Vor 80 Jahren: Kemeri 1937

von Michael Dombrowsky
19.07.2017 – Vor 80 Jahren fand im lettischen Kurort Kemeri, heute ein Teil Rigas, ein stark besetztes internationales Schachturnier statt. Weltmeister Aljechin war sicher einer der Favoriten, aber am Ende gewann Vladimirs Petrovs das Turnier. Michael Dombrowsky blickt zurück.

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Als ein Journalist den Weltstars die Schlagzeilen stahl

Es ist nur höchst selten in der fast 180jährigen Turniergeschichte vorgekommen, dass ein Berichterstatter bei einem Weltklasseturnier tagelang in der internationalen Schachwelt größere Aufmerksamkeit als die Spieler auf sich zieht. 1937 – also vor 80 Jahren – ist es einem Deutschen in Kemeri gelungen.

Das Kurhotel heute (Foto: Google)

Zunächst beherrschten bei diesem vorbildlich organisierten Turnier im Kurhotel von Bad Kemeri (südlich der lettischen Hauptstadt Riga) Namen wie Alexander Aljechin (Frankreich), Paul Keres (Estland) und Vladas Mikenas (Litauen), Samuel Reshevsky und Reuben Fine (beide USA), Gideon Stahlberg (Schweden), Dr. Savielly Tartakower (Polen), Eero Böök (Finnland) oder Ludwig Rellstab (Deutschland) die Schlagzeilen.

Aljechin mit Gattin

Dann zog der Berichterstatter Jaques Mieses alle Aufmerksamkeit auf sich. Zwar spielte der mittlerweile 72jährige nicht mehr im Turnier mit, doch war der Großmeister aus Berlin, der für einige Zeitungen und Schachzeitschriften in England, Frankreich, Spanien und den USA berichtete, eine bekannte und geachtete Persönlichkeit. Der Auslöser war ein schwerer Unfall. Was genau passiert war, konnte nicht mehr geklärt werden. In den Berichten reichte die Palette vom Sturz im Bus bis zum Überrollen von einer Straßenbahn. Die Zeitungen schrieben unterschiedliche Geschichten, eine sogar einen Nachruf. Mieses bedankte sich in der ihm eigenen Art: „Sehr schmeichelhaft, aber verfrüht und übertrieben“.

Eröffnung durch den Stellvertretenden Ministerpräsidenten M. Skujenieks, links vorne: Jaques Mieses

Tatsache bleibt: Mieses hatte komplizierte Brüche an beiden Beinen und musste fast neun Monate im Krankenhaus bleiben. Als er Anfang 1938 entlassen wurde, wollte er zurück nach Berlin. Freunde hielten dies für keine gute Idee. Als Jude drohte ihm das Konzentrationslager. Deshalb organisierten sie eine Reise um Nazi-Deutschland herum bis nach England. Mieses ließ sich in London nieder und starb dort 1954 wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag.

Doch nun zurück in die Turnierarena von Kemeri. Samuel Reshevsky, mit 25 Jahre längst dem Attribut „Wunderkind“ entwachsen und amtierender Meister der USA (Er hatte den Titel 1936 in Chicago gewonnen) katapultierte sich an die Spitze des Feldes und führte nach sieben Runden mir 6,5 Punkten. Wobei er allerdings in der ersten Runde „Starthilfe“ vom Letten Vladimirs Petrovs erhielt, der in hoher Zeitnot den Sieg verpasste und sogar noch verlor.

Nachdem Reschewski das ganze Turnier über klar die Tabelle angeführt hatte, schrumpfte der Vorsprung vor der letzten Runde auf einen halben Punkt. Und diese 17. Runde brachte ein dramatisches Finale. Dafür sorgte der finnische Meister Eero Böök. Er spielte gegen Reshevsky seine beste Partie in diesem Turnier gegen die Aljechin-Verteidigung. Böök hatte aus der Eröffnung heraus die bessere Stellung, die der Amerikaner trotz aller Gegenwehr nach 73 Zügen aufgab. Das Geheimnis für die tolle Leistung des Finnen war ein Telegramm, das er kurz vor der Partie erhalten hatte. Seine Schwiegermutter hatte ihm gratuliert, dass er Vater eines gesunden Sohnes geworden war.

Eernö Böök (l.) und der Tscheche Salo Flohr in der 16. Runde. Flohr gewann. 

So genügte Flohr und Petrovs ein Remis, um zu Reshevsky aufzuschließen, Flohr sorgte für einen geordneten Score in der Tabelle: Gegen die ersten Neun spielte er Remis, gegen die letzten Sieben gewann er. Petrovs holte seine 12 Punkte mit neun Siegen, sechs Remis und zwei Niederlagen.

Petrovs war ein sehr starker Spieler und wird bei chessmetrics mit Platz 14 als beste Plazierung in der Weltrangliste geführt. Sein Meisterstück lieferte er in seiner siebten Schach-Olympiade seit 1928 in Buenos Aires 1939 ab. Für Lettland am Spitzenbrett holte er 13,5 Punkte aus 19 Partien und blieb dabei ungeschlagen (+8 =11). Für diese Leistung erhielt er in der Brettwertung die Bronzemedaille – hinter den Weltmeistern Alexander Aljechin und José Capablanca (Kuba)! Damit erreichte er eine historischen Elo-Zahl von 2702 – nach Kemeri (2709) das zweitbeste Ergebnis seiner kurzen Kariere.

Auf Grunde des Hitler-Stalin-Paktes okkupierten die Sowjets die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, während die deutsche Wehrmacht Westeuropa besiegte. Als erstklassiger Schachmeister wurde er nach Moskau beordert und spielte dort 1940 zum ersten Mal in der sowjetischen Meisterschaft in Moskau mit (10. Platz von 20). Danach belegte er in der Moskauer Meisterschaft 1941/42 hinter Isaak Masel, 1942 in einem doppelrundigen Turnier in Moskauhinter Igor Bondarewski und in Swerdlowsk 1942 hinter Vjatscheslav Ragosin jeweils den zweiten Platz.

Dann machte Petrovs einen tödlichen Fehler: Er schimpfte laut über die schlechte Versorgungslage. Die Geheimpolizei von NKWD (später KGB) verhaftete ihn. Von einem Tribunal wurde er 1942 zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Schon nach einem Jahr starb er am 26. August 1943 kurz vor seinem 43. Geburtstag in Sibirien im GULAG von Kotlas an Unterernährung und Lungenentzündung. Petrovs wurde zur Persona non grata erklärt, seine Ergebnisse wurden aus Tabellen und Ergebnislisten getilgt, seine Partien vernichtet. Erst 1989 wurde der Lette vom Obersten Sowjet rehabilitiert.

Mit einem halben Punkt dahinter teilten sich Aljechin und Keres den vierten Rang. Für Aljechin war dies der letzte große Test vor dem WM-Revanchekampf gegen Max Euwe gewesen. Er spielte nur noch ein kleines Viererturnier. Von den übrigen 16 Teilnehmern (Rellstab fuhr nach Hause, weil die Nazis nicht bei der Olympiade mitspielten) reisten 13 Meister zur Schach-Olympiade nach Stockholm weiter. Dort vertraten zwölf von ihnen ihre Nationen an den Brettern eins oder zwei: Reshewsky und Fine (USA, Brett 1 und 2, Goldmedaille), Steiner (Ungarn, 2, Silber), Tartalower (Polen, 1, Bronze), Flohr (Tschechoslowakei, 1, 5. Platz), Landau (Holland 2, 6.) Keres (Estland,1, 7.), Mikenas (Litauen, 1, 8.), Stahlberg (Schweden, 1, 10.), Petrovs, Apsenicks und Ozols (Lettland, 1,2 und 4, 11.), Böök (Finnland, 2, 12.).

Das internationale Turnier von Kemeri konnte keine Tradition entwickeln. Es fand danach nur noch zweimal statt, dann war nach der Annexion durch die Sowjetunion Schluss.

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Partien

 

Endstand nach 17 Runden

 


Michael Dombrowsky war fast 40 Jahre als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften tätig. Als Rentner begann er Bücher zu schreiben. Das erste Schachbuch auf dem Markt sind die „Berliner Schachlegenden“.

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