Interview mit Garri Kasparov
Garri Kasparov über das „Politische Schachspiel“ in Russland:
„Wenn man keine Ressourcen mehr hat um anzugreifen, muss man den Druck
aufrechterhalten, um sich Möglichkeiten für den Übergang zu einer Gegenattacke
zu bewahren, wenn sich eine solche Möglichkeit
bietet.“
- In unserem Moskauer Studio ist heute der Co-Vorsitzende der Bewegung „Solidarnost“,
Leiter der „Vereinigten Bürgerfront“ und Schachweltmeister Garri
Kasparov. Garri Kimovich, lassen Sie uns mit dem Schachspiel beginnen.
- Darüber haben wir schon lange nicht mehr diskutiert.
- Ja, ja, wir haben schon lange nicht mehr unseren Bauern von e2 nach e4
gezogen. Sie haben die Kandidatur von Anatoly Karpov als neuen Leiter der
internationalen Schachförderung unterstützt. Was gefällt Ihnen an Kirsan
Ilyumzhinov, der sich ebenfalls für diesen Posten bewirbt, nicht?
- Kirsan Ilyumzhinov hat schon seit 15 Jahren das Ruder des internationalen
Schachs in der Hand. Noch länger steht er allerdings schon an der Spitze von
Kalmückien, nämlich 17 Jahre. Es scheint mir schon lange an der Zeit zu sein,
die Resultate seiner Tätigkeit zu beurteilen, sowohl in Kalmückien als auch in
der internationalen Schachbewegung. Während seine Tätigkeit dort in Kalmückien
in den nächsten Monaten im Kreml bewertet wird, wenn es um die Ernennung eines
neuen Chefs der Region geht…
- Oder Nichternennung, sondern fünfte Amtszeit...
- Nun, gegebenenfalls Ernennung oder Wiederernennung. Betrachtet man jedoch die
Verlegung der Sitzung des Staatsrates für Ökologie an einen anderen Ort, eine
Sitzung, die in Elista stattfinden sollte und auf die, meiner Meinung nach,
Ilyumzhinov große Hoffnungen gesetzt hatte, unter anderem auch wegen des Kampfes
um den Posten des FIDE-Präsidenten - diese unerwartete Verlegung in die Moskauer
Umgebung spricht dafür, dass man im Kreml die Möglichkeit, dass Ilyumzhinov auch
in Zukunft den Wohlstand des kalmückischen Volkes vergrößern wird, skeptisch
einzuschätzen scheint. Was jedoch das Schachspiel angeht, so sind die Resultate
hinreichend offensichtlich. Jetzt hat das Schachspiel seinen Platz im Hinterhof
des gesellschaftlichen Lebens eingenommen, und dabei geht es um ein Spiel, das
einmal auf den Titelseiten der Zeitungen zu sehen war, um Turniere, Spiele, die
in Moskau, London, Paris und New York stattfanden. Jetzt finden die
Schachturniere in Naltschik, Astrachan, Dschermuk und Chanty-Mansijsk statt…
- Das sind schöne Städte. Sie sollten sie nicht beleidigen.
- Nein, die Städte sind natürlich schön, nun in Elista, versteht sich das von
selbst, aber wir sehen da nicht einfach einen Rückgang der Popularität des
Schachspiels. In Wirklichkeit nimmt sie im Internet zu, das totale Fiasko der
internationalen Schachföderation FIDE liegt vielmehr bei der mangelnden
Gewinnung kommerzieller Sponsoren. Und das ist natürlich in erster Linie mit dem
Ruf verbunden, den die FIDE hat. Denn Sponsorentum ist nicht einfach nur
Interesse an irgendeiner Sportart oder an irgendeiner Art von Tätigkeit, es ist
in Vielem außerdem eine Beurteilung des Rufes jener Leute, die die entsprechende
Föderation leiten.
- Aber hinter Ilyumzhinov steht ja Herr Dvorkovich, der Berater des
Präsidenten der Russischen Föderation, da haben Sie eine Reputation, sogar zwei
bedeutende Persönlichkeiten, einen Gouverneur und einen bedeutenden Beamten.
- Nun, die Reputation von Dvorkovich wird mit einem anderen Maß gemessen, aber
Ilyumzhinov hat konkrete 15 Jahre Schachführung hinter sich, und in diesen 15
Jahren konnte der Schachsport keine korporativen Sponsoren gewinnen, und wie ich
schon gesagt habe, wurde er in die kaukasus-kaspische Zone verlegt, wo jetzt
alle wichtigen Turniere stattfinden. Dort finden tatsächlich die größten
Turniere statt. So kam vor kurzem der Grand Prix in Astrachan zum Abschluss. Die
Stadt ist natürlich schön, aber dennoch wurden die Turniere des Grand Prix,
sagen wir mal vor 20 Jahren, in Barcelona, Rotterdam und Brüssel ausgetragen.
Mir scheint, dass es da doch einen Unterschied gibt, der sich negativ auswirkt.
- Heißt das, dass es sich um ein internes Problem der Schachspieler
handelt, dass sie nicht mehr so viel verdienen?
- Für mich ist es generell schwierig zu sagen, wie die Einkünfte der heutigen
Schachspieler aussehen, ich spiele schon seit 5 Jahren kein Schach mehr. Aber es
ist dennoch ganz offensichtlich, dass die Möglichkeiten, die der Schachsport
hatte und die in vielem mit den neuen Technologien und dem Internet verbunden
sind und mit der stürmischen Entwicklung des Schachspiels in der Schule auf der
ganzen Welt, total außer Acht gelassen wurden. Und das ist konkret mit der
Tätigkeit von Ilyumzhinov verbunden, mit seinen „Reputationskosten“, den
Korruptionsaffären und Skandalen, auch in Kalmückien. Und deshalb war das
Problem für mich, als offensichtlich wurde, dass Anatoly Karpov bereit war für
den Posten des FIDE-Präsidenten zu kämpfen, quasi gelöst. Abgesehen davon, dass
Karpov Weltmeister war, immer große gesellschaftliche Arbeit geleistet und jetzt
die Bereitschaft um diesen Posten zu kämpfen gezeigt hat, gibt es noch die
Tatsache, dass er versucht hat, als ich vor drei Jahren im Gefängnis war, mich
zu besuchen. Diese Episode hat vieles in unseren Beziehungen geändert. Ich fühle
mich mich jetzt sehr gut, wenn ich Karpov unterstütze. Und ich hoffe, dass es
uns beiden gelingen wird, viel dafür zu tun, dass das Schachspiel an jenen Platz
zurückkehrt, der ihm in der öffentlichen Wahrnehmung zusteht.
- Wann sind Ihnen denn in Bezug auf Kirsan Ilyumzhinov die Augen
aufgegangen? Ihre Kritiker, z.B. Evgeny Bareev, schreiben, dass Ihnen
Ilyumzhinov im Jahr 2002 als Leiter der FIDE noch ganz recht war.
- Nun, das Auftauchen Ilyumzhinovs auf diesem Posten hat mir eigentlich von
Anfang an nicht gepasst. Was das Jahr 2002 und im Allgemeinen den ganzen Artikel
von Großmeister Evgeny Bareev angeht, so ist er natürlich voll von typischen
Verdrehungen, weil sich hinter einzelnen wahrheitsgetreuen Fakten insofern eine
große Lüge verbirgt, da man diese Fakten auf verschiedene Weise darbieten und
beurteilen kann. Im Jahr 2000 verlor ich das Spiel um den Weltmeistertitel gegen
Vladimir Kramnik, und viele in der Schachwelt begannen davon zu sprechen, dass
es Zeit sei jener Spaltung ein Ende zu machen, die seit 1993 existierte, und
dass es für Kasparov doch endlich an der Zeit sei, eine Möglichkeit zu finden
die Beziehungen mit der FIDE in Ordnung zu bringen.
Ich versuchte in diesem gegebenen Fall nicht die Beziehungen mit Ilyumzhinov
aufzubauen, sondern mit dem Präsidenten der FIDE. Leider ist daraus nichts
geworden, weil nicht einmal die Möglichkeiten, die durch die Prager Vereinbarung
offen standen, genutzt wurden. Die Prager Vereinbarung hatten ja alle
führenden Schachspieler unterschrieben, Kramnik, Karpov, alle waren an diesem
Prozess beteiligt, die ganz großen Schachorganisationen und die Sponsoren.
Und in den darauf folgenden 2-3 Jahren hat sich die Situation nicht verbessert,
sondern weiter verschlechtert, weshalb denn auch mein Versuch, dem Wunsch der
Schachwelt zu entsprechen, nichts gebracht hat. Und überhaupt, Evgeny Bareev und
allen anderen, die jetzt versuchen, bestimmte Momente in der Geschichte
des Schachspiels zu verdrehen, würde ich raten die hinterlistigen Absichten der
heutigen Positionen genauer zu analysieren.
- Trägt diese Konfrontation einen politischen Charakter? Denn an der Seite
von Herrn Ilyumzhinov treten ja z.B. jener Arkady Dvorkovich, Berater des
Präsidenten, und viele hochgestellte Beamte auf. Kann man da überhaupt
Widerstand leisten…
- Könnten Sie bitte genauer sagen, wer sich hinter dem Wort „viele“ verbirgt?
- Alexander Zhukov hat, glaube ich, auch Stellung genommen.
- Das ist noch ungewiss! Alexander Zhukov nimmt in dieser Sache eine
Zwischenposition ein. Insgesamt gesehen wird er in keinerlei Hinsicht gegen die
Position Dvorkovichs auftreten, auch wenn seine Position bei weitem nicht so
kategorisch ist. Und diese drei Punkte, die signalisieren, dass noch nicht alles
gesagt ist, nutzen übrigens Dvorkovich und Ilyumzhinov, um jene Leute
einzuschüchtern, die eine Entscheidung zur Aufstellung des Kandidaten der
Russischen Schachföderation treffen müssen. Das ist der Aufsichtsrat der
Russischen Schachföderation. Am 14. Mai, ungeachtet des starken Drucks und der
offensichtlichen Drohungen, haben 17 von 32 für die Nominierung Karpovs als
Kandidaten für die FIDE-Wahl gestimmt. Er ist der Vertreter Russlands, der auf
der Sitzung seiner Schachföderation aufgestellt wurde. Und am 19. Februar wurde
auf dem Kongress des russischen Verbandes Aufsichtsratsrat gegründet und die
neue Satzung der Föderation angenommen. Die Vertreter der Schachorganisationen,
darunter sowohl bedeutende Schachpersönlichkeiten als auch Schachspieler,
stellten eben auch jenen Ausfsichtssrat auf, dessen Beschluss Dvorkovich so
wenig gefällt.
- Dvorkovich sagt, dass die Tagung nicht legitim gewesen sei.
- Dvorkovich kann im Prinzip sagen, was er will. 17 von 32, das ist eine
beschlussfähige Mehrheit. Die Sitzung fand genau an jenem Ort statt, wohin sie
einberufen worden war, im Zentralschachklub, der den von Michail Moiseevich
Botvinnik führt. Die Tatsache, dass die meisten Delegierten nicht in den
privaten Salon von Dvorkovich fahren wollten, ist absolut nachvollziehbar, weil
sie eben jenes Haus auf dem Gogol-Boulevard nicht verlassen wollten, das den
Schachspielern der Sowjetunion und Russlands heilig ist. Nicht in die private
Bank zu gehen, wo sich der Salon von Dvorkovich befindet und wo man ganz
offensichtlich nicht vorhatte die Presse oder jene Leute zuzulassen, die bereit
waren Karpov zu wählen – es waren viele Vertreter der Schachöffentlichkeit
gekommen –, ist ein absolut nachvollziehbarer Wunsch.
Das rüde Verhalten von Dvorkovich wechselt mit offener Kriminalität ab, weil er
Vertreter einer privaten Bewachungsfirma in den Zentral-Schachklub geschickt
hat, die ein von Dvorkovich unterschriebenes Papier hin und her schwenkten und
tatsächlich eine gangsterhafte Besitzergreifung des Gebäudes durchführten. Das
Arbeitszimmer des Vorstandsvorsitzenden der Schachföderation, de facto des
Generaldirektors, Alexander Bach, wurde versiegelt. Man bemächtigte sich der
Buchhaltung, man versiegelte den Computerraum, man bemächtigte sich der
Internetseite der Russischen Schachföderation.
Das ist ein in unserer Geschichte schon fast vergessener Akt eines Überfalls
unter Ausnutzung der eigenen Position, was übrigens genau jenen Instruktionen
widerspricht, die Präsident Medvedjev, der unmittelbare Vorgesetzte Dvorkovichs,
Ende letzten Jahres ausgegeben hat. Und übrigens wurde die Reform der Föderation
gerade deshalb durchgeführt, um die Befugnisse des Vorstands und des
Ausfichtsrates voneinander zu trennen, d.h., keine offensichtliche Einmischung
eines Regierungsbeamten in die Angelegenheiten der Föderation zuzulassen.
Dvorkovich versucht jetzt tatsächlich, indem er seine Position ausnutzt, die
Sache so darzustellen, dass er die Föderation kontrolliert und das Recht hat in
ihrem Namen aufzutreten, was natürlich nicht der Satzung entspricht.
- Wie ist denn das Kräfteverhältnis auf der internationalen Ebene?
Schließlich wird Russland nur eine Stimme haben, aber letzten Endes gibt es,
meiner Meinung nach, 150 Föderationen.
- 169 Föderationen. In Wirklichkeit verstehen wir alle, dass trotz des Prinzips
„ein Land – eine Stimme“ einige Stimmen gleicher sind als andere. In diesem
Zusammenhang ist die Stimme Russlands auch deshalb besonders wichtig, weil die
Schacholympiade, während der der Kongress stattfindet, auf dem der
FIDE-Präsident und alle anderen offiziellen Personen der FIDE gewählt werden, ja
nicht einfach in Russland, sondern in Chanty-Mansijsk stattfindet. D.h., für
viele ist das ziemlich exotisch, und es ist offensichtlich, dass jener, der in
der Russischen Schachföderation siegen wird, die Möglichkeit hat auf
verschiedene Weise die Delegierten zu beeinflussen.
Und damit sind natürlich das hysterische Verhalten von Dvorkovich und die so
überaus heftigen Handlungen seiner Anhänger verbunden. Denn die Situation in der
Welt sieht heute ziemlich beklagenswert aus. Keine einzige große Föderation hat
Kirsan Ilyumzhinov unterstützt. Und wenn vor vier Jahren in Opposition zum
bekannten Geschäftsmann Bessel Kok, der viele Jahre das Schachspiel gefördert
hat – jetzt ist er Chef der tschechischen Telekom und vieler anderer Firmen –,
Ilyumzhinov den Sieg davontrug, was in vielerlei Hinsicht durch die
Stimmen der arabischen Länder, Lateinamerikas und der GUS geschah, so hat die
Situation gerade in diesen Gebieten angefangen sich zu ändern.
Abgesehen von der vernichtenden Niederlage, die Ilyumzhinov jetzt in Europa
erwartet, noch niederschmetternder als vor vier Jahren, bekommt Karpov sogar
schon Unterstützung in Regionen, von denen Ilyumzhinov glaubte, dass es per
Definitionem seine wären. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass die
Schachföderation der Ukraine sich schon auf Karpovs Seite gestellt hat, und
höchstwahrscheinlich wird der neue Präsident der Föderation Viktor Kapustin ein
Mitglied in Karpovs Mannschaft werden. Über die Positionen solcher Föderationen
wie USA, Deutschland, Frankreich, Spanien, England und Schweiz muss man nicht
sprechen. Ganz unerwartet traten schon, ich wiederhole, in einem frühen Stadium,
noch vor Beginn der planmäßigen Kampagne, solche Länder wie Nicaragua und
Salvador, Ägypten und Syrien an die Seite Karpovs. Für Karpov hat sich auch
Angola erklärt und der Präsident dieser Föderation, übrigens amtierender
Minister der Regierung, wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch einen Ausweis
von Karpov bekommen, d.h., zu seiner Mannschaft gehören. Die Situation ändert
sich also, und jeder Tag bringt objektiv gesehen schlechte Nachrichten für
Dvorkovich und Ilyumzhinov, und was am Wichtigsten ist, für den Menschen, der
hinter ihnen steht, für Ziyavudin Magomedov.
- Wer ist denn das?
- Die Brüder Magomedov. Ich empfehle denen, die es möchten, bei Google diese
Namen einzugeben, und sie werden viel Interessantes über die Geschichte des
Business in den letzten 20 Jahren erfahren. Ziyavudin Magomedov, nun, wenn wir
über Geschäfte sprechen, mit denen er sich in Moskau einen Namen gemacht hat,
dann z. B. die Rekonstruktion des alten Bolschoi-Theaters.
- Die unendlich lange dauert.
- Ja, das ist die unendlich lang andauernde Rekonstruktion des Bolschoi-Theaters.
D.h., uns ist klar, dass Leute von der Straße keinen Vertrag für eine
solche Rekonstruktion bekommen. Viel Interessantes kann man erfahren, ich
empfehle den Artikel von Stanislav Belkovsky bei „Grani“ zu lesen, in dem von
den Beziehungen Ziyavudin Magomedovs zu David Kaplan gesprochen wird, der jetzt
kommerzieller Direktor der FIDE ist, seinem Business-Partner, und zu Kirsan
Ilyumzhinov, und, ich glaube, zu Arkady Dvorkovich, d.h., wir erfahren viel
Interessantes, und es wird offensichtlich, dass es hier im Allgemeinen nicht um
Politik geht.
- Wozu brauchen sie denn das alles?
- Wie soll ich Ihnen das erklären. man kann die Motive erraten, die sie dorthin
treiben.
- Nun, vielleicht streben sie nach Ruhm, bringen das Schachspiel wieder groß
heraus und gehen in die Geschichte ein.
- Das ist schwer zu sagen, nun ja, vielleicht. Obwohl, wenn man das Interview
mit Arkady Dvorkovich auf Echo Moskvy in Borschevskys Sendung „Duralex“ liest,
wo er so einen Freudschen Versprecher zulässt, wenn er davon spricht, dass
Karpov sich um die FIDE reißt, um Business zu machen… Das ist ein typischer
Freudscher Versprecher. Ich weiß nicht, in welche Richtung Ziyavudin Magomedov
zusammen mit David Kaplan das Schachspiel bei der FIDE entwickeln will. Man kann
sich im Internet auch das Interview mit David Kaplan ansehen, vor dem selbst die
Fantasie des „großen Kombinators“, d.h. Ostap Benders, verblassen muss.
Aber man muss begreifen, dass die FIDE mit 169 Föderationen eine sehr große
internationale Föderation ist. Da existiert gewissermaßen so eine
Finanzimmunität, weil sich normalerweise niemand in die Angelegenheiten einer
Föderation solchen Maßstabs einmischt. Ich schätze, dass Ilyumzhinov vor 15
Jahren, der schon damals wegen der Eröffnung einer Offshore-Zone in
Kalmückien bekannt war, sich schnell des Potentials dieser Organisation bewusst
wurde. Und heute hat diese Ware offenbar das Interesse von noch seriöseren und
solideren Leuten geweckt. Und wenn man das Tun von Dvorkovich quasi an
einer Deutlichkeitsskala abmisst, dann wird man verstehen, dass ein Beamter auf
so hoher Ebene sehr gewichtige Gründe haben muss, um sich so zu benehmen, wenn
er sich nicht nur in ziemlich schmutzige Geschäfte hineinziehen lässt, sondern
auch noch de facto dazu aufruft, die Kandidatur eines solchen Menschen wie
Karpov für Russland nicht zuzulassen.
- Ja, also Ivan Iljich interessiert sich gerade dafür, warum Anatoly Karpov
den Leuten von Putin gegen den Strich geht.
- In diesem Fall haben wir keine Ahnung, wissen nichts von Putins oder
Medvedjevs Leuten. Wir sind einfach daran gewöhnt, dass jeder Konflikt in
Russland zwangsläufig im Kreml endet. In diesem konkreten Fall ist der Konflikt
meiner Meinung nach…
- Niedriger, ja?
- Auf jeden Fall. Ich glaube, dass es sich dabei um einen Teil von, nennen wir
sie mal so, Abteilungsleitern handelt. Das ist eine bestimmte Anzahl von höher
gestellten Beamten, die mit Dvorkovich durch – schätze ich – eben jenen
Ziyavudin Magomedov verbunden sind und die im Allgemeinen geglaubt haben,
dass es ihnen gelingt die Besitzergreifung der Russischen
Schachföderation, und natürlich der FIDE, ziemlich ungestört durchzuführen. Aber
das ist misslungen, hat nicht geklappt. Karpov tauchte auf, und er begann
offensichtlich zu stören und hat keinerlei Bereitschaft zu einem „vernünftigen
Kompromiss“ gezeigt, was man offenbar von ihm erwartet hatte. Und eben diese
Härte von Karpov und vor allem die Geschwindigkeit, in der Karpov nicht nur in
traditionellen Schachregionen, sondern in der ganzen Welt unterstützt wurde, hat
natürlich diese Hysterie ausgelöst. Und jetzt hat dieser Skandal ganz allgemein
an Bedeutung gewonnen, hat schon längst den Rand des Schachspiels und der
russischen Politik überschritten.
- Wissen Sie, der Kreml ist bei der Erreichung seiner sportlichen Ziele eine
ziemlich hartnäckige Organisation. Nun, denken Sie mal an Sotschi, oder an den
Kampf um den Fußballweltmeistertitel, der gerade begonnen hat. Meinen Sie nicht,
dass es sich um ein Megaprojekt handelt, wenn man von ganz oben nach dem
Schachspiel greift?
- Wenn Projekte von "ganz oben" kuratiert werden, dann wissen wir im
Allgemeinen, wie das vor sich geht, und im Zentralschachklub wären nicht
Vertreter eines privaten Wachdienstes, sondern Leute mit Ausweisen des FSB
gekommen. Die Passivität der offiziellen Propaganda ist ziemlich offensichtlich.
Es erscheinen Artikel, die quasi „dafür“ und „dagegen“ sind. Und mir scheint,
dass hier eine mittlere administrative Ressource eingesetzt wird. Das ist
übrigens auch auf der Ebene der Regionen sichtbar, wo jene Leute, die für Karpov
gestimmt haben, Druck, Drohungen und Erpressung ausgesetzt sind, aber das ist
nicht die Ebene, die es erlaubt Probleme blitzschnell zu lösen, d.h., da ist so
eine administrative Ressource mittleren Niveaus am Werk plus viel Geld, das
natürlich weiterhin von jenen eingebracht wird, die gerne die Kontrolle über die
FIDE haben wollen.
- Nun, wenn wir bei alledem vom Schachspiel als Sport und Kunst sprechen,
finden Sie dann nicht, dass die Krise des Schachspiels in einem gewissen Sinne
objektiv durch die Veränderung des, sagen wir mal so, heutigen Lebensstils
hervorgerufen wurde? Dieser leichte Stil, nun, dieses Verzichten auf
selbständiges Denken, dieser ganze PR-Kram, „Haus 2“ (Reality-Show in Russland,
Anmerk. des Übersetzers), wenn wir das mal so sagen wollen…
- Sprechen wir jetzt über die ganze Welt oder über Russland? Das sollten wir
doch voneinander trennen.
- Nun, über Russland auch, aber die Massenkultur hat ihren Platz in der
ganzen Welt eingenommen.
- Ja, nichtsdestoweniger denke ich, wenn wir von der Popularisierung des
Schachspiels sprechen, dass das Schachspiel objektiv gesehen in der Welt des
Internets in vielen Ländern einen echten Boom erlebt. In den USA kann man das
schon sehen, wo Tausende von Schulen Schach in ihren Lehrplan aufgenommen haben.
Es wächst die Zahl der Menschen, die Schach im Internet spielen. Schachprogramme
sind auch in den Entwicklungsländern sehr populär. Und überhaupt ist das genau
das, was Karpov jetzt aktiv nutzt. Karpovs Gruppe ist bereit über langfristige
Programme zur Entwicklung des Schachspiels Verträge abzuschließen, und das
ruft sowohl in Afrika als auch in Latein amerika großes Interesse hervor. Das
Schachspiel hat trotz allem einen guten Ruf. Schach ist ein Spiel, das
Jahrhunderte überlebt hat, und man muss sagen, dass es ungeachtet seiner
altertümlichen Herkunft erfolgreich in die Internetwelt und zu den neuen
Technologien passt. Man kann es im Internet erlernen, man kann Turniere spielen,
man kann sie verfolgen. So wie jetzt, wenn dort ein Spiel um die
Weltmeisterschaft läuft, und Abertausende es im Internet verfolgen.
- Garri Kimovich, liegt es vielleicht an der schlechten PR? Schauen Sie
sich den Eiskunstlauf an. Vor 10 Jahren konnte keiner vernünftig laufen, das
Interesse der Massen, wenn man es mit der sowjetischen Zeit vergleicht, war
nicht vorhanden. Dann kam Kostja Ernst mit seinen Eisshows, und plötzlich
wollten alle Schlittschuhe anziehen.
- Aber Medaillen gab es sofort weniger.
- Nun, das ist etwas Anderes.
- Nein, in Wirklichkeit muss man jetzt keine direkten Parallelen zwischen der
Situation in Russland und der übrigen Welt ziehen. Bei uns gibt es wirklich
Probleme, die damit zu tun haben, dass die Staatsmacht sich der Intelligenz als
solcher gegenüber sehr verächtlich verhält, und das wirkt sich natürlich auch
auf das Schachspiel aus. Es gibt nicht wenig Talente in Russland, ich bin
durch das Land gereist und habe viele 8-9-jährige talentierte Kinder gesehen. Es
geht darum, dass eine Infrastruktur notwendig ist, die es diesen Kindern
erlauben würde auf ein anderes Niveau zu kommen, so wie es in der
Sowjetunion war. Das hat tatsächlich funktioniert, und das war nicht einmal mit
großen Kosten verbunden. Übrigens war eben gerade Evgeny Bareev in der
Schachföderation für diesen Schwerpunkt zuständig. Er hätte sich lieber damit
beschäftigen sollen, anstatt irgendwelche Flöhe in der Geschichte des Schachs zu
suchen. Also, meiner Meinung nach kann man das natürlich alles ändern. Und
Russland kann, wenn schon nicht zu den Positionen zurückkehren, die die
Sowjetunion innehatte, so jedoch wenigstens aufhören weiter abzusinken. Denn
betrachtet man heute die Situation unter den Teenagern, wird man in unserem Land
ein Defizit an Talenten auf mittlerem Niveau beobachten können, und das hat in
erster Linie mit der Beziehung der Staatsmacht und mit der Beziehung
potenzieller Sponsoren intellektuellen Sportarten gegenüber schlechthin zu tun.
Auszug aus einem Interview mit Radio Svoboda, Freitag 28. Mai
2010
Das Interview führte Michail Sokolov.
http://www.svobodanews.ru/content/transcript/2057368.html