Svetozar Gligorić
„Ich bin viel älter als du, aber unsere Charaktere sind sich sehr ähnlich. Deshalb freue ich mich, dass gerade du eine umfangreiche Biographie über mich schreiben wirst.“
Gliga
Miroslav Nesić, ein serbischer Sportjournalist und Schachliebhaber verbrachte mit Balkans Nummer eins, Svetozar Gligorić (1923 – 2012), eine Unmenge an gemeinsamer Zeit. Und während Gligo erzählte, sammelte, fragte und notierte Nesić fleißig alle die Besonderheiten aus dessen Schachleben.
Gligoric und Nesic | Fotoquelle: Pričao mi Gliga
Gut Ding will Weile haben – so dauerte es lange, bis das gelungene literarische Werk „Pričao mi Gliga“ (Es erzählte mir Gliga …) das Licht der Welt erblicken konnte.
„Pričao mi Gliga“
Der Schachheld aus Belgrad hat seine Erinnerungen dem fähigsten Journalisten übergeben. Das gelungene Ergebnis dieser Zusammenarbeit ist in jeder Zeile zu spüren. Ich glaube nicht, dass es eine englische oder gar deutsche Übersetzung dieses Buches gibt. Zumindest ist mir davon nichts bekannt. So bin ich dem Schicksal dankbar, dass ich während der Turniere in Gligas Heimat fleißig serbokroatisch lernen konnte. Die interessantesten Passagen des Buches verknüpft mit meinen persönlichen Erinnerungen will ich gerne mit den Chessbase-Lesern teilen.
Kurz vor Gligas 90igstem Geburtstag erschien dieses Buch posthum. Am 2. Februar 2019 wäre er 96 Jahre geworden. Ein Grund, ihn nachträglich zu feiern und hochleben zu lassen.
„Nach dem viel zu frühen Tod meines Vaters, fand meine Mutter zum Glück eine Arbeit beim Postamt. Leider wurde auch sie bald schwer krank und so musste sie mich am 1. November 1940 auf dieser Welt ganz alleine zurücklassen.
Schon als Gymnasiast hatte ich recht gute Resultate im Schach erzielt, so dass ich mich 1939 auch für die Landesmeisterschaft der Amateure in Agram qualifizieren konnte. Zur allgemeinen Überraschung kam ich als erster durchs Ziel und konnte es selbst kaum glauben.
Kurz darauf erhielt ich ein Telegramm von Dr. Milan Vidmar mit folgendem Text „Ich gratuliere meinem Nachfolger!“
Als 'rising star' war ich plötzlich ein sehr gefragter Sparingpartner für everybody. Die besten Blitzspieler von Belgrad und Umgebung ließen nicht lange auf sich warten, um sich mit und an mir zu messen. Viele Schnell-Partien wurden gespielt, immer mit einem Wetteinsatz von 2 Dinars.
Am Ende des Tages hätte ich mir viele Ćevapčići leisten können, behielt aber nach dem ich mich satt gegessen hatte, lieber noch einen Rest des Gewinns in der Tasche.
Meine Schachkarriere musste allerdings noch warten. Mit Ausbruch des zweiten Weltkrieges verließ ich mit vielen meiner Landsleute Belgrad in Richtung Monte Negro. Die italienische Zone war für uns alle das kleinere Übel.
1943, im Sommer, schloss ich mich dort den Partisanen an. Als „Prvoborac“ (Vorkämpfer) bediente ich die kleinen Kanonen.“
(Der Text wurde von mir frei übersetzt aus „Pričao mi Gliga“.)
Beim Lesen des Buches wird deutlich, wie bedingungslos Gliga Marshall Josip Broz Tito folgte und wie sehr er mit dessen politischer Linie sympathisierte.
Gliga und ich, zwei seelenverwandte Slawen, verstanden uns immer glänzend. Seine Frau Dana solidarisierte sich nach dem Einfall der Armee der Warschauer Pakt Staaten im Jahre 1968 sogar voll und ganz mit meinem tschechischen Volk.
Wie und wo waren die beiden, Dana und Svetozar, sich eigentlich zum ersten Mal begegnet? Sein Schachfreund Ludajić hatte sich in den Kopf gesetzt, Gliga unbedingt unter die Haube zu bringen. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt! Im schönen Städtchen Senj hatte er seiner Meinung nach auch schon die passende Partnerin gefunden. Gliga, schlank und sportiv, Ludajić Auserwählte korpulent und muskulös wie Herkules. Verständlich, dass dieser Versuch einer Ehe-Vermittlung nur in die Hose gehen konnte!
Das Schicksal wollte es auch anders und spielte Gliga schließlich die Richtige zu. Während eines Spaziergangs in Senj war er der zierlichen Dana begegnet. Er zögerte nicht lange, nahm die Gelegenheit beim Schopfe und fragte sie: „Dana, willst Du mich heiraten?“ Sie bat um einen Tag Bedenkzeit. „Gut, dann sehen wir uns morgen wieder.“
Gligoric mit seiner Frau Dana | Fotoquelle: Pričao mi Gliga
Danas Mutter kannte Gligo und schätzte ihn. So gab es für sie keinerlei Zweifel, als die Tochter sie fragte: „Gliga hat mir einen Heiratsantrag gemacht, was soll ich tun?“ Zwei zärtliche Watschen waren die eine Antwort, die zweite: „Heirate ihn, bitte, schnell und auf der Stell!“ Diese kleine Geschichte seines Heiratsantrages ergänzte Gliga mit einem Foto. Es findet sich in dem Buch „Schacholympiade Dubrovnik 1950“ auf der Seite 41.
Während der Schacholympiade 1972 in Skopje hatte der „Drittblock-Staaten-Erfinder“ Tito alle Spieler der ersten Bretter zu einem Empfang gebeten. Marshall Tito, ganz in weiß, zog genüsslich an einer der besten Havanas. Zu trinken gab es alles, was das Herz begehrt und selbst an den teuren kubanischen Zigarren konnten wir grenzenlos partizipieren.
Ich beneidete Gliga. Im Unterschied zu den restlichen sozialistischen Ländern, hatte jeder jugoslawische Bürger einen Pass zur Verfügung, der ihm die Tür in die ganze Welt öffnete.
Gruppenbild mit Tito | Fotoquelle: Pričao mi Gliga
Tito stand als die zentrale Person in der Mitte des Geschehens. Nur Gliga und Botwinnik hatten die Ehre während des Empfanges zum traditionellen Mannschaftswettkampf Jugoslawien-UdSSR, 1972, neben ihm stehen zu dürfen.
Gliga war angenehm überrascht, sein politisches Idol perfekt russisch sprechen zu hören. Noch mehr beeindruckte ihn Titos umfangreiches Wissen zur Schachgeschichte. Nicht nur zu Steinitz, Lasker und Aljechin, wusste Tito einiges beizutragen, auch in der Theorie der Eröffnungen war er bewandert.
Marshall Josip Tito beim Schach
Meines Wissens hatte Gligorić in erster Linie eine Vorliebe für alles Englische, die Sprache, die Landschaft, die Kultur. Ob er darüber hinaus auch ein begeisterter Anhänger der panslawistischen Bewegung gewesen ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Zurück zur Schacholympiade 1972 in Skopje. CSSR-Jugoslawien 2,5:1,5. Ein überraschendes Resultat. Die letzte Partie Hort- Gligorić. Viele Zuschauer standen während der spannenden Momente um das Brett herum. Mucksmäuschenstill war es im Saal, als sich Svetozar Gligorić geschlagen gab.
Ein Jahr zuvor in Wijk aan Zee 1971, nachdem Gliga glänzend eine Qualität geopfert hatte, blieb mir nichts, als meine freundlichste Verlustmine aufzusetzen! Keiner verliert gerne, aber mit Gligas Überlegenheit hatte ich nie ein Problem. Dagegen schmerzten mich Niederlagen gegen Polugajewski doppelt. Ich bin mir sicher, dass auch die Leser in ihren „Schachbeichten“ unangenehme Gegner benennen können, die bei ihnen Aversionen und allergische Reaktionen hervorrufen.
Lengyel-Gligoric, Wijk aan Zee 1971 | Foto: Dutch National Archive
Ein amerikanischer Hobby-Schachspieler kommt nach Paris, besucht einige Museen und ist begeistert von der Vielzahl berühmter Werke. „So, Mister, how did you like our Toulouse-Lautrec?“ wurde er gefragt. „No, no, I do not like to loose anything“ – war seine prompte Antwort. Ja, keiner verliert gerne!
Während des Bugojno-Turniers gab es auch eine traurige Nachricht. Am 4. Mai 1980 stirbt Josip Broz Tito. Eine Woche lang wurde deshalb in ganz Jugoslawien Staatstrauer angeordnet und unser Turnier unterbrochen. Die Organisatoren, darunter Herr Primorac, waren sehr einfallsreich und großzügig. So wurden wir während der Trauer-Zeit zu dem wunderschönen Adria-Kurort Dubrovnik gebracht. Auch Nestor Miguel Najdorf war als Ehrengast mit dabei. Das Hotel „Argentina“, in dem wir wohnten, verdankte seinen Namen der Argentinischen Nationalmannschaft, die 1950 während der Schacholympiade dort untergebracht war.
Nach dieser nicht unwillkommenen „Spielpause“ wurde das Turnier in Bugojno fortgesetzt.
Im zweiten Teil des Turniers lieferte uns Don Miguel einen wunderschönen Husarenstreich. Als „Grandmaster of Honor“ hatte er Zugang zu allen Partien und seine Präsenz auf der Bühne war akzeptiert. Schon etwas wackelig auf den Beinen, musste er sich, um einen Blick auf die Bretter erhaschen zu können, allerdings immer an der Stuhllehne des jeweiligen Spielers festhalten. Sein schwerer Atem, besonders in Zeitnotphasen war deshalb nicht zu überhören. Meistens jedoch hielt er sich in der Nähe seines Lieblingsspielers Ljubomir Ljubojević auf. Vertieft in dessen Stellung fragte er sich, welcher Zug für Ljubo wohl der Beste wäre. Er dachte und dachte … beide Spieler hatten das Brett gerade verlassen …und da passierte es. Ganz in Gedanken ließ Najdorf sich auf Ljubos Stuhl fallen, machte „seinen“ Zug, drückte die Uhr und schrieb ihn „ordnungsgemäß“ ins Partieformular.
Die Schiedsrichter hatten danach alle Hände voll zu tun. Solch eine Situation war ihnen noch nicht vorgekommen. Schließlich wurde entschieden, die Partie weiterzuspielen. Ljubo durfte seinen „eigenen“ Zug machen. Ob er denselben Zug wie sein großer Bewunderer gemacht hat, weiß ich leider nicht mehr zu sagen… Auch weiß ich nicht, ob Gliga diese Episode überhaupt mitbekommen hat. Zur Fortsetzung des Turniers erschien er jedenfalls im schwarzen Anzug mit Trauerflor. Hatte er damals schon, wie ich geahnt, dass mit dem Tode Titos sein geliebtes Jugoslawien zerfallen würde? Die Ära, in der alle Balkanstaaten unter einer Schach-Flagge segelten neigte sich dem Ende zu. Nicht nur traurig für Gligorić!
Am Schachbrett jedenfalls war Gliga immer selbstbewusst. Auch seine journalistische Tätigkeit war sehr geschätzt, viele seiner Werke wurden in andere Sprachen übersetzt.
Die Auszeichnung als „Prvoborac“ brachte ihm nach dem Krieg automatisch auch eine fette staatliche Rente ein. Von Zigaretten, Alkohol und Frauen ließ er die Finger weg, seine einzige Schwäche oder besser Leidenschaft waren die schnellen, teuren Autos aus dem Westen wie Porsche und Ferrari.
Woher hatte er seine tiefen theoretischen Kenntnisse im Schach? Woher seine strategischen Fähigkeiten? Soweit mir bekannt, hatte er weder Lehrer noch Sekundanten. Ob nur die sowjetischen Zeitschriften und der serbische Informator die einzigen Quellen für sein umfangreiches Knowhow waren? Miguel Najdorf jedenfalls war immer sehr bestrebt, Gligas Geheimnis zu lüften: „Wenn ich solch gute Stellungen wie Gliga hätte, wäre ich schon längst Weltmeister!“
In den fünfziger und sechziger Jahren zählte Gligorić zu den besten Schachspielern der Welt.
Svetozar Gligoric, 1959
Seine Visitenkarte kann sich sehen lassen:
2x Kandidatenturnier (Zürich 1953, Bled 1959), in den Kandidatenwettkämpfen 1967 erreichte er das Viertelfinale, unterlag dann aber Tal mit 5,5:3,5. Am ersten Brett gewann er mit Jugoslawien insgesamt 12 olympische Medaillen, 1958 in München war er sogar der beste Spieler der ganzen Olympiade.
Che Guevara am Brett von Svetozar Gligoric, Havanna 1966
Man kann nur schätzen: etwa 4.000 Turnierpartien und 17.000 Simultanpartien gehen auf sein Schach-Konto. Im Jahre 1958 wurde er zum besten Sportler seines Landes gekürt.
Dennoch, Nobody is perfect! Er war es, der als Hauptschiedsrichter im berühmten, aber nicht beendeten Wettkampf Karpov - Kasparov in Moskau seine Zustimmung für die Unterbrechung gab. Das war 1984. Nach 48 Partien, bei einem Spielstand von 5:3 für Karpov wurde das Match beendet.
Die Folge davon war, dass Fischer ihm danach seine Freundschaft aufkündigte. Auch Kasparov fühlte sich durch Gligas Entscheidung beschädigt. In dem Buch „Pričao mi Gliga“ nimmt Gliga Stellung dazu. Meines Erachtens aber ziemlich unsachlich und einseitig. Ich selbst aber hatte nie den Mut meine Gedanken dazu auch in einer Frage zu formulieren, was ich jetzt nachhole: „Darf ein Marathonlauf wegen zu vieler Sonnenstrahlen nach 48 Kilometern unterbrochen werden? Oder, lieber Gliga, sollte ein Sportler nicht selbst entscheiden, ob und wann er den Wettkampf aus gesundheitlichen Gründen aufgibt?“
Epilog
Wie bei vielen anderen seiner Schachkollegen, war es die Musik, die in späteren Jahren eine immer größere Rolle spielte.
Zeichnung Otakar Masek
Gliga nahm Klavierstunden, komponierte, begann zu philosophieren. Schließlich ersetzte für ihn die Gitarre das Schachbrett.
„Wenn ich meine Memoiren geschrieben hätte, hätten sie geheißen „Wie ich das 20. Jahrhundert überlebte…“
In seinem Buch überlässt Nesić seinem Freund Gliga das letzte Wort:
„In der Jugend dachte ich, dass meine Zukunft und mein Leben monoton sein würden. Aber das Schachspiel ermöglichte mir, kreativ zu sein. Ich habe die ganze Welt gesehen, mich aber nie auf den Lorbeeren ausgeruht. Turnier folgte auf Turnier und ich habe im Schach alle Höhen und Tiefen erlebt. Nein, ich hatte mich geirrt, mein Leben war überhaupt nicht monoton gewesen. Ich war glücklich verheiratet, 47 Jahre lang. Wie wunderbar!
Das einzige was ich bedaure ist, nicht mehr meiner Zeit der Musik gewidmet zu haben …“
Und wann haben wir eigentlich unsere letzte Partie gespielt? Petrosjan- Memorial in Moskau 1999.