Vlastimil Hort: Paul Keres

von Vlastimil Hort
16.04.2017 – Von allen Weltklassespielern, die niemals Weltmeister wurden, war Paul Keres vielleicht der größte. Schach lernte er von seinem Vater und erlangte mit Hilfe des Fernschachs als Autodidakt sein großartiges Schachverständnis. Er gehörte über Jahrzehnte zur Weltspitze und war ein ausgezeichneter Theoretiker und Kommentator. Vlastimil Hort erinnert sich an seine Begegnungen mit dem großen Esten.

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Paul Keres, geboren 1916 – gestorben 1975. Ein Steinbock!

„Im Jahre 1928 besuchte ich Pärnu und gab eine Simultanvorstellung. Während des Spieles zog ein dunkelhaariger, 12jähriger Junge meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ich musste an seinem Schachbrett immer lange stehenbleiben, um nachzudenken. Es half mir nichts, alle meine Versuche, die Partie noch zu retten, scheiterten. Der Junge erntete schließlich den verdienten Applaus und fragte mich bescheiden, ob wir noch ein paar Blitzpartien spielen könnten. Ich verließ Pärnu mit der Überzeugung, dass ich mit dem zukünftigen Star der ersten Schachriege gespielt hatte.“ Der Internationale Meister Vladas Mikenas, der diese Entdeckung machte, hatte sich nicht geirrt!

„Schach habe ich sehr früh kennengelernt. Ich war noch keine fünf Jahre alt, als ich gemeinsam mit meinem Bruder zuschauen durfte, wenn mein Vater gegen das Dienstpersonal Schach spielte. Wir beiden Jungs wussten damals noch nicht, dass man eine Partie auch notieren kann. Nachdem wir Schach in Zeitschriften und Büchern entdeckt hatten, habe ich mir ein dickes Heft zugelegt, in dem ich meine eigenen Anmerkungen zu Eröffnungen und hunderten von Meisterpartien notierte. Zu dieser Zeit begann ich mit dem Fernschach und ich spielte 150 Fernschachpartien auf einmal (Welt wundere Dich! Anmerkung V.H.). Im Jahre 1929, mit ca. 13 Jahren, gewann ich die Juniorenmeisterschaft von Estland.“ Paul Keres

Mit 18 Jahren gewinnt der sehr begabte Paul Keres bereits die offizielle estnische Landesmeisterschaft. 1935, 1937, 1939 – Schacholympiaden. Estland hat ein sehr starkes erstes Brett mit hervorragenden Resultaten. „New star is born“. Während des zweiten Weltkrieges, annektiert Stalin 1940 das Baltikum. Aus dem estnischen Paul Keres wird der sowjetische Bürger Paul Petrowitsch Keres.

Estnischer Nationalheld, Paul Keres

Während des Schreibens schaue ich mit Bewunderung in Keres Buch „100 Partien“. Er konnte dafür auf eine Riesenauswahl zurückgreifen. Nach statistischen Quellen spielte er insgesamt 1.328 Turnierpartien (davon 952+, 188=, 188-). Faszinierend an seinem gesamten Score ist die niedrige Remisquote. Außer seinem aktiven Schach wurde er auch zu einem geschätzten Komponisten von Schachstudien und Aufgaben. Das Buch „100 Partien“ wurde in der UDSSR im Jahre 1966 publiziert. Es erschien aber auch in Estnisch und in Deutsch und ich beginne zu kapieren, dass Keres, der ewige Zweite und sechsmalige Teilnehmer an Kandidatenturnieren, ein viel größeres Schach-As gewesen ist, als ich dachte. Seine Anmerkungen zu diesen 100 Partien sind einfach weltmeisterlich!

Ich bekomme von Amateuren sehr oft die Frage gestellt: „Wie kann ich mich verbessern?“ Darauf antworte ich immer wieder gerne: „Versuchen Sie Ihre Partien so zu spielen, wie Sie eine Katze streicheln würden. Nämlich vom Kopf bis zum Schwanz und nie gegen den Strich. Wenn Sie dabei die 100 Partien aus dem Buch von Keres nachspielen und zusätzlich 150 Fernschachpartien wie er meistern, dann lässt ein großer ElO-Gewinn nicht lange auf sich warten.“

Ich fühle mich geschmeichelt, denn in dem Buch von Keres findet sich auch eine Partie Hort-Keres – Europameisterschaft in Oberhausen, 1961 (Nr. 91). In meiner Erinnerung kam mir mein Gegner vor, wie aus dem Modejournal entsprungen. Bestens rasiert, parfümiert und in edlem Anzug mit Krawatte und Krawattennadel. Sein Deutsch war perfekt. Mit ruhiger Hand notierte er in langer Notation und Schönschrift die Züge. Er blieb Gentlemen auch in meiner Zeitnot und hämmerte nicht wie wild auf der Uhr herum.

Oberhausen 1961, Hort (mit weißem Hemd). Tal und Petrosian schauen zu

Nach meiner Rückkehr aus Oberhausen begrüßten mich meine Prager Kumpanen mit einem verschmitzten Lächeln. Warum? Großmeister Ludek Pachmann hatte die Partie in der Tschechoslowakischen Sportzeitung mit folgendem Satz „… nach Keres Damenopfer fiel der talentierte Hort vom Stuhl…“ kommentiert. Dieser Satz ging durch die Prager Schachszene. So ungefähr entstehen gelungene Schachanekdoten.

Doch wie war es wirklich? Keres opferte die Dame schon im 35. Zug. Nach dem 40. Zug wurde die Partie, wie damals üblich, abgebrochen. Während ich über den nächsten Zug nachdachte, ganze 45 Minuten, schaukelte ich Zeit und Raum vergessend auf meinem Stuhl hin und her. Plötzlich verlor ich das Gleichgewicht und landete auf meinem Hosenboden. Wie sich später herausstellte, war mein 41. Zug ein Verlustzug. Keres bekam für diese Partie den Schönheitspreis.

Hort-Keres, Mannschaftseuropameisterschaft, Oberhausen 1961, mit den Kommentaren von Pauls Keres:

 

1965 begegneten wir uns beim Internationalen Turnier in Marienbad wieder. Das Turnier galt in Zeiten der kommunistischen Ära als das am stärksten besetzte Turnier der Tschechoslowakei. Ich hatte die Ehre den ersten Platz mit Keres zu teilen.

Während der Tschechoslowakischen Meisterschaft in Luhacovice 1969 spielten wir auch Tennis. Keres und ich waren im Doppel ein starkes Team. Er hatte einen ausgezeichneten Service. In dieser Sportart haben wir uns hervorragend ergänzt und hatten eine Vielzahl begeisterter Zuschauer.

Paul Keres, ausgezeichneter Tennisspieler

Interzonenturnier Petropolis 1970. Ich konnte nicht schlafen und ging recht früh am Morgen spazieren. Als ich zum Swimmingpool kam, sah ich dort schon eine in Decken gehüllte Gestalt liegen. Es war Keres. Wir kamen ins Gespräch, wie zwei gute alte Kollegen. Er konnte auch nicht schlafen und in der Turniertabelle war er sehr weit von der Qualifikation entfernt. Von seiner schweren Gicht sehr gezeichnet, zeigte er mir seine geschwollenen Gelenke. „Junger Mann, ich kann mich gar nicht konzentrieren, besser ich wäre überhaupt nicht zum Turnier gekommen.“ Seine Aussage und sein Leid machten mich damals sehr traurig.

Derselbe Keres gewinnt im Jahre 1975 ganz souverän ein starkes Turnier in Tallin, welches die estnische Schachföderation zu seinem bevorstehenden sechzigsten Geburtstag veranstaltete. Er durfte die Teilnehmerliste dieses Turnieres selbst zusammenstellen und meine Freude war groß, als auch ich eine Einladung erhielt.

Talinn 1975

Rg. Titel Name Land ELO 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Pkt. Perf. Wtg.
1 GM Paul Keres
 
2580   ½ ½ ½ ½ ½ 1 ½ 1 ½ ½ 1 1 1 1 ½ 10.5 / 15 2476  
2 GM Boris Vasilievich Spassky
 
2548 ½   ½ ½ 1 ½ ½ ½ 0 1 ½ ½ ½ 1 1 1 9.5 / 15 2426 66.50
3 GM Fridrik Olafsson
 
2373 ½ ½   ½ ½ 0 ½ ½ ½ 1 ½ 1 1 1 1 ½ 9.5 / 15 2436 65.00
4 GM David I Bronstein
 
2432 ½ ½ ½   ½ ½ 1 ½ ½ 0 1 ½ ½ 1 1 ½ 9.0 / 15 2409 64.25
5 GM Vlastimil Hort
 
2423 ½ 0 ½ ½   1 0 ½ ½ ½ ½ ½ 1 1 1 1 9.0 / 15 2410 60.00
6 GM Aivars Gipslis
 
2429 ½ ½ 1 ½ 0   ½ ½ ½ ½ ½ ½ ½ ½ 1 1 8.5 / 15 2385 60.25
7 GM Mark E Taimanov
 
2386 0 ½ ½ 0 1 ½   ½ ½ ½ 1 1 ½ ½ 1 ½ 8.5 / 15 2387 59.25
8 GM William James Lombardy
 
2435 ½ ½ ½ ½ ½ ½ ½   ½ ½ 0 1 1 1 ½ 0 8.0 / 15 2361 58.00
9 GM Drazen Marovic
 
2445 0 1 ½ ½ ½ ½ ½ ½   1 0 ½ ½ ½ ½ 1 8.0 / 15 2361 57.75
10 IM Iivo Nei
 
2369 ½ 0 0 1 ½ ½ ½ ½ 0   ½ ½ 1 1 ½ 1 8.0 / 15 2366 54.00
11 GM Lutz Espig
 
2259 ½ ½ ½ 0 ½ ½ 0 1 1 ½   ½ 0 1 0 1 7.5 / 15 2349  
12   Boris Rytov
 
1621 0 ½ 0 ½ ½ ½ 0 0 ½ ½ ½   1 0 ½ ½ 5.5 / 15 2297  
13 IM Hillar Karner
 
2251 0 ½ 0 ½ 0 ½ ½ 0 ½ 0 1 0   0 ½ 1 5.0 / 15 2230 35.50
14 GM Yrjo A Rantanen
 
2283 0 0 0 0 0 ½ ½ 0 ½ 0 0 1 1   ½ 1 5.0 / 15 2228 29.25
15 GM Levente Lengyel
 
2293 0 0 0 0 0 0 0 ½ ½ ½ 1 ½ ½ ½   ½ 4.5 / 15 2201  
16 GM Roman Hernandez Onna
 
2375 ½ 0 ½ ½ 0 0 ½ 1 0 0 0 ½ 0 0 ½   4.0 / 15 2167  

Partien von Runde 1 bis 15

 

Spassky, Keres, Olafsson

Einen Abend zu zweit in seiner Luxusvilla am Rande des Waldes werde ich nie vergessen. Wir tranken langsam aber sicher seinen besten Whisky und ich versuchte bei dieser Gelegenheit ihm einige seiner Geheimnisse zu entlocken.

Sehr gerne zeigte er mir seine Schachkompositionen, aber als wir zu den politischen Themen kamen, schwieg er wie ein Grab. Stattdessen erzählte er mir in fehlerfreiem Deutsch einige Schachanekdoten, unter anderem sein Erlebnis mit Savelij Tartakower, der ihn auf dem Schiff zur Schacholympiade nach Buenes Aires (1939) fragte: „Junger Mann, sind wir am Meer oder am Weniger?“

Team Estland in Buenos Aires, 1939

Vor kurzem war bei uns Robert Hübner, der die Kochkünste und literarischen Ambitionen meiner Frau sehr zu schätzen weiß, zu Gast. Beim anschließenden Kaffee kamen wir auf das Buch von Keres zu sprechen. Robert Hübner besitzt dieses in einer schlechten deutschen und einer guten estnischen Übersetzung. Auch seiner Meinung nach sind die Kommentare von Keres innerhalb der gesamten Schachliteratur sehr hoch anzusetzen.

Die Fragen, die sich aus der Annexion des Baltikums ergaben, konnten wir beide auch nach 77 Jahren nicht lösen. Musste oder konnte Keres nur Zweiter werden? Hat Botwinnik bei Stalin für ihn ein gutes Wort eingelegt? Viele estnische Mitbürger sind aus Sibirien nicht mehr zurückgekehrt. Verdächtig bleiben zwei Partien Botwinnik-Keres aus dem Weltmeisterschaftsturnier 1948.

Mit einem Lächeln von Mona Lisa schaut der unvergessliche Kronprinz von der estnischen Banknote in die Welt und lässt uns in Ungewissheit zurück.

Paul Keres auf der estnischen 5 Krooni Banknote

Keres gab mir eine Weisheit mit auf den Weg, seltsamerweise in Russisch, die ich hier ins Deutsche übersetzt weitergebe: „Junger Mann, in jeder Stellung wird sich ein Zug finden – nur suchen müssen Sie ihn!“

 


Ehemaliger Weltklasse-Spieler, WM-Kandidat, vielfacher Autor und bekannter TV Schachmoderator.

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