Der Hinweis, dass frühe Verlierer am Ende doch oft gewonnen haben, sollen die Freude der Fans von Ding nicht trüben, sondern sind eher ein warnendes Beispiel. Als ich mir einen der Live-Streams mit Kommentaren anhörte (ich habe vier Streams mit Teams von interessanten Kommentatoren gefunden), stellte einer GM Daniel Naroditsky dort dasselbe fest und erinnerte an 1886, als der erste Weltmeister Wilhelm Steinitz seinen Wettkampf gegen Zukertort mit dem miserablen Ergebnis von 1:4 begann, bevor er den Kampf umdrehte. Aber man muss nicht in die Zeit der Pferdekutschen zurückgehen, um solche Beispiele zu finden.
Der legendäre Bobby Fischer hatte nicht gerade den perfekten Start, als er seinen Angriff auf den Weltmeistertitel mit zwei Niederlagen begann. Zugegeben, die zweite Niederlage war kampflos, aber die erste war ganz allein seine Schuld.

Im Nachhinein betrachtet, in Kenntnis des Endergebnisses und der damaligen Elozahl der beiden Spieler, schien es, als wäre es eine ausgemachte Sache gewesen, dass Fischer gewinnen würde, bevor die vollen 24 Partien gespielt waren. Am Anfang war es jedoch alles andere als das. Es wurde gemunkelt, dass Fischer bereits plante, das Match ganz abzubrechen und in die USA zurückzukehren.
Und was ist mit dem absolut verrückten Match von 1984? Der junge Garri Kasparov war eigentlich der Elo-Favorit gegen den altgedienten Weltmeister Anatoli Karpov, obwohl man das leicht vergessen kann.
Aber es war nicht so, das Kasparov die Weichen gleich auf Sieg setzte. Vielmehr lag Karpov nach nur neun Partien mit 4:0 in Führung.

Kasparov profitierte von der damaligen Regel, nach der ein Spieler sechs Siege erreichen musste, um den Wettkampf zu gewinnen. (Ein kleiner Hinweis: Dies waren die gleichen Bedingungen wie beim Match zwischen Capablanca und Aljechin im Jahr 1927).

Der Kampf 1984 war zermürbend und dauerte mehrere Monate | Foto: ITAR-TASS
Kasparov machte sich daran, dies auszunutzen, und was folgte, war das schachliche Äquivalent zu den Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs. Der Kampf zog sich über mehr als 40 Partien hin, bis er schließlich ohne Sieger abgebrochen wurde. Den Wiederholungskampf mit veränderten Regeln gewann Kasparov dann.
Selbst Ding Liren verbrachte sein gesamtes Match im Jahr 2023 damit, den Rückstand gegen Ian Nepomniachtchi aufzuholen. Wenn also jemand weiß, welche emotionalen Auswirkungen und welche Stärke erforderlich sind, dann er. Er wird sich freuen, den ersten Schlag getan zu haben, aber er wird sich keine Illusionen darüber machen, was dies bedeutet. Was er aber mit Sicherheit weiß, ist, dass seine Ängste vor eine drastischen Niederlage ausgeräumt sind - wenn es sie gab.
Die große Frage, die sich viele Menschen vielleicht stellen, lautet, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Wurde Gukesh nicht als großer Favorit gehandelt? Ein enger Freund teilte mir zu Beginn der Partie mit: „Das Massaker hat begonnen“. Ein paar Stunden später blinzelte er verwirrt, als klar wurde, dass Ding Liren das Spiel mit ziemlicher Sicherheit gewinnen würde.
Es mag etwas ironisch klingen, dass einer derjenigen, die dieses Ergebnis vorhersagten, Magnus Carlsen war. Ironisch deshalb, weil er, wie in einem früheren Artikel erwähnt, gerade eine umfassende Bewertung der Schachfähigkeiten sowohl von Ding (jetzt) als auch von Gukesh abgegeben hatte, und die Bewertungen waren nicht gerade schmeichelhaft für den chinesischen Spieler. Trotzdem hatte er vorausgesagt, dass die erste Partie oder zumindest die ersten Gewinnchancen an Ding gehen würden, obwohl er nicht von seinem Standpunkt abwich, dass Gukesh der klare Favorit auf den Sieg war. Was macht das für einen Sinn?
Sein früherer Sekundant Jon Ludwig Hammer, war der erste, der sich mit diesem Thema befasste und diese beiden scheinbar widersprüchlichen Aussagen erklärte.
Er merkte an, dass diese Bemerkung von Magnus unmöglich auf dem tatsächlichen Spiel und den Ergebnissen der beiden Spieler im vergangenen Jahr beruhen konnte, sondern auf seinem Wissen und seiner Erfahrung mit dem extremen Stress und Druck, den die Weltmeisterschaft auf einen ausübt. Das ist für jeden Spieler eine enorme Belastung, aber ganz besonders für einen Neuling. Magnus Carlsen selbst ging als Elo-Favorit in den Titelkampf gegen Anand, schaffte es aber irgendwie, auszurutschen und seinen Springer auf dem Brett fallen zu lassen. Auch wenn sein Gesicht und seine Körpersprache es den Zuschauern nicht verrieten, war es keine Frage, dass dies das Ergebnis angespannter Nerven war.

Magnus ließ in seiner ersten Partie gegen Anand seinen Springer fallen
Das Problem, bei solch hochkarätigen Veranstaltungen die Nerven zu verlieren, ist weit verbreitet und sicherlich nicht nur im Schach zu finden. Das hat nichts mit mangelnder mentaler Vorbereitung von Gukeshs Team zu tun, denn letztlich gibt es buchstäblich nichts, was einen wirklich darauf vorbereiten kann. Es ist eine Feuerprobe, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Man muss sie einfach erleben. Positiv zu vermerken ist, dass der junge Inder in seiner gesamten Laufbahn eine außergewöhnliche Gelassenheit und Nervenstärke bewiesen hat, und Magnus selbst betonte, dass Gukesh es immer wieder geschafft hat, sich bei großen Anlässen von seiner besten Seite zu zeigen. Es besteht kein Zweifel daran, dass er sich von diesem Rückschlag bald erholen wird, wenn nicht schon in der nächsten Partie, aber das ist nicht die gute Nachricht. Die wirklich gute Nachricht für Schachfans auf der ganzen Welt ist, dass wir ein Match haben!
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