Artur Jussupow: „Vier Partien sind wie russisches Roulette“
Der frühere WM-Kandidat und seine Tipps für die bevorstehenden Matches in Kasan
Von Dagobert Kohlmeyer
In dieser Woche beginnt im
russischen Kasan das schachliche Hauptereignis des Jahres. Spieler und
Begleiter-Teams reisten am Dienstag in der tatarischen Metropole an, am Mittwoch
erfolgt die Eröffnung des Kandidatenturniers. Ab Donnerstag ermitteln die acht
Supergroßmeister dann den Herausforderer des amtierenden Weltmeisters
Viswanathan Anand (Indien). Dabei gibt es diese reizvollen Paarungen: Weselin
Topalow (Bulgarien) – Gata Kamsky (USA), Wladimir Kramnik (Russland) – Teimur
Radjabow (Aserbaidschan), Levon Aronjan (Armenien) – Alexander Grischuk
(Russland) und Boris Gelfand (Israel) – Shakryar Mamedjarow (Aserbaidschan).
Zum großen Bedauern der
Schachöffentlichkeit fehlt in dem illustren Teilnehmerfeld der Kronprinz Magnus
Carlsen aus Norwegen, über dessen Rückzug aus dem laufenden WM-Zyklus auf dieser
Web-Seite schon hinreichend informiert wurde. Und noch zwei pikante Details:
Gata Kamsky hat tatarische Wurzeln und damit in Kasan quasi ein Heimspiel. Die
beiden Hauptfavoriten Levon Aronjan und Wladimir Kramnik treffen, wenn sie die
erste Runde überstehen, bereits im Halbfinale aufeinander!
Gespielt werden in den ersten
beiden Durchgängen des Kandidatenturniers jeweils vier Partien. Bei einem 2:2
geht es in den Tiebreak. Im Finale ab (19. Mai) werden dann sechs Partien
ausgetragen. Spätestens am 26. Mai steht der WM-Gegner 2012 von Vishy Anand
fest. Der Preisfonds beträgt insgesamt 500.000 Euro, von denen die FIDE wie
üblich ihre Prozente kassiert. Netto liegen nach Aussage der Veranstalter
420.000 Euro im Topf. Die Verlierer der ersten Runde (Viertelfinale) erhalten je
30.000 Euro, wer im Halbfinale ausscheidet, bekommt je 60.000 Euro, und die
beiden Finalisten nehmen je 90.000 Euro mit nach Hause. Das ganz große Geld
macht dann natürlich im nächsten Frühjahr noch einmal der WM-Herausforderer.
Wobei der Spielort des Kampfes um die Krone bislang nicht feststeht, nachdem die
attraktive Weltstadt London wegen Querelen mit der FIDE ihre Offerte als
Ausrichter des WM-Finales wieder zurückgezogen hat. Der Weltschachbund wartet
jetzt auf neue Gebote.
Als ich überlegte, wer für
unsere Leser in Deutschland zu den bevorstehenden Duellen von Kasan einen ganz
profunden Tipp abgeben könnte, fiel mir spontan Artur Jussupow ein. Wenn jemand
so viele Kandidatenkämpfe wie er bestritten hat, darunter drei Halbfinales, dann
weiß er, wovon er spricht. Artur, du hast das Wort!
Topalow – Kamsky
Der Favorit ist Weselin Topalow.
Ich gebe ihm 60:40 Prozent Gewinnchancen, mehr aber nicht.
Denn ich weiß aus meiner
eigenen Erfahrung, dass es sehr schwer ist, den gleichen Gegner zweimal
hintereinander zu besiegen. Das ist mir nie gelungen. Der Holländer Jan Timman
hat seinerzeit bei mir zurückgeschlagen. Es war im WM-Kandidaten-Halbfinale
1992. Ich glaube, Gata Kamsky wird sehr, sehr motiviert sein.
Er möchte sich für seine
Niederlage gegen Topalow von 2009 in Sofia revanchieren. Eine Überraschung ist
hier nicht ausgeschlossen. Auch wenn Kamsky fast zehn Jahre pausiert hat,
schaffte er es, wieder an die Weltspitze zu kommen. Nicht ganz nach vorn, aber
es ist schon bemerkenswert, wie er sich präsentiert. Und er ist ein Kämpfer mit
starken Nerven, der sich offensichtlich in großartiger Form befindet. Das zeigt
sein kürzlicher Sieg bei der USA-Landesmeisterschaft. Gata spielt wieder auf
Topniveau – Hut ab! Er wird in Kasan viele Anhänger haben.
Kramnik – Radjabow
Ich weiß nicht, in welchem
physischen Zustand Wladimir Kramnik sich befindet. Wenn bei ihm alles normal
läuft, dann ist er der Favorit.
Auch hier würde ich 60:40
tippen. Mit einem gesundheitlichen Handicap wird Kramnik es jedoch gegen den
jungen, hungrigen Teimur Radjabow sehr schwer haben.
Mir ist nicht bekannt, was im
März beim Amber Turnier in Monaco mit Wladimir los war, ob er sich nur schlecht
fühlte oder Formschwankungen hatte. Natürlich wollte er nichts von seinen
Vorbereitungen zeigen. Kramnik hat ja eine große Matcherfahrung. Diese spricht
selbstverständlich klar für ihn. Das Problem bei diesem Format sind ganz
eindeutig die wenigen Partien. In nur vier Spielen kann fast alles passieren.
Das ist beinahe wie russisches Roulette. Es gibt deshalb gar keine Garantie,
dass der stärkere Spieler sich durchsetzt. Er kann eine Partie verlieren, und
die drei anderen werden remis. Dann scheidet er eben aus.
Aronjan – Grischuk
Der Armenier ist für mich der
klarste Favorit des ganzen Turniers.
Seine Gewinnchancen stehen
70:30 Prozent. Aber auch hier gilt: Man darf Alexander Grischuk nicht
unterschätzen. An einem guten Tag kann der Moskauer Großmeister jeden schlagen.
Doch Levon Aronjan spielt sehr
stabil, verliert kaum eine Partie und hat seine Superklasse in den letzten
Jahren in vielen Turnieren bewiesen. Zuletzt gewann er ganz souverän vor Magnus
Carlsen in Monte Carlo. Aronjan sollte, wenn nichts Überraschendes passiert,
dieses Match für sich entscheiden. Er betreibt Schach sehr ernsthaft, und ich
erwarte den armenischen Vorkämpfer auch im Finale des Kandidatenturniers. Levon
ist mit 28 Jahren im besten Schachalter. Seine Favoritenstellung ist eindeutiger
als die von Kramnik und Topalow, weil man nicht genau weiß, in welcher
Verfassung sich diese beiden Großmeister derzeit befinden.
Gelfand – Mamedjarow
Das wird ein sehr interessanter
Kampf zweier Schach-Generationen, bei dem ich die Chancen mit 50:50 ansehe. Für
den Turniersenior Gelfand mit seinen fast 43 Jahren spricht die große Erfahrung
in Kandidatenkämpfen, für Mamedjarow die Jugend und sein frisches, ideenreiches
Spiel.
Dort könnte es durchaus in den
Tiebreak gehen. Gelfand ist aber auch im Schnellschach sehr stark, so dass ich
keine eindeutige Prognose über den Sieger wagen möchte.
Beide Großmeister sind ungefähr
gleich einzuschätzen. Die kurze Distanz in diesen Duellen ist eine gewisse
Chance für die Außenseiter. Deswegen kann in diesem WM-Zyklus fast alles
passieren, und beinahe jeder kann dort gewinnen.
Fazit
Ein ideales Reglement der
Kandidatenkämpfe gibt es wahrscheinlich nicht. Die von der FIDE vorgegebene
kurze Distanz für die jeweiligen Duelle an der Wolga kann auf der einen Seite
kritisiert werden. Sie sorgt aber nach unserer Meinung und der vieler
Schachfreunde natürlich auch zweifellos für zusätzliche Spannung. Doch der
frühere WM-Kandidat sowie heutige Meistertrainer und Buchautor Artur Jussupow
betont noch einmal: „Das Ganze kann unter Umständen sehr schnell zu einer Art
von russischem Roulette werden!“