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Wie denken Sie über Ludek Pachman? Diese Frage bekomme ich heute noch immer sehr oft gestellt. Auch ein User der englischen Ausgabe von Chessbase News, Mr. Anandymous, wünschte sich in seinem Kommentar vom 17. Februar 2018 um 4 Uhr 39 von mir einen Beitrag zu Pachman:
"Mr. Hort, looking forward to a multi-part report on Pachman."
Yes, Mr. Anandymous. Now, I´ll do it!
Der junge Ludek Pachman, gezeichnet von Otokar Masek
Wahrscheinlich bin ich der letzte lebende Schachzeuge, der authentisch über Ludek Pachmans Taten berichten kann. Es gab eine Vielzahl von Situationen, bei denen sich unsere Wege kreuzten. Objektivität ist ein Ideal der Philosophie und der Wissenschaften. Ich kann nur versuchen, die Ereignisse aus meiner Sicht wahrheitsgemäß darzustellen.
Pachman war eine äußerst komplizierte Persönlichkeit. Gab es oder gibt es überhaupt jemanden, der den aktiven Marxisten, späterhin bekennenden Katholiken, wirklich gut gekannt hat? Für mich schwer vorstellbar. Vielleicht nur seine Ehefrau Eugenie, mit der er in einer kinderlosen, aber glücklichen Ehe bis zu seinem Tode verbunden blieb.
Man kann nicht behaupten, dass wir uns sehr mochten. Wir respektierten uns jedoch, bei all unseren Schachbegegnungen. So, wie seine große Fangemeinde, war auch ich froh, als er 1968 sein Schicksal endlich in die eigenen Hände nahm und sich von den utopischen Ideen des Kommunismus lossagte. Einmal für immer! In unseren Meinungen und Einstellungen zum Leben und zum Schach lagen wir immer weit auseinander. Als moderater Vertreter eines gesunden Kompromisses war und bin ich für eine Win-Win-Lösung beider Seiten, nicht so Ludek Pachman. Er blieb bis zum Schluss kompromisslos in seinen Ansichten. Beide waren wir allerdings Emigranten, die in einer neuen Heimat, Zufriedenheit und Harmonie suchten.
A new star was born…
Die nun folgende Geschichte erzählte mir Ctibor Kende, Schachjournalist und Organisator, an einem noch herbstlich warmen Sonntag in Kladno. Ich traf ihn dort im September 1959. Er liebte die Schachszene und ihre Akteure immer noch genauso sehr wie in seinen aktiven Jahren, als er der Meisterschaft von Böhmen und Mähren (1940) sowie zwei starken Events in Prag (1942 und 1943) Leben eingehaucht hatte.
Er hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Wir saßen in seiner Wohnung in Kladno-Krocehlavy und ich, damals noch ein fünfzehnjähriger Gymnasiast, hatte meine Ohren gespitzt und hörte ihm gebannt zu. Seine Erzählungen haben mir im Schach ganz neue Dimensionen eröffnet.
"Vlastimil, das Geld ist immer zu mir gekommen, ich habe es nie gesucht. Allerdings wusste ich immer, wann und an welche Türe ich klopfen musste, um etwas zu erreichen. Im Jahre 1943 spielten wir ein Osterturnier im Hotel Palace. Es war das kulturelle Ereignis in Prag. Ich war Turnierdirektor; hatte das Turnier organisiert. Doch, oh Schreck, nach der feierlichen Eröffnung musste ich feststellen, dass mir ein Spieler fehlte." Nach dieser Einleitung nahm Kende erstmal einen kräftigen Schluck aus seiner Hennessy-Flasche.
"Im Palace Hotel, auch heute noch die beste Adresse, hatte ich sogar ein eigenes Büro. Schon damals trank ich nur, wie jetzt auch, den besten Cognac und rauchte die teuersten kubanischen Zigarren." Dabei zeigte er auf den übervollen Aschenbecher, der jetzt auf dem Tischchen vor ihm stand.
"Gerade als ich mir meine Corona mit einem Tausendmarkschein (Reichsmark) anzünden wollte, klopfte es an meine Bürotür. Draußen war es noch eisig kalt, genau das richtige Wetter, um am Kamin zu sitzen und Schach zu spielen." Wieder trank Kende, wahrscheinlich um sich die Kehle zu ölen oder die Spannung zu erhöhen, ein kleines Schlückchen Cognac.
"Vor mir stand ein mir unbekannter Junge, völlig durchnässt und zitternd vor Kälte. Keine, für dieses mieses Wetter geeigneten Schuhe trägt der Junge, dachte ich bei mir. Um mich zu sehen, war er offensichtlich von seinem kleinen Dorf bis nach Prag zwanzig Kilometer zu Fuß gelaufen. Ich bot ihm Platz und die Gebäckreste an, die noch auf dem Schrank standen. In Windeseile hatte er alles verputzt. Er bot mir an, jede Hilfsarbeit zu verrichten, zum Beispiel Figuren aufstellen, Tische und Turniersaal reinigen, Aschenbecher leeren, nur um beim Turnier dabei sein zu können. Laufbursche und Mädchen für alles, für nichts wäre er sich zu schade, sagte er. Das einzige was er brauche, sei eine bescheidene Schlafmöglichkeit."
Kende machte wieder eine kleine Pause und nahm sich die nächste Corona aus seiner edlen Zigarrenkiste. Ich hing sprichwörtlich an seinen Lippen und wartete, wie auf heißen Kohlen, wie es wohl weiterging.
"Ich hatte, Vlastimil, an diesem Tag sehr gute Laune und als ich mir den Jungen so ansah kam mir blitzartig auch eine tolle Idee! O.K., junger Mann, Sie haben großes Glück, denn mir fehlt im Turnier noch ein Spieler. Wir werden jetzt vier Blitzpartien spielen und sollten Sie wider Erwarten das Match gewinnen, werde ich Sie morgen der Öffentlichkeit als neues großes Talent präsentieren. Gesagt, getan. Ich hätte niemals mit dem Ergebnis gerechnet – ich verlor alle vier Partien! "A New Star was born"! Wer war es, Vlastimil?"
Ich gebe diese Frage gerne an meine Leser weiter. Gut geraten!? Der spätere Internationale Großmeister, siebenmalige Champion der CSSR, berühmte Publizist, Theoretiker und Politiker Ludek Pachman (1924 – 2003) hatte hier seine erste große Vorstellung gegeben!
Ludek Pachmann, 1943
Das Turnier 1943 in Prag war für den jungen Pachman ein Glücksfall. Es gelang ihm, zwei der stärksten tschechischen Meister, nämlich Opocensky und Foltys, zu schlagen. Pachman schrieb später folgendes darüber: "Durch diese Siege gewann ich die Anerkennung von Weltmeister Aljechin und wurde danach fast nach jeder Runde zur Analyse in seine Hotelsuite eingeladen. Leider war mir die siamesische Katze von Madame Aljechin nicht besonders freundlich gesonnen. Ein paar deftige Kratzer waren das Ergebnis. Zudem ertrug Aljechin kaum Widerspruch, so dass ich mich neben meinen Blessuren nur aufmerksam und fast devot aufs Zuhören konzentrieren konnte."
Nicht schlecht, Herr Specht! Pachman wurde nach dem Turnier gleich als interessanter Kommentator und Theoretiker im Prager Schachmilieu willkommen geheißen. Inzwischen ausgestattet mit neuem Schuhwerk, stand einer bemerkenswerten Schachkarriere nichts mehr im Wege. Seine andere, "rote" Karriere, begann nach dem kommunistischen Putsch im Februar1948.
Obwohl ich ihn über 40 Jahre kannte, blieben seine Lebensphilosophie und seine Weltanschauungen große, ungelöste Rätsel für mich. Was mir schon als junger Schachlehrling auffiel, waren sein unbändiger Drang den "einzig richtigen" Zug zu finden, und das um jeden Preis. Was wollte er der nachfolgenden Generation damit vermitteln? Schluss mit der Romantik, im Schach gibt es keinen Zufall – alles muss in der systematischen Vorbereitung und Analyse vorhergesehen werden?
Sein dogmatischer Glaube an den "einzig richtigen" Zug verstärkte sich mit den Jahren noch und hat seinen Schachstil leider sehr beeinflusst.
Europameisterschaft in Oberhausen, 1961 – Hort-Keres. In meiner Erinnerung kam mir mein Gegner vor, wie aus dem Modejournal entsprungen. Bestens rasiert, parfümiert und in edlem Anzug mit Krawatte und Krawattennadel. Sein Deutsch war perfekt. Mit ruhiger Hand notierte er in langer Notation und Schönschrift die Züge. Er blieb Gentlemen auch in meiner Zeitnot und hämmerte nicht wie wild auf der Uhr herum.
Nach meiner Rückkehr aus Oberhausen begrüßten mich meine Prager Kumpane mit einem verschmitzten Lächeln. Warum? Großmeister Ludek Pachmann hatte die Partie in der Tschechoslowakischen Sportzeitung mit folgendem Satz "… nach Keres Damenopfer fiel der talentierte Hort vom Stuhl…" kommentiert. Dieser Satz ging durch die Prager Schachszene. So ungefähr entstehen gelungene Schachanekdoten.
Doch wie war es wirklich? Keres opferte die Dame schon im 35. Zug. Nach dem 40. Zug wurde die Partie, wie damals üblich, abgebrochen. Während ich über den Abgabe-Zug nachdachte, ganze 45 Minuten, schaukelte ich Zeit und Raum vergessend auf meinem Stuhl hin und her. Plötzlich verlor ich das Gleichgewicht und landete auf meinem Hosenboden. Wie sich später herausstellte, war mein 41. Zug ein Verlustzug. Keres bekam für diese Partie den Schönheitspreis.
Gligoric-Pachman, Oberhausen 1961
Während der Schacholympiade 1964 in Tel Aviv konnte ich Ludek Pachman besser kennenlernen, denn wir teilten uns ein Zimmer im Hotel Hilton. Ich hatte die Angewohnheit, vor der Partie zu schlafen. Pachman dagegen lief, um sich besser vorbereiten zu können, wie ein junger Tiger im Zimmer auf und ab. Für die Partie gegen Portisch mit Weiß hatte er sich so auch mehrere Stunden vorbereitet. Kurz vor Spielbeginn, als ich ihm zu erklären versuchte, dass die Partie am besten im Mittelspiel entschieden werden sollte, hatte ich jedoch das Gefühl, dass er bereits den roten Faden seiner Vorbereitung verloren hatte.
Salo Flohr war der eigentliche Gründer und geistige Vater der "tschechischen" Schachschule. Zu Anfang kopierte Flohr noch stark Capablancas Spielcharakter. Vor allem dessen Sicherheitsdenken und hervorragende Technik. Eigene Offensive war nicht gefragt. Man nahm lieber einen Bauern, als ihn zu opfern. Filip und vor allem Pachman stützten sich später stark auf die Theorie. Es schien, dass ihre Partieanlagen eine sehr scharfe Spielausrichtung hatten. Irrtum!
Filip, Pachmann
Im vierten Semester meines Studiums an der VSE (High School of Economics) im Jahre 1964 schien mir ein Staatsexamen im Fach Marxismus-Leninismus, das zwangsläufig zu jedem Studiengang dazugehörte, unerreichbar. Die Genossin Rakova, meine Dozentin, ließ mich zweimal durchfallen. Mir blieb ein allerletzter Termin nach den Semesterferien im September.
Der "hinkende Teufel", wie wir sie insgeheim nannten, hatte für mögliche Klassenfeinde einen besonders guten Riecher. In meinem Fall lag sie da auch gar nicht falsch. Längst schon hatte ich meine Fühler nach Westen ausgerichtet. Ich schäme mich heute noch immer, dass ich selbst nicht den Mut hatte, das Studium von mir aus hinzuschmeißen.
Das Wetter war herrlich, ich lag am Swimmingpool und genoss den strahlenden Sonnenschein. Um mich herum lagen jede Menge Studienunterlagen, Vorlesungen, Vorträge und natürlich das Buch von Lenin "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück". Am Abend wartete auf mich ein vielversprechendes Rendevouz, Lenin´s Gedanken waren mir deshalb fremd, lästig und egal.
Ein Witz von Radio Erivan ging mir nicht aus dem Sinn: "Karl Marx und Friedrich Engels waren keine Wissenschaftler!" "Wieso", fragten die Zuhörer. "Wenn sie es nämlich gewesen wären, würden sie zuerst ihre Ideen an den Hunden ausprobiert haben!"
Vladimir Pachman, der sechs Jahre ältere Bruder von Ludek, war ein recht guter Schachkompositeur und zudem ein mächtiger Dekan der Marxistisch-Leninistischen Fakultät meiner Hochschule. Beide Brüder hatten damals den Ruf treue und zuverlässige Kommunisten des Partei-Kaders zu sein. Ludek, mein Kollege in der Schach-Nationalmannschaft, drohte in seinen Artikeln den Amerikanern und bot sich darinnen sogar an, Fidel Castro persönlich mit seinem "alten" Revolver an der Playa Girón aktiv zu unterstützen. Von der unwissenden Bevölkerung war er gefürchtet, weil er als Chairman bei den Kader-Kommissionen eine gewichtige Stimme hatte. "Hammer und Sichel" waren seiner Meinung nach die beste Option für unseren Planeten Erde, so jedenfalls schrieb er in seinen Leitartikeln in den gängigen Zeitungen der CSSR.
Nein, Vlastimil, kein "Vitamin B" und keine Protektion. Lass für dich das Schicksal entscheiden. Mit deinem phänomenalen Gedächtnis könntest Du auch ein hervorragender Kellner sein und so für deinen Unterhalt sorgen.
Der Prüfungstag näherte sich sehr schnell. "Ein Schritt vorwärts, zwei zurück" wurde für mich zum Alptraum. Wir, die Abstiegskandidaten warteten im Vorraum. Um mir die Wartezeit zu verkürzen versuchte ich mich an einer Studie von Vladimir Pachman.
Die Lösung 1. Lb6+ entdeckte ich in ein paar Minuten.
"Hort, Hort", mein Name wurde zweimal aufgerufen. Soll ich, oder soll ich nicht? Letzte Zweifel machten sich breit. Letztendlich aber betrat ich den Prüfungsraum. Schade!
Pachman und Fidel Castro in Kuba
Der siebenmalige tschechoslowakische Meister gehörte in den Jahren 1946-1966 zur Weltelite im Schach. Seine beste historische Elo-Zahl von 2695 erreichte er im Dezember 1959. Sechsmal nahm er an Interzonenturnieren teil, in Portoroz (1958) verpasste er sogar ziemlich knapp (Platz 7) den Einzug ins Kandidatenturnier. Er ist zudem einer der wenigen, die gegen Fischer ein ausgeglichenes Spielergebnis (+2=4-2) erzielten.
Fischer-Pachmann, Leipzig 1960
In allen von ihm gespielten Turnieren ist er immer unter den Preisträgern, mindestens aber mit einem Plus in der Turniertabelle zu finden. Nicht vergessen werden sollte auch seine Tätigkeit als Schachlehrer am Gymnasium in Altensteig. In den Jahren von 1985 – 1989 unterrichtete er dort interessierte Schüler im Fach Schach. Noch im hohen Alter spielte er leidenschaftlich Turnierschach. Im Jahre 1999, drei Jahre vor seinem Tod, spielte er bei der Seniorenweltmeisterschaft in Gladenbach mit. Als einer der bedeutendsten Schach-Theoretiker wird er, ähnlich wie Dr. Max Euwe vor ihm, ewig eine Autorität für Eröffnungen bleiben.
Teil 2 folgt in Kürze...