Das folgende Interview erschien in Neues Deutschland. Nachdruck
mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Verrückte Katzen und
betrunkene Elefanten –
Stéphanie Delille ist eine der wenigen jungen Frauen in Europa, die Schach à la
japonais spielen
Von René Gralla
„Baka Neko“ heißt die
Buchhandlung. Das ist Japanisch, bedeutet übersetzt „verrückte Katze“ und passt
zu einen Laden, in dem krasse Mangas aus dem Fernen Osten angeboten werden. Und
wo sich, in Colmars Rue Golbéry Nr. 20, die Freunde einer Schachvariante
treffen, bei der Drachenpferde und Goldgeneräle aufeinander losgehen; ein buntes
Treiben, bei dem dereinst sogar ein „betrunkener Elefant“ regelmäßig dazwischen
trompetete, bis das beschwipste Rüsseltier durch kaiserliches Dekret aus dem
Arsenal verbannt wurde. Trotzdem ist Japans Shogi auch heute noch wild und
abenteuerlich, und Stéphanie Delille, zusammen mit ihrem Freund Sébastian Martel
die Chefin von „Baka Neko“, zählt gegenwärtig zu den wenigen jungen Frauen in
Europa, die das strategische Spiel beherrschen. Immerhin hat die 23-jährige
mittlerweile in Colmar eine schlagkräftige weibliche Shogi-Truppe um sich
versammelt – während die deutsche Meisterschaft im Japanschach, die an diesem
Wochenende in Hannover entschieden wird, zum x-ten Mal eine reine
Männerveranstaltung bleibt. Sind die Französinnen deswegen schlauer? Der Autor
Dr. René Gralla hat mit Stéphanie Delille gesprochen.

Fühlen Sie
sich einsam unter Männern: als Ausnahmefrau, die Japans Schach beherrscht?
Ich bin ja gar nicht einsam!
Denn hier in Colmar haben wir mindestens vier bis fünf Mädchen, die Shogi
spielen; das ist mehr als die Hälfte der Shogi-Fans bei uns vor Ort.
Damit ist
Colmar im Elsass eine europaweite Ausnahme. Wie kommt das?
Das liegt am persönlichen
Kontakt. Mädchen und junge Frauen kommen in unser Geschäft und wollen
Manga-Comics kaufen. Schnell kriegen sie mit, dass Sébastian und ich Shogi
lieben, wir haben auch ein paar Lehrbücher im Sortiment. Das macht sie dann
neugierig auf Shogi.
Wann haben
Sie Shogi gelernt?
Vor fünf Monaten.
Wie hat
das bei Ihnen angefangen?
Der Shogi-Club suchte ein
neues Vereinslokal. So fragten sie auch uns, ob sie ihre Trainingsabende im
Buchladen veranstalten dürften. Wir haben zugestimmt, seitdem wird bei uns jeden
Donnerstag ab 20 Uhr Shogi gespielt. Erst habe ich zugeschaut; dann habe ich das
selber ausprobiert und gemerkt, das ist spannend. So bin ich dabei geblieben.
Spielen
Sie auch das übliche Schach?
Das habe ich ein-, zweimal
getestet. Aber das gefällt mir wirklich nicht. Im Vergleich zu Shogi hat Schach
weniger Figuren; und wenn diese geschlagen werden, verschwinden die einfach.
Dann sind noch weniger Steine im Spiel, das ist etwas langweilig.
Während
Shogi eine Besonderheit hat: Steine, die ich dem Gegner wegnehme, kann ich auf
meiner Seite wieder einsetzen. Überraschend, wie Fallschirmjäger …
… ja, genau, das ist richtig
aufregend (lacht).
Demnach
ist das gängige Schach für Sie zu simpel?
Nicht zu einfach, nein, ich
weiß, das Schach sehr schwierig ist. Aber mir bringt Schach nichts: Wenn im
Endspiel nur noch zwei oder drei Steine auf dem Brett sind, finde ich das nicht
mehr interessant. Für andere mag das eine Herausforderung sein; für mich nicht.
Es ist
doch aber sehr schwer, im Shogi die zwei Parteien Weiß und Schwarz auseinander
zu halten. Schließlich sind die Steine flach und einfarbig, und allein
japanische Schriftzeichen geben an, welche Figur das jeweils sein soll.
Wenn man sich erst einmal
daran gewöhnt hat, ist das einfach.
Bei der
Europameisterschaft Ende August in München sind sie neben Kateryna Perepechay
aus der Ukraine die einzige weibliche Teilnehmerin gewesen. Hat das nicht für
Aufregung unter den Männern gesorgt? Sind Sie oft zum Essen eingeladen worden?

Das sind echte Spieler. Die
fahren zu einem Wettkampf, um zu spielen – nicht um zu flirten.
Gerade die
EM hat unübersehbar demonstriert: Colmar macht Frankreich zur Leading Nation,
was den weiblichen Shogisport angeht. Haben Frauen in Frankreich mehr Sinn für
Intellekt und kühles Rechnen als zum Beispiel die deutschen Frauen?
Nein, das glaube ich nicht.
Wie ich schon gesagt habe: Die Kombination aus Buchladen und Shogi-Club bei uns
in Colmar ist optimal. Gäbe es das woanders auch, würden sich dort ebenfalls
mehr Mädchen und Frauen für Shogi begeistern.-
Generell
scheint das allerdings typisch zu sein: Mehr Männer als Frauen beschäftigen sich
ernsthaft mit strategischen Spielen; das ist nicht nur im Shogi zu beobachten,
sondern auch im normalen Schach. Warum?
Jungen spielen, um zu
gewinnen. Frauen mehr zum Spaß.
Und um im
Schach erfolgreich zu sein, muss man eben seinen Gegner vernichten wollen, wie
das Bobby Fischer mal gesagt hat. Das gilt dann natürlich auch für Shogi.
Ich weiß nicht, ob meine
Meinung ein wenig sexistisch ist; aber ich denke, dass Mädchen weniger zu
Konkurrenzdenken neigen als die Jungen. Jedenfalls trifft das auf mich zu.
Sie
spielen nicht, um zu gewinnen?
Nein. Ich spiele, weil das
Spaß macht. Bei Shogi weiß man nie, was demnächst geschehen wird. Selbst wenn
ich in eine Falle tappe und keine Ahnung habe, wie das schon wieder geschehen
konnte: Das ist trotzdem unterhaltsam, ich liebe nämlich das Laufen und Abhauen.
In unserem Shogi-Club haben wir alle ein persönliches Motto. Mein Markenzeichen
ist: „Entkommen“; das ist mein persönlicher Stil.
Das kann
offenbar auch eine Möglichkeit sein, ein Spiel herumzureißen. Wie Sie bei der EM
gezeigt haben.
Na ja, da habe ich allerdings
bloß eine Partie gewonnen. Und
das war gegen den Fahrer der Delegation aus der Ukraine; der hatte erst drei
Tage zuvor Shogi gelernt. Das Niveau der EM ist eben sehr hoch. Ich bin zum
Lernen in München gewesen; denn vorher hatte ich erst wenige Male gespielt.
Um so
bemerkenswerter ist es, dass Sie es auf Anhieb zur Nr. 50 in Europa gebracht
haben. Können Sie sich vorstellen, bei der Amateur-WM in Tokio zu starten? Die
nächste ist für Oktober 2005 geplant.
Wenn man mich einlädt: Das
wäre natürlich klasse. Zumal ich begonnen habe, Japanisch zu lernen. Erst einmal
muss ich aber Fabien Osmont schlagen, der ist Sekretär des Shogi-Verbandes im
Elsass und trägt den 9.Kyu; ich selber bin ja noch Anfängerin mit dem 15. Kyu.
Hierbei muss ich erwähnen, dass die Spielstärke im Shogi nach Kyu und Dan
eingestuft wird. Das geht los mit dem 15. Kyu und steigert sich bis zum 1. Kyu;
es folgen die Grade 1. bis 9. Dan. Die Dan-Klasse liegt für mich, c’est clair,
momentan außer Reichweite; ich bin schon zufrieden, wenn ich nach Fabien den
stärkeren Eddy Camacho mit seinem 7. Kyu besiege … anschließend sehe ich weiter.
Ihr
Buchladen ist spezialisiert auf Asien, mit dem Schwerpunkt Japan. Was fasziniert
Sie an diesem Land?
Der Zusammenprall und die
Symbiose aus Tradition und Moderne: die Tempel, die Geishas, der Mythos der
Samurai – und auf der andere Seite Hypertechnik und eine verrückte Szene.
Gleichzeitig schenken die Japaner Dingen, die wir in wenigen Minuten abreißen,
eine besondere Aufmerksamkeit. Ein Sushi-Meister investiert 15 Jahre seines
Lebens, um die Herstellung perfekter Sushis zu lernen: vielleicht sieben Jahre
für das Waschen der Bestandteile, fünf Jahre für das Reiskochen, anschließend
kommt das Zuschneiden der Fische dran – das bewundere ich.
Interview:
Dr. René Gralla
Japanschach „Shogi“ für Elsass-Urlauber: Shogi in Colmar, Librairie „Baka Neko“,
20, Rue Golbéry, Donnerstags ab 20 Uhr, Tel.: 0033/3/89235618
Shogi wird nicht auf einem 8x8-Plan wie im westlichen Schach gespielt, sondern
auf einem 9x9-Brett; die Shogi-Felder sind auch nicht schwarz-weiß kariert,
sondern einfarbig.
Im Shogi - insofern vergleichbar dem FIDE-Chess - tritt ebenfalls Weiß
(japanisch: "gote") gegen Schwarz ("sente") an; freilich sind die Steine
farblich nicht voneinander unterschieden. Es handelt sich um flache und
unregelmäßig geformte Pentagramme; allein deren Spitze zeigt an, wo der Gegner
steht. Ist die Spitze wie bei einer mittelalterlichen Attacke mit Lanze und
Pike auf mich gerichtet, dann weiß ich: Das ist der Feind.

Die einheitliche Kolorierung soll jene Shogi-Sonderregel praktikabel machen,
dass geschlagene Steine des Gegners auf der eigenen Seite wieder eingesetzt
werden dürfen - durch "Drops", indem die Figuren wie Fallschirmjäger und aus
heiterem Himmel an irgendeiner Stelle auf dem Brett zuschlagen.
Das Anzugsrecht ist
im Shogi übrigens der schwarzen Seite vorbehalten. Daher findet sich
Sente,
die Dunkle Macht im Shogi, anders als in FIDE-Schach-Diagrammen
unten
und
die helle
Gote-Front
oben.
Weiß:
König e1; Goldgeneräle d1, f1; Silbergeneräle c1, g1; Springer b1, h1; Lanzen
a1, i1; Läufer b2; Turm h2; Bauern a3, b3, c3, d3, e3, f3, g3, h3, i3.
Schwarz:
König e9; Goldgeneräle d9, f9; Silbergeneräle c9, g9; Springer b9, h9; Lanzen
a9, i9; Läufer h8; Turm b8; Bauern a7, b7, c7, d7, e7, f7, g7, h7, i7.
Während das
Shogi-Originaldiagramm noch sehr rätselhaft aussieht, verändert sich der
Eindruck radikal, wenn man das Konzept betrachtet, das Douglas Crockford auf
seiner Seite
www.crockford.com/chess/shogi.html präsentiert. Und da wird plötzlich klar:
Shogi und Schach sind viel enger miteinander verwandt, als man zuerst annehmen
könnte (zur Beachtung beim Crockford-Diagramm: wie von westlichen Diagrammen
vertraut, ist Weiß „unten“ und Schwarz „oben“; da im Shogi aber die schwarze
Partei beginnt, wird von „oben“ nach „unten“ gezogen; siehe insofern den
klassischen Partiebeginn mit dem Vorrücken der beiden Flankenbauern:
1. … g7-g6 2.c3-c4 …, unter
gleichzeitiger Öffnung und Konfrontation der zwei Läufer von Schwarz und Weiß
auf der großen Diagonalen a1-i9).
