich gut unterrichteten Diebesbande gerade mal 20 Minuten. Sie fanden den Umschlag im abgeschlossenen Koffer, tief vergraben in der Wäsche. Schnell, Schneller, am Schnellsten! Kein Essen, kein Bridge! Der erste Preis war futsch!

Leonid schilderte uns sein Unglück in allen Details. Gott sei Dank aber hatte die Polizei ihm ein offiziell abgestempeltes Protokoll des Vorgangs ausgehändigt. „Vlastimil, wird mir unser Schachverband glauben?“ Wenn nicht, hätte das für ihn fatal enden können.

Ich wusste schon damals, dass er sehr herzkrank ist und versuchte ihn daher mit allem erdenklichen Zuspruch zu beruhigen.

In seiner besten Zeit, Mitte der 60iger Jahre, zählte Stein zu den weltbesten Schachspielern. 1963, 1965, 1966 konnte er dreimal die Meisterkrone der UdSSR erobern. Sein Angriffsstil sowie sein guter Riecher in königsindischen Stellungen bleiben unvergesslich.

Irgendeine Hexe muss ihn mit ihrem Spruch „Dreimal schwarzer Kater“ allerdings zum Pechvogel gemacht haben, denn bei drei seiner Interzonenturniere war er vom Unglück verfolgt.

In Stockholm 1962 und in Amsterdam 1964 scheiterte er an der für sowjetische Teilnehmer vorgesehenen Quote.

Interzonenturnier Amsterdam 1964: Stein gegen Smyslov. Tajmanov und Lilienthal schauen zu, dahinter Ivkov. | Foto: Dutch National Archive

In Sousse 1967 kämpften wir zu dritt, Reshevsky, Stein und ich um den letzten freien Platz in Los Angeles. Stein war damals ganz klarer Favorit, blieb aber leider ante portas! Nach 8 Runden hatten wir drei alle 4 Punkte. Nur Reshevsky konnte sich mit 8 Remisen, wegen bestem Sonnenborn in Sousse, qualifizieren.

 

 

 

… Weiterhin vom Pech verfolgt. Vor allen internationalen Schachevents im Ausland hatte sich die sowjetische Schachmannschaft in Moskau zu versammeln. So auch vor der Europameisterschaft in Bath (England 1973). Eine Ausreise in den Westen war für einen sorgenden Familienvater, wie Stein, ein Leckerbissen! Konnte er dort doch für seine Lieben die heiß ersehnten westlichen Produkte ergattern. Hotel Rossija in Moskau. Unserem Pechvogel ging es zu dieser Zeit gesundheitlich überhaupt nicht gut. Sein Herz machte ihm sehr zu schaffen – eigentlich hätte er im Bett bleiben müssen, aber der menschliche Wille ist oft stärker als die Vernunft. Der Notarztwagen kam im allerletzten Moment.

Die offizielle Meldung … „Leonid Sacharowitsch Stein starb am 4 Juli 1973 an einem Herzinfarkt“. Für alle viel zu früh, besonders für seine Frau und seine beiden kleinen Kinder.

Leonid Steins Grab

1983 in Dortmund sammelte Gufeld jedenfalls Geld, um Steins Witwe und ihre Kinder zu unterstützen. Soweit ich weiß, waren wir, die Turnierteilnehmer auch alle spendabel.

Seit 1973 kursieren über Steins Tod die unterschiedlichsten Geschichten in der Schachwelt. Damals in Dortmund erzählte Gufeld mir seine Version des Vorfalls: „Ich bin ganz sicher, eine Medizinstudentin aus dem letzten Semester injizierte Stein ein falsches Medikament. Der Tod kam innerhalb von 30 Sekunden. Was für ein Pechvogel!“

Gufeld bot mir in Dortmund schon vor und auch während der Partie ein Remis an, die ich beide aber stolz ablehnte. So verlor ich mit Pauken und Trompeten. Das aber wäre eine ganz andere Geschichte!


Ehemaliger Weltklasse-Spieler, WM-Kandidat, vielfacher Autor und bekannter TV Schachmoderator.

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