Kramnik über Schach, Anand, Topalov und seine Zukunft
Ein Interview mit Vlad Tkachiev
Fotos: Irina Stepaniuk, Übersetzung: Bastian Pielczyk
Von diesem Interview habe ich lange geträumt. Seit dem Ende der 1990er Jahre
waren Vladimir und ich nur selten einer Meinung gewesen, und nun bekam ich endlich
die Chance, alle Gegensätze herauszuarbeiten. Doch dieser Plan schlug von Anfang
an fehl - erstens, weil Kramnik im Vorfeld unseres Gesprächs schon eine Reihe
anstrengender Interviews gegeben hatte, und zweitens, weil es nicht leicht ist,
jemanden mit verzwickten und umstrittenen Fragen zu zermürben, wenn dieser Jemand
ein so ausgesprochen angenehmer Gesprächspartner ist. Selbst bei der Terminabsprache
war Vladimir nicht nur tadellos höflich, sondern zeigte zeitweise sogar aristokratische
Umgangsformen. So schwand meine Angriffslust, und ich wollte mit diesem großartigen
Schachspieler einfach Themen besprechen, die mich interessierten. Was daraus
wurde, sehen Sie hier…
Vlad Tkachiev: Vladimir, hast du schon einmal versucht, deinen Biorhythmus
in die Turnierplanung einzubeziehen? Ich spiele zum Beispiel immer im Januar
schlecht.
Vladimir Kramnik: Für mich ist der Winter eine schwierige Zeit. Beispielsweise
läuft für mich das Turnier in Wijk aan Zee, an dem ich regelmäßig teilnehme,
stets schlecht, während ich in Dortmund gut spiele. Im Winter bekomme ich einfach
nicht genug Tageslicht. Ich gehe spät schlafen und stehe spät auf, so dass ich
in Wijk aan Zee nahezu kein Tageslicht sehe. Es gibt also vollkommen rationale
Gründe für diese Unterschiede.
V.T.: Als außenstehender Beobachter hat man den Eindruck, dass du in den
letzten Jahren versucht hast, einen schärferen Spielstil zu entwickeln. Stimmt
das?
V.K.: Nein, ich habe das nicht bewusst versucht. Mein Spiel wird immer von meiner
Stimmung beeinflusst, die sich nach dem Verlust des Weltmeistertitels natürlich
verändert hatte. Vielleicht wurde ich gleichgültiger oder fühlte mich befreit.
Ich lege mich vor einem Turnier nie auf einen Spielstil fest, und selbst wenn
es einige Veränderungen gibt, liegen sie außerhalb meiner Kontrolle.
V.T.: Viele behaupten, dass dir die tiefgreifende Umgestaltung deines
Stils während der Vorbereitung auf den Weltmeisterschaftskampf gegen Kasparov
später hinderlich wurde. Enthielt der Sieg gegen Kasparov vielleicht schon die
Saat der späteren Niederlage gegen Anand?
V.K.: Vielleicht, aber man muss sich immer entscheiden, denn letzten Endes halte
ich mich nicht für fähig, in jedem beliebigen Stil hervorragend zu spielen.
Es stimmt, um Kasparov zu schlagen, musste ich deutliche Veränderungen vornehmen,
die sich allerdings schon eine gewisse Zeit in meinem Spiel abgezeichnet hatten.
Danach wollte ich mich erneut verändern, indem ich mit 1. e4 eröffnete, was
aber aus verschiedenen Gründen nicht gut lief. Vor allem fehlte mir eine gewisse
innere Ausgeglichenheit. Es gab damals viel Gezänk und politische Probleme,
mit denen ich nie gerne beschäftigt hatte, doch aufgrund der verfahrenen Situation
fühlte ich mich verpflichtet, einzugreifen. Vielleicht lag ich damit falsch
und hätte besser… Wie auch immer, die scharfe Spielanlage entsprach nicht länger
meiner inneren Verfassung. Mein Stil ist ohnehin eher positionell, und scharfes
Spiel liegt mir nicht. Natürlich hast du teilweise Recht, aber ich bereue es
nicht. Immerhin habe ich viel erreicht, bin drei Mal Weltmeister geworden. Gegen
Anand habe ich verloren, aber das hätte mir auch in meiner absolut besten Form
passieren können.
V.T.: Mir scheint, als hättest du den Wettkampf gegen Kasparov schon vor
der ersten Partie gewonnen gehabt, da er einen solchen Kramnik nicht erwartet
hatte. Später überraschte dich Anand in einer vergleichbaren Weise, indem er
riesige Anstrengungen unternahm, dich ab den ersten Zügen in einen handfesten
Kampf zu verwickeln.
V.K.: Im Match gegen Anand lief alles von Anfang an schief, so wie bei Kasparov,
als er gegen mich spielte. Ich bin bis zu einem gewissen Grad Fatalist, und
glaube, dass manche Dinge einfach so ausgehen, wie sie ausgehen sollten. Natürlich
kann Kasparovs Vorbereitung nicht mit der Anands verglichen werden - Anand machte
seine Sache zweifellos viel besser, intelligenter und schlauer. Er hat mich
tatsächlich komplett überlistet.
V.T.: Du wurdest völlig überrascht?
V.K.: Ja, meine Vorbereitung war nicht gut gelaufen, so dass ich praktisch nichts
für Weiß in der Hand hatte, obwohl ich sehr viel gearbeitet hatte, mehr als
vor dem Match gegen Kasparov. Meine Schwerpunktsetzungen in der Vorbereitung
zahlten sich einfach nicht aus. Ich hatte absolut nichts gegen die Meraner Variante,
obwohl ich Monate daran gearbeitet hatte, und stellte fest, dass ich bis ungefähr
zur zehnten Partie einfach nur Remisen anstreben müsste, konnte mich aber zu
einem solchen Zynismus nicht durchringen - immerhin handelte es sich um einen
Weltmeisterschaftskampf. Somit schlugen gewissermaßen zwei Herzen in meiner
Brust, obwohl diese Strategie meine einzige Chance war.
V.T.: Aber du hattest auch mit Schwarz kein einfaches Leben.
V.K.: Nein, mit Schwarz war eigentlich alles in Ordnung. Ich schuf mir selbst
Probleme, als ich gewinnen musste, zum Beispiel in der sechsten Partie. Es ist
einfach so, dass Anand besser spielte und den Wettkampf in jedem Fall gewonnen
hätte, doch ich beging Harakiri.
V.T.: Aber muss man nicht kräftige Heilmittel einsetzen, um eine optimale
Form zu erreichen?
V.K.: Das mache ich nicht mehr. Das waren die 90er…
V.T.: Das meine ich doch gar nicht, sondern, dass du dir selbst große
Beschränkungen auferlegt hast: die Russische Verteidigung, die Berliner Verteidigung,
die, nebenbei gesagt, immer stärkeren Angriffen ausgesetzt sind. Schließlich
können wir uns noch an den alten Kramnik erinnern - Sizilianisch gegen jeden,
bereit für einen offenen Schlagabtausch. Hast du vielleicht einen Fehler gemacht?
V.K.: Ja, aber mit zunehmendem Alter hat man leider nicht unbedingt eine Wahlmöglichkeit.
Erstens, schränkt sich jeder ein. Selbst Kasparov spielte immer das Gleiche.
Zudem ist das eigene Gedächtnis nicht mehr das, was es im Alter von 20 Jahren
war, und man kann nicht mehr so viel Arbeit investieren wie früher: mit Familie
und einem Kind. Natürlich, wenn man ein Besessener ist und 24 Stunden am Tag
arbeitet, kann man alle Eröffnungen spielen, aber das ist kaum möglich, wenn
man Zeit mit seiner Familie verbringen und auch die schönen Seiten des Lebens
nicht zu kurz kommen lassen möchte.
V.T.: Besonders, wenn man in Paris lebt?
V.K.: Mag sein. In den letzten Jahren hat sich ein neuer Bekanntenkreis entwickelt,
dazu gehören bestimmte gesellschaftliche Verpflichtungen und so weiter. Ich
bin nicht mehr bereit, alles zu opfern, um in Turnieren einen halben Punkt mehr
zu erreichen. Deshalb treffe ich eine Entscheidung und arbeite mit dem, was
mir zur Verfügung steht, und dann läuft es eben so, wie es läuft. Ich weiß natürlich,
dass diese Herangehensweise Nachteile hat, aber was soll ich sonst machen? Nenn
mir eine Alternative und ich werde darüber nachdenken. Ich sehe keine.
V.T.: Ein einziges Mal in diesem Interview möchte ich mir erlauben, dir
ein offenes Kompliment zu machen.
V.K.: Aber das wirst du bestimmt mit heimtückischen Fragen kompensieren! (lacht)
V.T.: Im Bereich der Eröffnungstheorie halte ich dich für einen der produktivsten
Spieler der Schachgeschichte. Darüber hinaus gehört dein positionelles Verständnis
zu den reinsten, die mir bekannt sind. Stimmst du mit dieser Einschätzung überein?
V.K.: Ich habe schon immer sehr viel gearbeitet und wirklich viel zu Tage befördert,
mehr als andere. Vielleicht nicht mehr als Kasparov, aber durchaus auf einem
vergleichbaren Niveau. Dennoch verfällt immer ein großer Teil davon. Nur wenig
kommt zur Anwendung; vielleicht 5% bis 10%. Das ist ein Problem für alle Schachspieler,
weshalb manche faul werden. Beim Fußball liegen die Dinge einfacher: man geht
trainieren und weiß, dass Laufarbeit und Schusstraining einem später zugute
kommen werden. Aber beim Schach kann einem genauso gut das Gegenteil passieren:
ich habe oft viel Arbeit in das ein oder andere Abspiel gesteckt, das dann jemand
einen Zug früher widerlegt, so dass man alles in den Mülleimer schmeißen kann.
Das ist meines Erachtens der Hauptgrund dafür, dass Schachspieler verglichen
mit anderen Sportlern relativ wenig arbeiten. Wie rein mein positionelles Verständnis
ist, weiß ich nicht. Das müssen andere beurteilen, aber ich stimme dir zu, dass
es meine Spezialität ist. Das Positionsspiel ist eine sehr komplexe Angelegenheit.
Mir ist schon häufiger aufgefallen, dass es auf kurzfristigen Berechnungen basiert.
Als Karpov schwächer wurde, lag es nicht an seinem abnehmenden Verständnis,
sondern einfach daran, dass er kurze Varianten falsch berechnete. Wenn er einen
Zug mit einem bestimmten Plan ausführte, und mit dem nächsten Zug wieder von
dem eingeschlagenen Weg abwich, konnte man einen anderen Eindruck bekommen.
Wenn ich nicht in Form bin, verstehe ich Schach auch nur schlecht, während in
guter Form alles in Ordnung zu sein scheint. Aber insgesamt ist das Positionsspiel
meine Stärke, so wie spielbare Endspiele.
V.T.: Ich hatte den Eindruck, dass du in den letzten Jahren in dieser
Hinsicht etwas nachgelassen hast. Ich kann mich an einige gewonnene Stellungen
erinnern, die du nicht…
V.K.: Nein, gewonnene Endspiele habe ich schon immer schlecht gespielt, und
ich kann nicht einmal sagen, woran das liegt. Vielleicht entspanne ich zu früh.
Wenn die Bewertung noch unklar ist, += oder =+, spiele ich gut und erreiche
gewonnene Endspielstellungen, die ich dann allerdings manchmal verhaue, so wie
in meinen jüngeren Jahren. Ehrlich gesagt habe ich mir nie die Zeit genommen,
um über meinen eigenen Stil nachzudenken, wohingegen ich dir eine umfassende
Analyse von Anand geben könnte.
V.T.: Sehr gerne.
V.K.: Ich habe ihn immer für ein riesiges Talent gehalten, eines der größten
der gesamten Schachgeschichte. Jeder Champion hat eine besondere Spezialität,
und seine ist es, in jeder Stellung aus dem Nichts heraus Gegenspiel zu erzeugen.
Er hat die erstaunliche Fähigkeit, unablässig an die Grenzen zu gehen, so dass
es ihm selbst in einer Abtauschvariante der Slawischen Verteidigung gelingt,
einen Angriff zu starten und etwas Kreatives zu machen. Er spielt zudem meisterhaft
mit den Springern, sogar noch besser als Morozevich - wenn seine Springer aktiv
werden, insbesondere in Richtung des Königs, ist es vorbei; es ist unmöglich,
sich dagegen zu wehren und sie fegen einfach alles fort, was ihnen im Weg steht.
Ich habe festgestellt, dass man sie besser beseitigt, wenn man gegen ihn spielt.
Überhaupt hat er sich in den letzten Jahren stark verbessert, ungefähr ab 2002.
Er ist ein genialer Schachspieler, aber hat früher im Großen und Ganzen nicht
genug gearbeitet.
V.T.: Aber wie hat er es geschafft, sich zu verbessern? Hat ihm die Heirat
geholfen?
V.K.: Vielleicht. Er ist erwachsener geworden, während ihm früher die Charaktereigenschaften
fehlten, die man braucht, um Weltmeister zu werden. Ich erinnere mich, dass
1995 gegen Kasparov ein kleiner Stups ausreichte, um ihn zusammenbrechen zu
lassen. Im Wettkampf gegen mich war das ganz anders. Außerdem arbeitet er mehr,
so dass seine Eröffnungsvorbereitung jetzt eine der besten, wenn nicht sogar
die beste, ist. Momentan sehe ich niemanden, der es mit ihm aufnehmen kann,
wenn er in Form ist. Vielleicht noch Carlsen in allerbester Verfassung, aber
vermutlich auch er nicht. Ich glaube, dass er die Bühne erst verlassen wird,
wenn er sich selbst schwächt und sein extrem hohes Niveau nicht mehr aufrechterhalten
kann.
V.T.: Und seine Schwächen?
V.K.: Das Problem ist, dass es kaum welche gibt…
V.T.: Also ist es heute unmöglich, die psychologische Karte gegen ihn
zu spielen?
V.K.: Ja, auch wenn ich nie vorhatte, etwas auf dem Niveau des Zuschlagens von
Türen zu machen (offensichtlich spielt er damit auf den wohlbekannten Vorfall
während der zehnten Partie des Matches zwischen Anand und Kasparov 1995 an,
als Kasparov, zumindest nach den Aussagen vieler Zeugen, die Tür laut zuschlug,
um seinen Gegner zu beeinflussen - V.T.). Das würde heute wahrscheinlich sowieso
nicht mehr funktionieren. Seine Hauptschwäche ist, dass er nicht mehr so jung
ist und ein Kind hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich weiterhin
so abrackern wird wie früher. Aber momentan ist er, was das Spiel angeht, der
beste der Welt.
V.T.: Und die Verteidigung in passiven Stellungen?
V.K.: Er bekommt keine passiven Stellungen, weil sie sofort aktiv werden.
V.T.: Es scheint mir, als habe er eine große Schwäche, die man jedoch
nur schwer ausfindig machen kann - sein Spiel in blockierten Stellungen. Ich
könnte ein halbes Dutzend Beispiele dafür nennen.
V.K.: Er hat seine Schwächen. Zum Beispiel hat er kein sehr ausgeprägtes Gespür
für bestimmte Nuancen und Zugreihenfolgen. Aber im modernen Schach kann man
sein gesamtes Spiel so anlegen, dass es zum eigenen Stil passt - das ist das
Problem. Mit einem Computer kann man seine eigene kleine Schachwelt erschaffen
und in ihr leben. Ok, blockierte Stellungen, aber wahrscheinlich kennt er sich
dann auch darin aus. Wenn du mir sagen kannst, wie man in der Meraner Variante
alles blockiert und trotzdem einen leichten Vorteil erringt, wäre ich dir sehr
dankbar.
Ich denke, dass Anand vor allem im Hinblick auf sein Spiel keinesfalls hinter
Kasparov zurücksteht, aber einfach etwas faul und entspannt ist, sich nur auf
Wettkämpfe konzentriert. In den letzten 5 bis 6 Jahren hat er einen qualitativen
Sprung gemacht, aufgrund dessen man ihn zu den großen Schachspielern zählen
kann. Vielleicht wirkt das auf Beobachter anders, aber wenn man ihm gegenübersitzt,
erkennt man die große Bandbreite seines Spiels.
Teil II folgt in Kürze.