Vlastimil Hort: „Rares und Wahres“ – Teil 3
Keiner der ausländischen Spieler war im Grunde mit dem Ergebnis und den Turnier-Bedingungen zufrieden. Die neue, junge englische Generation formierte sich noch, oder saß in den Schulbänken.
Inzwischen hatte ich ein wenig Geld in der Tasche, denn die Organisatoren hatten endlich die Reisekosten rausgerückt. Darüber hinaus war alles sehr spärlich - im Victoria Hotel gab es nur „Breakfast and Dinner“. Den Lunch ließen die Organisatoren ausfallen. In der Not entdeckte ich an der nächsten Ecke das englische Standardessen „Fish and Chips“, das ich bis zum Turnierende täglich konsumierte. Ansonsten verschlief ich mehr oder weniger das ganze Turnier.
Leonid Stein sehnte sich unbändig nach einem modernen westlichen Anzug und ich war einverstanden, ihm als Dolmetscher zu dienen. Der Verkäufer war höflich und ließ ihn die Anzugsweste ohne Kommentare verkehrt herum (mit den Knöpfen auf der Rückseite) probieren.
Bei dieser relativ peinlichen Situation kam mir der Spruch von Bogoljubow „Richtig, richtig, aber umgekehrt“ in den Sinn. Es war eine von Bogoljubow´s Eigenarten, seine unglücklichen Gegner gleichzeitig zu loben und zu tadeln.
Leonid Stein kaufte schließlich den Anzug mit der Weste und spendierte mir zum Dank eine Tasse heißen englischen Tees. Dabei erzählte er mir sein seltsames Erlebnis aus Bajkal (siehe Anekdote no.8).
Die Engländer müssen eine sehr behaarte Nation sein, denn die ganze Nacht über zu heizen, ist dort ein Luxus. Im Victoriahotel war außerdem alles verrostet. Wir, die Hotelgäste, bekamen für die Nacht zwei warme Kamelhaardecken und zu meinem Erstaunen als Zugabe, zwei heiße Ziegel. Warum bloß hatte ich nicht noch einen Pullover mitgenommen?
Am letzten Tag des Turnieres erschien der frühere tschechische Meister Cenek Kottnauer. Er war im Jahre 1954 nach der Amsterdamer Schacholympiade nicht wieder nach Prag zurückgekehrt. „Kentaur“ - sein Prager Spitzname -, war zu mir sehr nett.
Sein Interesse am Schach war nach wie vor sehr groß, aber die Profilaufbahn in England einzuschlagen, hatte er nie gewagt. Mit dem Ex- und Import von Obst und Gemüse konnte er in seiner neuen Heimat gut überleben. „Yes, the English are very polite, yes, but, Vlastimil beware of pickpockets. The thiefs are everywhere.“
Meine Tannengeschichte hat ihn sehr amüsiert. Auch er war zum Abschluss-Bankett mit Yorkshire Pudding und dem obligatorischem Toast auf die Queen eingeladen.
Auf der Rückreise trafen wir uns zufällig im Zuge nach London. Das Abteil war total überfüllt – ein Sitzplatz nicht in Sicht. Plötzlich griff Cenek sich an die Brust und wurde ganz blass. Ich wollte ihm schon die erste Hilfe leisten, als er stöhnte: „No, no, thank you Vlastimil, it was only my portemonnaie with all documents…“
Der „Eiserne Vorhang“ wartete. Noch war ich nicht reif, einen Schritt wie der „Kentaur“ in Amsterdam zu machen. Der Staat brauchte meine Sterling Pounds...
Please, „keep smiling“ für meine Anekdoten:
7
Auch Isaac Kashdan erzählte mir 1974 in Lone Pine folgende Geschichte. Der alte Champion Reshevsky und der Newcomer Fischer hatten bei ihrem Wettkampf 1961 von Beginn an Konflikte miteinander. Die Streithähne konnten sich auf nichts, aber wirklich nichts einigen. Um jeden Punkt des Match-Vertrages wurde gestritten. Die Akklimatisation im Spielsaal war der Dreh- und Angelpunkt. Reshevsky erinnerte an eine tropische Pflanze, während Fischer sich lieber bei den Eisbären in der Antarktis aufgehalten hätte. Es bahnte sich ein unlösbarer Konflikt zwischen beiden an. Waren die Organisatoren bei König Salomon? Solange Reshevsky am Zuge war, war die Akklimatisation aus. Im Moment, wo er gezogen hatte, sprang sie an und kalte Luft strömte in den Spielsaal. Im Fußball existiert ein Torlinien-Schiedsrichter.
Fischer-Reshevsky (Quelle: Pinterest)
Bei dem unvollendeten Wettkampf Reshevsky-Fischer (5,5:5,5 nach elf Partien. Eigentlich waren 16 Partien geplant, aber Fischer reiste nach der 11. Partie ab) gab es zum ersten Mal in der Schachgeschichte und hoffentlich auch zum letzten Mal, einen Ventilator-Schiedsrichter.
Ich stelle mir mit großem Vergnügen folgende Situation vor - Reshevsky befindet sich in höchster Zeitnot. Klick (Reshevsky zieht), Klack (Fischer antwortet), Klick, Klack, Klick, Klack…bis der Ventilator den Geist aufgibt! What a fun!
8
Leonid Stein erzählt seine Erlebnisse in Hastings 1967/68 vom Bajkalsee: „Eines Tages bekam ich eine Einladung zum Simultan aus dem tiefsten Sibirien. Warum nicht, sagte ich zu mir? Ein wenig später erhielt ich sogar noch einen Anruf. Es war die Sekretärin des Veranstalters, die mir noch verbesserte Konditionen anbieten sollte. Jetzt war ich sehr neugierig. Der Veranstalter, der Direktor vom Holz-Kombinat, war zwar ein begeisterter Schachspieler, leider aber ein schlechter Verlierer.
Leonid Stein (unbekannter Fotograf)
Ich wurde gebeten, unbedingt darauf Rücksicht zu nehmen. Als Sponsor war er sehr generös. Ich durfte ein paar Tage früher am Tatort sein, viele Geschenke und Bonifikationen regneten auf meinen Kopf und das ganze Ambiente war fantastisch. Somit war ich gerne damit einverstanden, meinen Sponsoren mit Samthandschuhen anzufassen. Es war schwer! Der Direktor hatte nämlich keinerlei Ahnung vom Schach und nach endlos langem Partieverlauf war ich erleichtert, seinen König endlich ins Netz vom ewigen Schach zu jagen. Unentschieden!
„Verdammt und zugenäht“, fluchte mein Gegner nach der Partie. “Ich habe schon mit Botwinnik, Karpov, Spassky und anderen berühmten Großmeistern gespielt. Immer nur remis! Wieso kann ich nicht endlich eine Partie gewinnen?“
Ich biss mir fest auf die Zähne, um bloß kein unbedachtes Wort rausschlüpfen zu lassen und nahm den nächstmöglichen Zug nach Moskau um diese schreckliche Partie schnellstens zu vergessen.“
9
In den 70er Jahren hatte ich eine Einladung nach Schondorf bei Stuttgart. Noch Jahre danach hing das Plakat mit der Bekanntmachung: IGM Vlastimil Hort spielt im Foyer der Volksbank an 12 Brettern ein Blindsimultan in meiner Kölner Wohnung.
Die ersten drei Stunden (Registrierung der Züge) dieses wahnsinnigen Unterfangens sind am schwierigsten. Absolute Konzentration ist ein Muss! Das Foyer der Volksbank war voller Menschen – ich saß in einem bequemen Lehnstuhl im abgeschirmten Nebenraum. Mein Gedächtnis war strapaziert. Plötzlich kam eine Dame mit Hütchen und Lodenmantel hereingeschneit und bat mich um ein Autogramm. Dem nicht genug, wollte sie noch zwei weitere. Die Krönung aber war, ihr Wunsch nach einer Signatur auf dem schon erwähnten Plakat. Obwohl genervt und gestresst, übergab ich ihr dennoch eine Rose aus dem Blumenstrauß der Organisatoren. Schließlich versuche ich in jeder Situation ein Gentleman zu bleiben. Der Zug des Wahnsinns fuhr langsam zur ersten Station, noch war die Registrierung der Züge nicht abgeschlossen. Brett eins, Brett zwei bis zwölf. Langsam bekam ich meine Gegner in den Griff.
Plötzlich Unruhe in meinem Refugium. Was war los? Der Vorsitzende des Schachvereins und der Bankdirektor erschienen in meinem Territorium und störten meine Kreise. „Herr Hort, wir bringen Ihnen die Partieprotokolle mit. Sie können die später lesen, aber zuerst möchten wir Ihnen etwas erzählen“. Trotz Konzentrationsverlust war ich neugierig. „Haben Sie eine Dame im bayerischen Lodenmantel gesehen?“ Ich nickte und dachte an die Stellungen, die sich im Nebel von mir zu entfernen drohten. „Nun, diese Dame riss mir das Mikrofon aus der Hand und machte dem Publikum eine wichtige Mitteilung. „Alles ist nur ein riesiger Betrug, der Großmeister ist gar nicht blind!“…
Jetzt war mir auch klar, warum die Dame mir beim Autogrammgeben so tief in die Augen geschaut hatte.
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