Ein Gästebuch voller Schachgeschichten

von Stefan Liebig
02.08.2025 – Was die ägyptischen Pyramiden, eine Hospitanz bei Otto Borik und ein Froschspiel auf dem Heimcomputer mit seinem Werdegang zu tun haben, verrät Frederic Friedel zu seinem 80. Geburtstag im großen Schach-Magazin 64-Interview mit Stefan Liebig, das hier mit freundlicher Genehmigung des Schünemann-Verlags veröffentlicht werden darf. | Fotos: Archiv Frederic Friedel

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Es dürfte nicht viele Menschen geben, die so für Schach leben, so viele Freunde in der internationalen Schachwelt haben und die so viel zur Digitalisierung des Schachs beigetragen haben, wie Frederic Friedel. Die Liste der Übernachtungsgäste bei ihm und seiner Frau Ingrid ist geradezu unendlich: Nunn, Short, Gelfand, Leko, Kramnik, Anand, Svidler, die Polgars, Sachdev, Hou Yifan, Mendonca, Gukesh …
Am 2. August wird der Allrounder und Autodidakt 80 Jahre alt. Mit seinen Geschichten aus der Schachwelt hat er bereits ein ganzes Buch veröffentlicht und es macht einfach Spaß, ihn erzählen zu lassen:

Herr Friedel, wir sprechen kurz vor Ihrem 80. Geburtstag miteinander – wie werden Sie diesen besonderen Tag feiern?
Zunächst mal stecken meine Frau Ingrid und ich gerade mitten im Umzug. Wir ziehen in die Nähe der Familie meines Sohnes Martin. Er, seine Frau Tanja und die beiden 12- und 13-jährigen Enkelsöhne Hennes und Enders sind dann nur noch sechs Gehminuten entfernt von uns – die Enkel brauchen nur vier Minuten (lacht)!
Aber bis zu meinem Geburtstag soll das geschafft sein. Wir feiern dann mit unserer Familie, mein anderer Sohn Thomas wird auch da sein.

Sohn Tommy mit den Enkeln Enders und Hennes: Computer begeistern alle Generationen der Familie Friedel. | Unten: Frederics Frau Ingrid mit Sohn Martin.

Das klingt ja recht überschaubar – man hätte ja auch viele internationale Gäste aus der Schachszene erwarten können!
Ich denke, mit ihnen werde ich alles per Videokonferenzen nachholen.

Das könnte dann durchaus länger dauern – mit wie vielen Schachspielern sind Sie in regelmäßigem Kontakt?
Eigentlich mit allen Topspielern der Welt, zurzeit insbesondere mit den vier indischen Top-10-Spielern. Insgesamt dürften das bis zu 80 enge Kontakte, meist Freundschaften, sein.

Viele von diesen Topspielern haben Sie bei sich zuhause beherbergt – es gibt da ein sehr bemerkenswertes Gästebuch.
Ja, wer bei uns übernachtet, darf bzw. muss sich dort eintragen. Einsamer Rekordhalter ist Vishy Anand mit 36 Aufenthalten. Garry Kasparov steht als einzige Ausnahme darin – er hat nämlich Hotelaufenthalte immer vorgezogen, war aber auch mehrfach tagsüber bei uns.

Rekordgast Vishy Anand mit Judit und Sofia Polgar.

Wird diese Tradition im neuen Haus fortgesetzt?
Nur stark eingeschränkt. Es gibt einen ausgewählten Kreis von Gästen, die im Lauf der Jahre quasi zu Familienmitgliedern wurden. Bei denen freuen wir uns weiterhin, wenn Sie uns für ein paar Tage besuchen kommen.

Dürfen unsere Leser erfahren, wer diese Gäste sind und was sie zu besonderen Gästen macht?
Ein Beispiel ist die aus der Republik Moldau stammende Almira Scripcenco – sie hat unsere Herzen schon beim Hereinkommen beim ersten Besuch erobert, indem sie sich sofort wie ein Familienmitglied verhielt. Weitere außergewöhnliche Freunde stammen aus der jungen indischen Generation: Tania Sachdev, Sagar Shah, Gukesh, den ich wie seine Familie „Guki“ nenne, und Leon Luke Mendonca, der ein außergewöhnlich vielseitiger junger Mann und ein begabter Musiker ist. Ich wünsche ihm sehr den Durchbruch in die Top 10. Gemeinsam haben alle, dass sie nicht nur zu uns kommen, um mit mir über Schach und ChessBase zu reden, sondern, dass sie offen und herzlich auf die ganze Familie eingehen und interessiert an unserem Leben teilnehmen.
Auch der junge Viswanathan Anand hatte als Teenager sofort unsere Herzen erobert: Er war an allem interessiert, spielte mit unseren Söhnen und war immer freundlich – daraus hat sich eine jahrzehntelange Freundschaft entwickelt. Eigentlich unglaublich, dass er inzwischen über 50 Jahre alt ist.

Vier Quasifamilienmitglieder der Friedels: Almira Scripcenco, Tania Sachdev, Gukesh und Leon Luke Mendonca.

Telefonhotline

Gukesh und Mendonca rufen sogar regelmäßig bei Ihnen an?
Ja, ich frage mich immer, was die von mir altem Mann eigentlich wollen. Sie fragen nach Tipps. Aber was soll ich diesen genialen Spielern raten? Mit Leon plaudere ich oft und merke, er möchte einfach eine Meinung hören, über die er nachdenken kann. Mit Gukesh unterhielt ich mich per WhatsApp während des WM-Finals gegen Ding Liren. Ich sagte ihm, dass ich Garry Kasparov einmal einen Tipp gegeben hatte, er solle mit ein, zwei Stückchen Toblerone gegen die typischen Durchhänger in der vierten und fünften Stunde von Partien angehen. Der höhere Blutzuckerspiegel half ihm tatsächlich damals im Kampf gegen Karpow. Gukesh fragte: „Muss es Toblerone sein?“ (schmunzelt) Muss es natürlich nicht! – Vollmilchschokolade …

Sie haben mit dem Aufstieg der jetzigen Generation indischer Supertalente direkt etwas zu tun. Wie kam das?
Das begann im Januar 2019. Ich besuchte ein Turnier in Mumbai, und Sagar Shah stellte mir irgendwann einen zwölfjährigen Spieler vor. Ich war schockiert, als ich erfuhr, dass dieser Junge bereits zwei GM-Normen hatte.

Frederic trifft Gukesh zum ersten Mal (Januar 7, 2019, um 15:28, sagt die EXIF-Info im Bild)

Zehn Tage später besuchte ich ihn in seinem Haus in Chennai und stellte fest, dass er inzwischen seine dritte Norm erreicht hatte. Mit zwölf Jahren war Gukesh ein vollwertiger Großmeister. Ich wusste, dass mein guter Freund Vladimir Kramnik sich aus dem Wettkampfschach zurückgezogen hatte. Ich schlug ihm vor, dass er die sehr jungen Supertalente trainieren sollte, die ich auf diversen Reisen nach Indien kennengelernt hatte. Er stimmte zu, und Sagar fand bald einen Sponsor: die Firma Microsense hat Trainingseinheiten in Frankreich und dann in Chennai (wo Boris Gelfand dazukam) finanziert. Ich habe beide Trainingscamps besucht. Es war faszinierend, diese 13- und 14-Jährigen dabei zu beobachten, wie sie komplexe strategische Ideen mit einem ehemaligen Weltmeister diskutierten.

Unrealistisch

Während der zweiten Sitzung fragte mich ein Reporter vom indischen Fernsehen, wohin das alles führen könnte. Ich sagte voraus, dass in fünf Jahren mindestens zwei der zehn besten Spieler der Welt aus Indien kommen würden. „Ist das nicht ein bisschen unrealistisch?“, fragte der Journalist. „Soll ich Ihnen jetzt ihre Namen nennen?“, antwortete ich und zeigte auf drei der Jungen, die auf dem Rasen mit einem Fußball herumkickten. Der indische Journalist lächelte ungläubig.

Die roten Pfeile zeigen auf (von links): Gukesh, Praggnanandhaa und Erigaisi – Nummer 4 bis 6 der zum Redaktionsschluss aktuellen FIDE-Weltrangliste.

Im Februar 2023 besuchte mich Gukesh in meinem Haus in Hamburg, und ich erinnerte ihn an meine Vorhersage. „Du hast bis Ende 2025 Zeit, in die Top Ten aufzusteigen“, sagte ich zu ihm. Zu diesem Zeitpunkt war er die Nummer 29. „Das ist ziemlich unrealistisch, Fred“, sagte er. „Ich werde es schon viel früher schaffen!“ Heute belegen die drei Jungen, auf die ich 2019 hingewiesen habe, die Plätze 4-6 in der FIDE-Liste. Ich war nie ein wirklich starker Schachspieler, aber ich bin stolz auf meine Vorhersagefähigkeiten.

Frederic Friedel zum Hintergrund seiner Kindheit in Indien:

„Mein Vater, Alois Friedl, war ‚Horologe‘ – er entwarf und baute Chronometer für die Navigation und unterstützte ein Schweizer Unternehmen bei der Einrichtung von Stationen für die Seeschifffahrt in asiatischen Häfen. Der Hauptsitz seines Arbeitgebers befand sich in Bombay. Als der Krieg ausbrach, wurde er als deutscher Staatsbürger von den Briten in ein Kriegsgefangenenlager gesteckt. Das Lager war von Schlangen verseucht, und er studierte diese Reptilien gemeinsam mit einem führenden Herpetologen. Tatsächlich entwickelten sie zusammen die ersten Gegengifte für indische Schlangen. Alois erhielt von König Georg die britische Staatsbürgerschaft. Er heiratete eine portugiesisch-indische Frau, und ich war ihr erstes Kind. Er gründete eine Forschungsstation im Dschungel der Westghats, und ich verbrachte einen Teil meiner frühen Jugend damit, durch den Dschungel zu streifen und Reptilien und Nagetiere zu fangen, um seine Schlangen zu füttern. Ich besuchte dabei oft einen dort lebenden Stamm von Steinzeitmenschen. Es war eine sehr abenteuerliche Kindheit.“

Sie und Ihre Frau haben offenbar eine Vorliebe für die indische Mentalität, liegt das an den indischen Spielern oder an Ihrer frühen Jugend in Indien?
Beides. Bemerkenswert ist übrigens der Respekt, den junge Inder älteren Menschen entgegenbringen. Bei Pentala Harikrishna hat es über ein halbes Jahr gedauert, bis ich ihm abgewöhnen konnte, „Freddy-Uncle“ zu mir zu sagen. Auch Sir und Mister werde ich immer wieder genannt, obwohl ich das gar nicht möchte. Aber es ist die indische Form, Respekt zu zeigen.

Auch Vincent Keymer hinterlässt Eindruck

Zurück zu Kasparov – auch mit der aktuellen deutschen Nummer 1 verbindet Sie und den früheren Weltmeister eine Geschichte …
Ja, ich hatte Vincent im ChessBase-Büro kennengelernt, als er 13 Jahre alt war. Es war mir klar, dass er ein Riesentalent ist. Ich hatte mit Garry eine Vereinbarung, dass ich ihm jedes Jahr ein oder zwei Talente vorstellen darf, die er dann einem kritischen Blick unterzieht. Mit Vincent und seinem Vater trafen wir also in Berlin auf Garry, der sich ausschließlich mit Vincents Vater Christof und mir unterhielt, bevor er sich plötzlich zu Vincent drehte und fragte: „Hast Du ein Schachspiel dabei?“ Das hatte er natürlich und die beiden zogen sich für ein oder zwei Stunden zurück. Danach hatte Garry eine sehr positive Bilanz zum großen Talent von Vincent erstellt. Selbiges hatte er Jahre zuvor mit der ihm von mir vorgestellten Katerina Lagno praktiziert – mit dem Unterschied, dass er sofort nach der gemeinsamen Analyse in ihrem Beisein verkündete: „Sie wird mal in die Top 10 der Frauen vorstoßen.“ Katerina war beeindruckt und sprachlos, dass Garry in so kurzer Zeit all ihre Schwächen und Vorlieben erkannt und aufgezählt hat.

Was macht ihnen daran Spaß, Talente auf diese Weise zu fördern?
Ich finde es inspirierend, wenn Kinder solch unfassbares Wissen im Kopf haben und es so meisterlich anwenden.

Auf Bitten Friedels testet Kasparov im Jahr 2015 das Können des jungen Vincent Keymer.

Vor 40 Jahren: Frederic Friedel und Garry Kasparov feilen an einer frühen ChessBase-Version.

Aber auch eines Ihrer Familienmitglieder genießt seit langem den Respekt von Kasparov!
(lacht) Ja, das liegt nun inzwischen über vier Jahrzehnte zurück: Garry besaß einen der ersten Computer in der Sowjetunion. Er wusste noch gar nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Ich schickte ihm einige Computerspiele und er entdeckte „Hopper“: Mit einem Frosch galt es Punkte zu ergattern und es bereitete ihm große Freude. Natürlich ging es ihm stets darum, seinen Highscore in die Höhe zu treiben. Als er mich das erste Mal besuchte, sagte er: „Ich bin der beste Hopper-Spieler von Baku.“ Ich machte ihn neugierig: „Es gibt jemand, der Dich schlagen kann!“ Er fragte, ob ich es sei. Ich schüttelte den Kopf. „Deine Frau?“ Kopfschütteln. „Ach, was, Martin?“ (der damals elf Jahre alt war). Als ich wieder den Kopf schüttelte und blickte er ungläubig auf den dreijährigen Tommy. Garry spielte zuerst, und legte eine neue persönliche Bestleistung mit etwa 16.000 Punkten vor – Tommy machte anschließend mehr als doppelt so viele Punkte. Für Garry war klar: Im Westen wächst eine Generation von Computergenies heran, während die sowjetische Computerindustrie noch nicht mal in den Kinderschuhen steckte. Als ihm etwas später Atari einen Werbevertrag anbot, verhandelte Garry: Er schlug 50 Prozent mehr heraus, dafür sollten die Rechte an seinem Namen mit Computern statt mit Geld bezahlt werden. Ein gutes Geschäft für beide Seiten. Mit diesen Rechnern gründete er in die ersten Computerclubs in der Sowjetunion. Immer, wenn er im Westen unterwegs war, kaufte er Computerzubehör ein und kam schwer bepackt zurück nach Hause.

Spielen Ihre Kinder oder Enkel denn auch Schach?
Der einzige, der größeres Interesse am Schach hatte, ist mein Sohn Thomas. Er hat Pokale gewonnen, sich dann aber für eine andere Karriere entschieden: Er ist einer der besten Programmierer geworden und arbeitet in der Firma seines Bruders Martin. Meine Enkel haben andere Hobbys und das ist auch ganz gut so.

Und Sie selbst? Sie leben für Schach, aber man findet Sie nicht in der Ratingliste.
Mein Vater, der Stadtmeister in Bayern geworden war, brachte mir das Spiel bei, als ich vier Jahre alt war. Als Jugendlicher habe ich in Hamburg dann viel gespielt. Ich hatte wohl eine Spielstärke, die heute etwa 2000 Elo entsprechen würde und spielte am ersten Brett meines Clubs. Ich hatte fast keine Theoriekenntnisse und meine Vereinskollegen lachten, wenn ich beim zweiten, dritten Zug schon zehn Minuten überlegte. Doch ich konnte mich meist taktisch durchsetzen. Ich wusste aber, dass wenn ich mein ganzes Leben dem Schach widme, ich maximal ein schwacher IM werden könnte. Alles andere – Studium, Beruf, Familie – aufgeben, um das zu erreichen? Ich habe mich also anders orientiert.

Mehrere akademische Anläufe

Stattdessen entschieden Sie sich, zu studieren.
Ja, ich habe mit Medizin angefangen, aber nach einem halben Jahr aufgehört. Es war reines Auswendiglernen von lateinischen Begriffen für die Körperteile – das war mir zu wenig Nachdenken. Dann nahm ich ein Mathematikstudium auf, weil ich Informatik lernen wollte – das gab es damals noch nicht als eigenständiges Fachgebiet. Aber ich entdeckte, dass ich kein Mathematik-Gehirn besitze. Also entschloss ich mich zu einem Philosophiestudium, mit Nebenfach Linguistik. In der Philosophie kann man sich mit den Grundproblemen aller Wissensgebiete auseinandersetzen. Das entsprach meinem Drang zum logischen Nachdenken wesentlich besser. Ich machte mein Examen, verwarf dann aber den Gedanken, zu promovieren. Denn schließlich wäre es bei der wissenschaftlichen Karriere darum gegangen, auf das Ausscheiden eines Professors zu warten und dann mit meinen besten Studienfreunden um diese freiwerdende Stelle zu kämpfen. Das wollte ich nicht.

Und dann?
Es ergab sich die Gelegenheit, in den Fernsehwissenschaftsjournalismus einzusteigen. Ich nahm Kontakt zu einer der Größen der damaligen Zeit auf: Hoimar von Ditfurth. Ich wirkte bei einem Zweiteiler mit, in dem wir den Bau der Pyramiden von Ägypten erklärten. Nach weiteren Beiträgen schlug ich irgendwann vor, etwas über schachspielende Computer zu machen. Der ZDF-Beitrag sorgte für so viel Aufsehen – wir erhielten über 95.000 Briefe von Zuschauern –, dass der NDR mich bat, einen zweiten Beitrag über das Thema zu produzieren!

Danach übernahmen Sie eine spannende publizistische Aufgabe?
Ja, das Computerschachthema hatte mich im Griff. Ich wurde Chefredakteur der Zeitschrift Computerschach und Spiele (CSS), die 22 Jahre lang alle zwei Monate erschien.

„Praktikum“ beim Schach-Magazin 64

Wie das? Sie hatte doch bislang nur im TV journalistische Erfahrung?
Tatsächlich erlaubte mir Otto Borik, der damals schon das Schach-Magazin 64 machte, bei einer Ausgabe mitzumachen. Er lud mich zu sich ein und zeigte mir, worauf es bei der Zeitschriftenproduktion ankommt. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Schon kurz danach kam es zu einer weiteren Gründung?
Bei der ersten Begegnung mit Garry Kasparov wollte er damals wissen, wie Computer funktionieren – und ich im Gegenzug was die Maschinen für Schach tun können. Da kam die Idee auf, eine Datenbank für Schach zu erstellen. Kurz danach lernte ich Matthias Wüllenweber kennen, der den Prototyp einer Schachdatenbank entwickelt hatte. Wir zeigten seine Datenbank Kasparov, der sprachlos war, als er das sah. Er hat uns ermuntert, eine Firma zu gründen und die Datenbank, die wir ChessBase nannten, für die Schachwelt verfügbar zu machen.

Wie ging es weiter mit ChessBase und woher nahmen Sie die Ideen?
Programmiert habe ich nichts. Matthias Wüllenweber hat alles entwickelt. Ich habe nur Ideen beigesteuert. Ein Beispiel: Ich habe vorgeschlagen, dass unser Schachprogramm Fritz während der Partie Züge kommentieren sollte. Ich hatte damals für das Weltraum-Spiel „Elite“ automatisch erzeugte Planetenbeschreibungen mitentwickelt. Ich bat Matthias, eine ähnliche Funktion auch für Fritz zu implementieren. Das Programm lernte daraufhin sprechen – er konnte plötzlich Spielsituationen angemessen und amüsant kommentieren. Das war damals bahnbrechend. Und wir sehen das aktuell wieder: Fritz 20 spricht nun mit KI-Stimmen.

Zukunft der Schachprogramme

Wo führt das hin und wer spielt überhaupt noch gegen Computerprogramme, die über 3500 Elopunkte haben?
Das ist eine Frage, die Fritz 20 überzeugend beantwortet: Das Programm lässt sich der Spielstärke des Nutzers anzupassen, wobei die gesamte Programmintelligenz dafür verwendet wird, Chancen für den Gegner aufzubauen. Auch kann das Programm seine Partien im Stil berühmter Schachspieler gestalten. Es macht einfach Spaß, virtuell gegen Morphy oder Lasker zu spielen.

Was kann da noch folgen?
Es gibt einen sehr großen Markt, den wir noch ansprechen müssen: Die Nichtschachspieler.  Hier kann ich mir eine Kombination aus „Fritz 20“ und „Fritz & Fertig“ vorstellen. Wir können damit viele junge Menschen für Schach begeistern.

ChessBase.com

Die Nachrichtenseite von ChessBase war sehr erfolgreich. Wann und wie wurde sie eingerichtet?
Mitte der 1990er-Jahre haben wir das Internet entdeckt. Ich habe einen vernünftigen Provider gefunden und gemeinsam mit John Nunn eine erste ChessBase-Seite aufgesetzt. Das war anfangs ziemlich schlicht, aber dann haben wir ein modernes CMS (Content Management System) implementiert. Am 12. September 2001 schrieb ich den allerersten Bericht im neuen System – über die Terroranschläge auf das World Trade Center, wo ich einige Jahre zuvor bei der Weltmeisterschaft Kasparov gegen Anand weilte.
Unsere neue (englische) Nachrichtenseite wuchs und schaffte es zeitweilig, über 100.000 Besucher pro Tag zu registrieren. Das war damals eine ziemlich sensationelle Zahl. Ich habe die Seite zwanzig Jahre lang gefüllt, mit meist drei Berichten pro Tag – Weihnachten, Geburtstage, Ferien, es durfte nie ein Tag ausgelassen werden. Heute schreibe ich im Schnitt drei Berichte pro Woche.

Expansion

Interessant ist auch, dass Sie viele Jahre nach Ihrem „Praktikum“ bei Otto Borik ebenfalls zum erfolgreichen Ausbilder wurden?
Sie meinen Sagar? Ja, der junge Sagar Shah schickte mir zwei Beiträge, die ich auf der Nachrichtenseite veröffentlichte. Er schrieb weitere, und ich begann sie intensiv zu redigierten. Ich markierte alle Stellen, die ich in seinem Text verändert hatte, so dass er das sehen konnte. Das machte ich bei anderen Autoren auch. Aber Sagar war der einzige, der aus jeder Korrektur lernte, seine Fehler nicht wiederholte. Er wurde ein sehr guter Autor. Irgendwann entwickelten wir mit Geschäftsführer Rainer Woisin die Idee, ChessBase India ins Leben zu rufen. Ein absolutes Erfolgsprojekt in einem schnell wachsenden Markt mit all den tollen indischen Spielern. Und Sagar wurde einer der besten Freunde meiner Familie.

Der „Auszubildende“ Sagar Shah gehört inzwischen auch zur Familie Friedel.

Nun möchte Ihre Frau, dass Sie etwas kürzer treten. Müssen Ihre Fans befürchten, dass Sie sich zurückziehen?
Ach, ich versuche ja seit 15 Jahren, kürzer zu treten. Aber es gibt dann immer wieder neue Ideen und Projekte. Außerdem schicken mir Freunde aus der Schachwelt ständig neue Themenvorschläge. Also schreibe ich weiter. Auch Bücher, von denen ich zwei neue fertig habe. Natürlich möchten Ingrid und ich gerne noch mehr Zeit mit unseren Enkeln verbringen, und vielleicht noch einige neue Ziele, z.B. Südafrika und Neuseeland, bereisen – wir haben überall Freunde und müssen die Zeit nutzen, solange wir fit genug sind.

Herr Friedel, alles Gute für Ihre Pläne. Wir wünschen Ihnen einen tollen Geburtstag, ein kreatives neues Lebensjahrzehnt und danken Ihnen herzlich für das Gespräch!

Weiterführende Lesetipps und Links:

Interessante und unterhaltsame Geschichten und Bilder rund um das Schachspiel. Studien und Probleme, und wie Amateure und Weltklassespieler auf sie reagieren.

Interview mit Matthias Wüllenweber im Schach-Magazin 64 1/2022

Interview für Schachgeflüster im Schach-Magazin 64 11/2022

Garry Kasparov on how it all started

Friedel on Anand — the makings of a genius

The most valuable chess guestbook ever

Super-talents and the secret of success

Testing CheckMatle – with Svitlana

Für alle, die auf den Geschmack gekommen sind und noch mehr von Frederic Friedels Geschichten hören möchten:

Und hier noch ein Video mit Frederic Friedel und Hou Yifan:

Zur Person

Frederic Alois Friedel (geboren am 2. August 1945, Foto: ChessBase, alle anderen Fotos: Archiv Frederic Friedel) ist ein Sprachwissenschaftler und Wissenschaftsjournalist mit dem Schwerpunkt Computerschach. Nachdem er als Sohn eines deutschen Herpetologen „im indischen Dschungel aufwuchs“ und gleichzeitig eine britische Schulausbildung durchlief, ging er als Teenager nach Deutschland – ins Heimatland seiner Vorfahren. Er studierte Philosophie, Linguistik und Wissenschaftstheorie in Hamburg und Oxford. Anschließend produzierte er als TV-Journalist Sendungen für ARD und ZDF, zwei davon über Computer und Computerschach. Ab 1983 veröffentlichte er die Zeitschrift Computerschach & Spiele, deren Chefredakteur er bis 2004 war. Zusammen mit Matthias Wüllenweber gründete er 1987 das Unternehmen ChessBase. 1997 war Friedel als Berater für Garri Kasparow beim legendären Wettkampf gegen IBM’s Schachcomputer Deep Blue tätig. Er schreibt Bücher und Artikel über Computerschach und Logikrätsel, darunter Schach am PC (1995) und Schachgeschichten (2022, mit Christian Hesse). Friedel lebt in Hamburg, ist Vater von zwei Söhnen, Großvater von zwei Enkeln.


Stefan Liebig, geboren 1974, ist Journalist und Mitinhaber einer Marketingagentur. Er lebt heute in Barterode bei Göttingen. Im Alter von fünf Jahren machten ihn seltsame Figuren im Regal der Nachbarn neugierig. Seitdem hat ihn das Schachspiel fest in seinen Bann gezogen. Höhenflüge in die NRW-Jugendliga mit seinem Heimatverein SV Bad Laasphe und einige Einsätze in der Zweitligamannschaft von Tempo Göttingen waren Highlights für den ehemaligen Jugendsüdwestfalenmeister.

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