Salomon Flohr
Fotos: Archiv Matocha/Hort
Es ist das Jahr 1951. In meiner Heimatstadt Kladno fiebern die begeisterten Schachspieler dem Abend entgegen. Ein besonderer Gast wird erwartet. Großmeister Salo Flohr wird eine Simultanvorstellung geben - an 50 Brettern. Zu dieser Zeit bin ich 7 Jahre alt. Unser Stadt-Metzger Josef Saidel hat sich neben mich gesetzt, um aufzupassen, dass ich im richtigen Moment meinen Zug mache. Saidel selbst muss seine Partie schon früh aufgeben. So hat er Zeit, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Mein Kiebitz ist überzeugt, dass meine Stellung zu halten ist. Tatsächlich, Großmeister Flohr offeriert mir ein Remis und schreibt auf das Partieformular „Bravo“.
Salo Flohr
Am Sonntag, dem Tag danach, nahm ich mir die Endstellung noch mal vor und ich versuchte den ganzen Tag vergebens den schwarzen König aus der Ecke zu treiben, aber Patt ist Patt. Ich träumte – wie schön es wäre, wenn ich genauso wie Flohr Schachspielen könnte. An diese, unsere erste Begegnung erinnerte sich Flohr später allerdings nicht. Wie viel ähnliche Simultanveranstaltungen mag er wohl gegeben haben?
Salomon Flohr wurde am 21. November 1908 in der West-Ukraine geboren. Seine jüdischen Eltern waren sehr arm und hatten für acht Kinder zu sorgen. Salomon und sein älterer Bruder Moses suchten deshalb recht früh ihr Glück in der weiten Welt. Schließlich landeten sie in Prag. Nach Aussagen von Augenzeugen verkauften die beiden dort eingelegtes Kraut, dass in schweren Fässern transportiert wurde. Während der staatliche Moses die schweren Fässer mit Leichtigkeit rollte, hatte der kleine und zarte Salo Flohr es schwer damit.
Vom Zeitungsverkäufer zum Großmeister
Salo war schlau genug, das Metier zu wechseln. So um das 1923 hatte er Erfolg und einen leichteren Job gefunden. Alle ihm bekannten Prager Cafés und Restaurants belieferte er fortan mit Zeitungen. Auf seinem Wege durch die Prager Szene beeindruckten ihn die Paare, die sich an einem Brett mit Figuren gegenübersaßen, besonders. Manchmal ging es dort heftig zu, dann stritten sie sich, oder jubelten. Manchmal aber stierten sie, den Kopf in beide Hände gestützt, nur brütend auf das Brett. Salo Flohr´s Interesse am Schach war geweckt.
Flohrs wahnsinnige Naturbegabung für das Schachspiel zeigte sich schnell. Im Nu war er Meister darin und schlug die Kaffeehausspieler. Dank der Schachnotation und dem Kontakt zu den tschechischen Schachspielern lernte er auch die schwierige tschechische Sprache im Fluge. Wie bekannt, helfen sich die Schachspieler auch untereinander und bald schon brauchte Flohr keine Zeitungen mehr auszutragen.
Sein Schachstern ging auf und seine Schach-Karriere senkrecht nach oben. Er wurde Mitglieder der tschechischen Olympiamannschaft und spielte sofort am ersten Brett. Seine Resultate können sich sehen lassen. Hamburg 1930: +14 =1 -2 (fantastisch!), Prag 1931: +8 =6 -4, Folkestone 1932: +6 =6 -2, Warschau 1935: +9 =7 -0, Stockholm 1937: +9 =7 -0.
Alexander Aljechin, Max Euwe, Salo Flohr
Wie gerne habe ich die Partien des Internationalen Turniers von Podebrady, 1936, nachgespielt! Flohr verlor nur eine einzige Partie gegen Eliskases - das Turnier hat er mit einem halben Punkt Vorsprung vor Aljechin gewonnen. In den dreißiger Jahren lernte er Vera Meisner kennen – sie wurde seine unglückliche Liebe, denn ihre Eltern waren gegen einen Schwiegersohn mit jüdischer Herkunft. Blieb die Beziehung aber auch platonisch, Salo? Für die eine Blume scheint die Sonne, für die andere nicht. Flohr lernte Raissa kennen, seine spätere Ehefrau.
Salo Flohr mit Vera Meisner
Gleichzeitig mit der Olympiade in Stockholm, 1937, tagte auch der Fide Kongress dort. Es galt den Herausforderer für den Weltmeister zu ermitteln. Das Procedere war damals noch ein anderes. Die Fide stimmte intern ab, wer den amtierenden Weltmeister, in diesem Fall Aljechin, herausfordern durfte. Flohr gewann stimmenmäßig gegen Capablanca 8:5 und Aljechin war sowohl mit den finanziellen Bedingungen als auch mit seinem Gegner Flohr einverstanden.
Statt Weltmeisterschaft - Krieg
Der Wettkampf sollte 1939 in verschiedenen Städten der damaligen Tschechoslowakei stattfinden – 30 Partien waren angesetzt. Die Tschechen waren im Vorfeld schon ganz euphorisch. Bis dahin hatte Flohr bereits 24 internationale Turniere und eine größere Zahl von Einzelwettkämpfen gewonnen.
Doch wenn die Waffen ringen, schweigen die Musen. Hitler okkupierte die Tschechoslowakei. Salo und seine Raissa retteten sich hinter den Ural genauso wie Andor Lilienthal, der beste und einzige wirkliche Freund von Flohr. Es ist nötig, zu erwähnen, dass auch Emanuel Lasker von Stalins Regime ein Angebot bekam. Doch Lasker zog es vor, in die USA zu flüchten.
Flohrs eigene, sehr harte Selbstkritik im Gespräch mit N. Borisov, erschien in der berühmten sowjetischen Schach-Zeitschrift 64 (Nr. 21/1970):
„Der Krieg hat meine Gesundheit schwer beschädigt und meinem Nervensystem sehr geschadet. Eine Reihe meiner Schachkonzeptionen benötigten eine entscheidende Revision. Besondere Kenntnisse in der Theorie habe ich nie gehabt, denn in der Jugend spielten andere Faktoren eine große Rolle. Die Resultate der Partien wurden dadurch aber nicht beeinflusst. Nach dem Krieg sprossen die jungen sowjetischen Meister wie Tulpen aus dem Boden. Sie verdrängten nicht nur mich, sondern auch die anderen westlichen Großmeister. Der Hauptgrund meiner Misserfolge nach dem Krieg war aber woanders zu suchen. Der Kampf um den Schachthron erfordert unbändigen Arbeitswillen. Den hatte ich nicht mehr. Ohne Schweiß, kein Preis! Ich war von meinen großen Erfolgen während meiner Schach-Karriere vor dem Krieg verwöhnt. Ich hatte nicht genug Charakter. Ich hörte auf zu kämpfen, im Grunde genommen war es mir egal. Schade! Wie pflegte Steinitz zu sagen, Schachspiel ist nichts für die Menschen, die schwach im Geiste sind. Schach fordert den ganzen Mann“.
In diesem Interview hat Flohr sein Herz ausgeschüttet. Gleichzeitig aber ist es auch seine Botschaft an die Nachfolgegeneration:
„Ich sollte kämpfen. Jeder Schachspieler hat seinen eigenen Stil, das ist sein Potential. Nie aber sollte er passiv sein. Der Mensch hat die Pflicht zu kämpfen, es ist ihm angeboren. Wenn ich heute von vorne beginnen könnte, ich würde mich bemühen, Kämpfer zu werden. Genauso wie Lasker, oder wie Kortschnoi. Dann müsste ich nicht bedauern, dass ich die Welt mit einer Unmenge von Unentschieden beschert habe“.
Der kleine joviale Herr mit sowjetischem Pass genoss alle Annehmlichkeiten und Vorteile der gehobenen kommunistischen Nomenklatura, hörte aber immer auch gerne alle Neuigkeiten aus der Schachszene der Tschechoslowakei. Im November, dem Monat der tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft, war er überdies ein besonders gern gesehener Gast bei Simultanvorstellungen und Vorträgen. Seine alten Kumpel, Karel Opočenský, Vita Houstka und Alois Hruska mit seiner berühmten Gattin Nina Hruskova-Belskaja halfen ihm wie und wo sie nur konnten. Die Lokomotive vom Nachtzug Prag-Warschau-Moskau atmete anschließend schwer unter all den Luxusgütern und Artikeln, die in der Sowjetunion immer noch fehlten und die er sich aus diesem Grund besorgen ließ und mitschleppte.
Teil der Nomenklatura
Ich war bei dem Ehepaar Flohr zweimal zu Besuch und wurde in der Nomenklatura-Wohnung, auf der Nomenklatura-Siedlung königlich bewirtet und aufgenommen. Wenn unser Gespräch zur Politik überzuspringen drohte, dann schwiegen die beiden wie auf Kommando. In der gleichen Siedlung, ein paar Häuser weiter, wohnte auch die Familie Lilienthal. Zusammen teilten die beiden Familien sich einen PKW der Marke Wolga. Ein Chauffeur war auch dabei – das war das Tüpfelchen auf dem i!
Andor Lilienthal hatte Glück, weil er später vom dem großen Schachförderer Janosch Kadar ein lukratives Angebot bekam: „Komm zurück, auf Dich wartet eine Staatsrente und die ungarische Staatsangehörigkeit“. Das ließ dieser sich nicht zweimal sagen. Andor Lilienthal verbrachte in Budapest seine letzten Jahre zweifellos im Wohlstand und Wohlbefinden.
Hätte mir der große Schachmagier Salo Flohr, meine folgenden Fragen wohl aufrichtig und ehrlich beantwortet?
„Würden Sie über sieben Berge und durch sieben Täler auf Knien nach Prag rutschen, wenn irgendeiner der tschechischen Präsidenten ihnen ein ähnliches Angebot gemacht hätte? Okkupation am 21. August 1968. Wie hat sich diese „Bruderhilfe“ in Ihrer Ehe widergespiegelt?“
Später im Westen hatte ich mit Flohr eine Unmenge von Zusammentreffen. Manchmal spielten wir Karten zusammen. Manchmal erfreute ich ihn auch mit meinen Witzen, die aber immer unpolitisch waren. Dabei tranken wir oft russischen Tee (ich gezwungenermaßen), denn Alkohol rührte Flohr nicht an. Zu dieser Zeit spielte Flohr schon keine Turniere mehr, gab jedoch immer noch Simultanvorstellungen. Bei einigen war ich dabei und konnte ihn, wie damals in Kladno, bewundern.
Wenn er gerade nicht mit Schach beschäftigt war, sah man Flohr häufig mit einer langen Liste von Wünschen der sowjetischen Nomenklatura fleißig und in Eile von Geschäft zu Geschäft laufen. Er war inzwischen zum „Hoflieferant“ derselben geworden.
Dass ich seinen Bruder Moses, der versteckt in einem kleinen Dorf (Pchery) die deutsche Besatzung überleben konnte, späterhin besucht habe, hat ihn sehr erfreut. Flohr hat sicherlich dazu beigetragen, dass es eine tschechische Schachschule gibt. Wenn Flohr auch nach Russland überwechselte und seine letzten Jahre dort verbrachte, so sehen die Tschechen ihn heute noch als ihren großen Meister an.
Der berühmte Pass des tschechischen Fußballspielers Josef Masopust ist in die Fußballgeschichte als „tschechisches Sträßchen“ eingegangen. Flohrs Fortsetzung in Nimzoindisch, 4.Dd1-c2 wird über die tschechischen Grenzen hinaus ewige Bewunderer und Fans haben.
Drei Partien gegen drei Weltmeister - ein Ergebnis
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